Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Gehirnplastizität und das umgekehrte U: Zum Verlauf erfahrungsbedingter Veränderungen der Gehirnstruktur beim Menschen

Autoren
Wenger, Elisabeth; Lindenberger, Ulman
Abteilungen
Forschungsbereich Entwicklungspsychologie
Zusammenfassung
Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersuchen den Verlauf struktureller Veränderungen des menschlichen Gehirns während des Erwerbs einer Fertigkeit. Die Daten zeigen eine anfängliche Zunahme und nachfolgende Abnahme des Hirnvolumens. Mit dem bislang üblichen Studiendesign mit zwei Messzeitpunkten hätte dieser Verlauf nicht entdeckt werden können. Der umgekehrt U-förmige Veränderungsverlauf macht deutlich, dass die Erforschung der Neuroplastizität beim Menschen Designs und Theorien erfordert, die der nichtlinearen Dynamik von Gehirn und Verhalten Rechnung tragen.

Plastizität (griech. πλαστικος plastikós „zum Formen geeignet“) bezeichnet das Potenzial des Gehirns, sich strukturell zu verändern, zum Beispiel in Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Plastizität wird vor allem mit der kindlichen Entwicklung in Verbindung gebracht: Frühe Erlebnisse und Erfahrungen haben einen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Gehirns. Lange Zeit nahmen Wissenschaftler an, dass die Plastizität spätestens am Ende der Adoleszenz zum Erliegen kommt. In jüngerer Zeit mehren sich aber Hinweise darauf, dass auch das erwachsene Gehirn über Plastizität verfügt [1]. Das alte Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ muss also einer kritischen Prüfung unterzogen werden – auch im Erwachsenenalter verändert sich die Gehirnstruktur in Abhängigkeit von Erfahrungen, allerdings in einem geringeren Ausmaß als in früheren Lebensaltern [2].

Plastizität im Erwachsenenalter

In den letzten Jahren haben Wissenschaftler immer mehr Anhaltspunkte dafür gefunden, dass sich die Gehirnstruktur in Reaktion auf neue Umweltanforderungen beim erwachsenen Menschen ändern kann [3]. Dieses Phänomen wurde zuerst bei Ratten und Mäusen beobachtet. Forscher entdeckten, dass sich die Gehirnstruktur der Tiere veränderte, je nachdem ob sie in Käfigen mit Spiel- und Entdeckungsmöglichkeiten wohnten oder in solchen, die kaum Reize boten [4]. Zu Beginn dieses Jahrtausends fand man dann bei jungen Erwachsenen, die drei Monate lang jonglieren gelernt hatten, Veränderungen der grauen Hirnsubstanz in Regionen, die vor allem mit der Auge-Hand-Koordination zu tun haben. Diese Längsschnittstudie war der Startschuss für eine Reihe weiterer Studien, die sich mit Veränderungen durch neue motorische und intellektuelle Herausforderungen beschäftigen. Andere Beispiele sind Veränderungen bei Medizinstudenten, die sich für ihr Staatsexamen vorbereiteten, oder bei Studienteilnehmern, die für drei Monate ein Videospiel spielten [3].

Das Gehirn enthält zwei verschiedene Gewebeklassen. Die graue Substanz besteht vorwiegend aus neuronalen Zellkörpern, Neuropil, Gliazellen und Kapillaren. Sie sieht beim Menschen aus wie eine in Falten gelegte Umhüllung von etwa 2 bis 4 Millimetern Dicke und hat eine Oberfläche von mehreren 100 Quadratzentimetern. Diese graue Substanz kann man von weißer Substanz unterscheiden, die hauptsächlich aus Oligodendrozyten und Axonen besteht und die die unterschiedlichen Regionen der grauen Substanz miteinander verbindet.

In vivo Magnet-Resonanz-Tomographie, kurz MRT, ist eine nichtinvasive Bildgebungsmethode, die es ermöglicht, ins Innere des Gehirns zu blicken. Diese Methode nutzt ein starkes elektromagnetisches Feld und die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften der verschiedenen Gewebearten. Das resultierende Signal lässt sich dazu verwenden, ein Bild des Gehirns zu rekonstruieren, da weiße Substanz andere magnetische Eigenschaften hat als graue Substanz oder wiederum Cerebrospinalflüssigkeit. Viele Studien zur Neuroplastizität beim Menschen setzen diese Methode ein, um Veränderungen in der Gehirnstruktur sichtbar zu machen.

Der Verlauf plastischer Veränderungen

Eine zentrale, bisher jedoch weitgehend unbeantwortete Frage im Bereich der strukturellen Gehirnplastizität betrifft ihren zeitlichen Verlauf. Bislang veröffentlichte Studien aus dem Bereich der Neuroplastizität berichten Ergebnisse auf sehr unterschiedlichen Zeitskalen. Eine Studie zum Lernen für eine Taxifahrerprüfung erstreckte sich über einen Zeitraum von vier Jahren, während Studien zum körperlichen Training häufig die Trainingseffekte über ein Jahr oder auch sechs Monate betrachten. Andere Untersuchungen setzen einen Zeitrahmen von zwei bis drei Monaten, einigen Wochen oder gar nur wenigen Tagen. Es gab sogar Berichte zu plastischen Veränderungen der Gehirnstruktur nach nur zwei Trainingseinheiten einer Ganzkörper-Balance-Aufgabe oder nach nur zwei Stunden des Spielens einer räumlichen Orientierungsaufgabe in einem Autorennspiel. Viele dieser Experimente zu struktureller Plastizität bedienen sich außerdem des klassischen Prätest-Posttest-Designs. Bei diesem Verfahren wird in der Voruntersuchung ein Schnappschuss des Gehirns erstellt, anschließend erfolgen ganz unterschiedliche Trainingsregime oder Interventionen, um dann in der Nachuntersuchung nach dem Training einen weiteren Schnappschuss zu erstellen. Was zwischen diesen beiden Messzeitpunkten mit der Gehirnstruktur passiert, bleibt dabei im Dunkeln.

Studien mit nur zwei Messzeitpunkten, einem vor und einem nach einer Trainingsperiode, unterstellen implizit einen monotonen und sich dann gegebenenfalls stabilisierenden Zuwachs der Hirnvolumina in den für die trainierte Fertigkeit relevanten Gehirnregionen. Im Gegensatz zu dieser Annahme könnte der zeitliche Verlauf plastischer Veränderungen aber auch aus einem anfänglichen Zuwachs an Hirnvolumen bestehen, auf den im weiteren Verlauf des Trainings eine teilweise oder vollständige Re-Normalisierung des Volumens folgt (Abbildung 1). Ein solches Muster, das entwicklungsphysiologischen Befunden und theoretischen Überlegungen entspräche [5], zeigte sich in einer Studie, in der Mäuse mit ihrer rechten Vorderpfote einen Knopf drücken mussten, um Futter zu erhalten [6]. Bei diesem Training bildeten sich anfangs schnell neue Synapsen. Ein Teil dieser neuen Synapsen blieb erhalten, während ältere Synapsen selektiv eliminiert wurden. Dies führte dazu, dass die Gesamtdichte an Synapsen auf ihr ursprüngliches Niveau zurückkehrte. Ein ganz ähnliches Muster, wenn auch auf einer anderen Zeitskala, haben Wissenschaftler in einer Studie mit Affen gefunden [7]. Sie haben die Tiere darin trainiert, einen Stock zu benutzen, um an Futter heranzukommen. Es zeigten sich Volumenzunahmen in der grauen Substanz, die genau dann am stärksten ausgeprägt waren, als die Affen die Aufgabe bereits gelernt hatten und sich ihr Verhalten nicht mehr nennenswert weiter verbesserte. Anschließend reduzierte sich das Volumen.

Um nichtmonotone Verläufe wie die in diesen beiden Studien zu erfassen, reichen zwei Messzeitpunkte nicht aus. Nur ein Studiendesign, das strukturelle Veränderungen im Verlauf des Trainings aufzeichnet, ermöglicht es, plastische Veränderungen als Prozess angemessen abzubilden.

Nachweis einer umgekehrt U-förmigen Beziehung zwischen Fertigkeitserwerb und Hirnvolumenveränderungen beim Menschen

Im Jahr 2016 haben Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ein Experiment durchgeführt, das den Verlauf erfahrungsbedingter Veränderungen der Gehirnstruktur bei erwachsenen Menschen genauer erfassen sollte, als dies bislang der Fall war [8]. In einem Trainingsprogramm haben junge Erwachsene gelernt, mit ihrer nichtdominanten linken Hand zu schreiben und zu zeichnen. Während dieses Zeitraums wurden die Probanden bis zu zwanzigmal im MRT-Gerät untersucht. Insgesamt nahmen 31 Männer im Alter von 25 bis 36 Jahren an der Studie teil. Fünfzehn davon trainierten über einen Zeitraum von sieben Wochen jeden Tag für die Dauer von 30 bis 45 Minuten, mit ihrer linken Hand zu schreiben und zu zeichnen. Zwei- bis dreimal pro Woche wurden diese Teilnehmer im MRT untersucht. Die 16 Teilnehmer der Kontrollgruppe wurden einmal vor, einmal in der Mitte und einmal am Ende der Trainingsperiode der Experimentalgruppe untersucht. Das Training der linken, nichtdominanten Hand führte zu einer Zunahme der grauen Substanz im linken und rechten Motorkortex, den Basalganglien, der linken Inselrinde, dem Temporallappen und dem Cerebellum. Neben den strukturellen Aufnahmen wurden außerdem auch funktionelle Aufnahmen der Studienteilnehmer im MRT-Scanner gemacht. Diese Aufnahmen zeigen die Gehirnregionen, die während der Ausübung einer Schreibbewegung mit der linken Hand aktiviert sind. Die aktivierten Regionen während der Schreibaufgabe überlappten mit den Regionen, in denen sich strukturelle Veränderungen zeigten. Dieses Ergebnis stützt die Annahme, dass die beobachteten strukturellen Veränderungen funktionell relevant waren (Abbildung 2).

Die plastischen Veränderungen in diesen Regionen wären aber größtenteils unentdeckt geblieben, wenn die Wissenschaftler ein konventionelles Studiendesign mit nur zwei Messzeitpunkten verwendet hätten. In etlichen Regionen wurde zwar ein monotoner Anstieg des Volumens mit zunehmender Trainingsdauer beobachtet. Doch kam es in Arealen des rechten und linken Motorkortex nach einer anfänglichen Zunahme zu einer Abnahme des Volumens (Abbildung 3). Dieser umgekehrt U-förmige Plastizitätsverlauf steht im Einklang mit den oben bereits erwähnten Theorien der reifungsabhängigen Plastizität des Gehirns [5] und Befunden aus der Tierforschung [6, 7]. Es könnte demnach sein, dass das Muster einer anfänglichen Volumenzunahme mit nachfolgend teilweiser Re-Normalisierung ein generelles Prinzip der Neuroplastizität darstellt.

Die Befunde widersprechen der Annahme, dass sich erfahrungsinduzierte Neuroplastizität beim Menschen generell in einem monotonen Anstieg der grauen Substanz zeigt. Der Nachweis einer nichtmonotonen, genauer gesagt umgekehrt U-förmigen Beziehung zwischen Fertigkeitserwerb und Hirnvolumen offenbart die grundsätzliche Unzulänglichkeit von Forschungsdesigns, die sich auf einen Messzeitpunkt vor und einen weiteren Messzeitpunkt nach der Intervention beschränken. Um die Neuroplastizität des menschlichen Gehirns zu erforschen, sind Forschungsansätze nötig, die der nichtlinearen Dynamik von Gehirn und Verhalten Rechnung tragen. Dies erfordert es, stärker auf aktuelle Befunde verwandter Forschungsprogramme Bezug zu nehmen, die Tiermodelle nutzen [9]. Außerdem müssen Altersunterschiede im Verlauf und Ausmaß plastischer Veränderungen mehr beachtet werden.

Literaturhinweise

Hübener, M.; Bonhoeffer, T.

Neuronal plasticity: Beyond the critical period
Cell 159 (4), 727–737 (2014)

Kühn, S.; Lindenberger, U.

Research on human plasticity in adulthood: A lifespan agenda
In: Handbook of the psychology of aging, 8. Aufl., 105–123 (Hg. Schaie, K. W.; Willis, S. L.). Academic Press, Amsterdam (2016)

Lövdén, M.; Wenger, E.; Mårtensson, J.; Lindenberger, U.; Bäckman, L.

Structural brain plasticity in adult learning and development
Neuroscience and Biobehavioral Reviews 37 (9B), 2296–2310 (2013)

van Praag, H.; Kempermann, G.; Gage, F. H.

Neural consequences of environmental enrichment
Nature Reviews Neuroscience 1 (3), 191–198 (2000)

Changeux, J. P.; Dehaene, S.

Neuronal models of cognitive functions
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Xu, T.; Yu, X.; Perlik, A. J.; Tobin, W. F.; Zweig, J. A.; Tennant, K.; … Zuo, Y.

Rapid formation and selective stabilization of synapses for enduring motor memories

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Quallo, M. M.; Price, C. J.; Ueno, K.; Asamizuya, T.; Cheng, K.; Lemon, R. N.; Iriki, A.

Gray and white matter changes associated with tool-use learning in macaque monkeys

Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 106 (43), 18379–18384 (2009)

Wenger, E.; Kühn, S.; Verrel, J.; Mårtensson, J.; Bodammer, N. C.; Lindenberger, U.; Lövdén, M.

Repeated structural imaging reveals nonlinear progression of experience-dependent volume changes in human motor cortex

Cerebral Cortex 27 (5), 2911–2925 (2017)

Meyer, D.; Bonhoeffer, T.; Scheuss, V.

Balance and stability of synaptic structures during synaptic plasticity
Neuron 82 (2), 430–443 (2014)
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