Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Emotionales Bewegtsein, Gänsehaut und die Kraft poetischer Sprache

Autoren
Menninghaus, Winfried; Wassiliwizky, Eugen
Abteilungen
Sprache und Literatur
Zusammenfassung
Seit der antiken Poetik gilt es als ein Hauptziel der Künste, ihre Hörer, Leser oder Betrachter emotional zu bewegen (lat. movere). Die hier berichteten Studien definieren emotionales Bewegtsein und weisen seine Rolle in ästhetischer Wertung nach. Höhepunkte des Bewegtseins, die von Gänsehaut begleitet sind, zeigen eine parallele Aktivierung des primären Belohnungssystems und negativer Gefühlsindikatoren und damit eine „gemischte Affektivität dieses Gefühls. Die Verteilung von Gänsehautmomenten über das Lesen von Gedichten enthüllt zugleich kompositorische Geheimnisse poetischer Sprache.

Was ist emotionales Bewegtsein?

In der modernen Psychologie ist das Gefühl des emotionalen Bewegtseins kaum untersucht worden. Vor unseren Untersuchungen zur bewegenden Kraft von Kunstwerken mussten wir deshalb zunächst definieren, was emotionales Bewegtsein überhaupt ist [1]. Extrem knapp formuliert: Emotionales Bewegtsein aktiviert regelmäßig prosoziale Gefühle und Selbstideale. Zu den auslösenden Szenarien gehören kritische Lebensereignisse (Tod, Geburt usw.), bedeutsame Beziehungsereignisse (Hochzeit, Trennung, Versöhnung), politische Ereignisse von großer Bedeutung und eben Kunstwerke. Subjektiv wird Bewegtsein als weitend, erhebend, rund, warm und angenehm erlebt. Intensive Grade gehen mit Tränen, Gänsehaut und Schauergefühlen einher.

Eine große Fülle emotional bewegender Erlebnisse kann zwei Grundtypen zugeordnet werden: freudigem und traurigem Bewegtsein. In beiden Grundtypen sind freudige und traurige Gefühlsanteile in umgekehrter Gewichtung enthalten. So schwingt etwa nach längerer Trennung eines Paares noch in der Freude der Versöhnung eine Erinnerung an die vorausgehende Entzweiung mit. Umgekehrt sind Beerdigungen nur dann bewegend, wenn sie neben der Trauer über einen großen Verlust zugleich positive Gefühle der Hochschätzung des Verstorbenen und eines sozialen Bandes unter den Trauernden aktivieren.

Was hat dies alles aber mit Ästhetik zu tun?

Emotionales Bewegtsein korreliert mit positiven ästhetischen Bewertungen von Filmen

In einer Studie zu traurigen Film-Clips [2] konnten wir zeigen, dass hohe Werte für Bewegtsein hochgradig positiv mit ästhetischer Wertschätzung korrelieren: Einen Film, der uns emotional bewegt, empfinden wir in der Regel als einen guten, uns gefallenden Film.

Auch Gefühle der Traurigkeit, die von den Studienteilnehmern berichtet wurden, korrelierten positiv mit der Zuschreibung hoher ästhetischer Qualität. Eine Mediationsanalyse ergab jedoch, dass Gefühle der Traurigkeit nicht direkt und als solche zu ästhetischer Wertschätzung beitragen, sondern nur, indem sie Gefühle des Bewegtseins verstärken.

Dieser Fund eröffnet eine neue Perspektive auf das viel diskutierte Paradox der Lust an negativen Gefühlen: Emotionales Bewegtsein spielt eine zentrale vermittelnde Rolle für die Möglichkeit, auch negative Gefühle lustvoll zu erleben.

Emotionales Bewegtsein ist sensitiv für ästhetische Qualitäten poetischer Sprache

Eine hohe statistische Korrelation mit ästhetischer Wertschätzung ist allerdings noch kein Beweis dafür, dass emotionales Bewegtsein tatsächlich sensitiv für relevante ästhetische Qualitäten ist. Um auch dies zeigen zu können, haben wir eine Studie mit 20 traurig und 20 freudig bewegenden Gedichten durchgeführt [3]. Wir gingen dabei von Roman Jakobsons Hypothese [4] aus, dass poetischer Sprachgebrauch eine ungewöhnliche Menge parallelistischer Merkmale aufweist. Parallelismen sind linguistisch optionale Rekurrenzmuster auf allen Ebenen der Sprache (Phonologie/Prosodie, Syntax, Semantik). Gedichte enthalten eine Vielzahl solcher Muster, darunter Metrum, Reim, Alliteration, Anapher, Assonanz usw. Unsere experimentelle Modifikation der Gedichte entfernte viele dieser parallelistischen Merkmale bei gleichzeitiger Wahrung nicht nur des Inhalts, sondern auch anderer charakteristischer Merkmale von Gedichten.

Das Resultat: Die Gedichte in der originalen, hochgradig parallelistischen Diktion wurden nicht nur als schöner, intensiver und melodischer bewertet als die modifizierte Version, sie ließen auch stärkere Gefühle von Bewegtsein, Freude, Traurigkeit und positivem Affekt erleben. Emotionales Bewegtsein durch Kunstwerke wird also keineswegs hinreichend durch zugrundeliegende Auslöse-Szenarien erklärt (die ja in den originalen und modifizierten Gedichten gleich sind). Die Kraft der poetischen Sprache selbst ist ein wichtiger zusätzlicher Faktor. Insofern ist emotionales Bewegtsein in Kunstkontexten tatsächlich (auch) ein genuin ästhetisches Gefühl.

Physiologische Korrelate intensiven Bewegtseins

In einer weiteren Gedichtstudie untersuchten wir physiologische Korrelate intensiven Bewegtseins. Frühere Forschungen hatten gezeigt, dass emotionale Höhepunkte des Musikhörens von chills (Schauergefühlen) beziehungsweise Gänsehaut begleitet sein können [5-7]. Wir konnten nachweisen, dass diese peak emotional responses charakteristisch für besonders intensive Momente emotionalen Bewegtseins sind [8]. In der Annahme, dass poetische Sprache ebenfalls solche starken physiologischen Effekte bewirken kann, zeichneten wir neben Hautleitwert und Herzfrequenz (Abb. 1A) auch die Gänsehaut mittels einer eigens dafür entwickelten Kamera auf (Abb. 1B). Zusätzlich erfassten wir die Aktivität zweier Gesichtsmuskeln, die dem Stirnrunzeln (Musculus corrugator supercilii) beziehungsweise Lächeln (Musculus zygomaticus major) zugrunde liegen und deren Aktivierungsgrad – auch ohne im Gesicht erkennbare Veränderungen – als Anzeige negativen und positiven Affekts gilt (Abb. 1C).

Die Daten von zwei Studien mit insgesamt 57 Studienteilnehmern belegen, dass poetische Sprache tatsächlich die Kraft hat, Gänsehaut auszulösen. In solchen Momenten waren Hautleitwert und Herzschlagfrequenz deutlich erhöht. Auch der Corrugator-Muskel (Stirnrunzel-Muskel) war signifikant stärker aktiviert, was auf erhöhten negativen Affekt hinweist. Da wir in einer anschließenden Studie mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) mit denselben Teilnehmern und Gedichten nachweisen konnten, dass die chills – wie im Fall der Musik – das primäre Belohnungssystem involvieren, erscheint gleichzeitig gefühlter negativer Affekt auf den ersten Blick kontraintuitiv. Unser Modell des emotionalen Bewegtseins kann jedoch das scheinbare Paradox erklären, denn es definiert dieses Gefühl ja durch charakteristische Koaktivierungen positiver und negativer Gefühlsanteile. Wie es scheint, setzt die Präsenz eines negativen Affektanteils beim Lesen emotional bewegender Gedichte den positiven nicht herab, sondern verstärkt sogar die Intensität des Erlebens. Damit leistet auch diese Studie einen Beitrag zur Erklärung der Lust an negativen Gefühlen in der Kunstrezeption.

Was verrät die Erforschung physiologischer Wirkungen über dichterische Sprache?

Gänsehautmomente beziehungsweise chills wurden in unseren Studien bevorzugt am Ende einzelner Verse, einzelner Strophen und vor allem des ganzen Gedichts erlebt (Abb. 2). Warum diese Endlastigkeit? Die Antwort liegt in kompositorischen Merkmalen von Gedichten begründet. Poetische Metren (regelhafte Abfolge von betonten und unbetonten Silben im Vers, oft verbunden mit geregelter Anzahl der betonten Silben) erwecken starke Erwartungshaltungen beim Rezipienten. Das Vorhersagesystem im Gehirn (das große Überlappung mit dem Belohnungssystem aufweist) prüft kontinuierlich, inwiefern ein Gedicht die Erwartungen, die es selbst aufbaut, erfüllt oder verletzt. Besonders stark sind diese Erwartungen an Schlusspositionen, da diese das Auftreten der Zäsur oder gar des Gedichtendes antizipieren und oft durch das Reimschema zusätzlich verstärkt werden. Auch die inhaltliche Choreographie von Gedichten trägt zu Erwartungen an eine finale Lösung oder Zuspitzung bei. Dichter wissen offenbar mit solcher Kraft auf der Klaviatur unserer Gefühle und Erwartungen zu spielen, dass sie uns insbesondere am Ende von Spannungsbögen – nahe den Stellen, denen in der antiken Rhetorik als Coda beziehungsweise Klausel eine entscheidende Rolle zugesprochen wurde – einen Schauer über den Rücken laufen lassen.

Hinweis: Die hier berichteten Studien zur Gänsehaut sind noch nicht veröffentlicht.

 

Menninghaus, W.; Wagner, V.; Hanich, J.; Wassiliwizky, E.; Kuehnast, M.; Jacobsen, T.
Towards a psychological construct of being moved
PLoS ONE 10(6), e0128451 (2015)
Hanich, J.; Wagner, V.; Shah, M.; Jacobsen, T.; Menninghaus, W. 
Why we like to watch sad films. The pleasure of being moved in aesthetic experiences
Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 8, 130-143 (2014)
Menninghaus, W.; Wagner, V.; Wassiliwizky, E.; Jacobsen, T.; Knoop, C. A.
The emotional and aesthetic powers of parallelistic diction
Poetics (2016)
Jakobson, R.
Linguistics and poetics

Style in Language, pp. 350-377 (Ed. Sebeok, T.A.). Wiley, New York, NY (1960)

Benedek, M.; Kaernbach, C. 
Physiological correlates and emotional specificity of human piloerection
Biological Psychology 86, 320-329 (2011)
Blood, A. J.; Zatorre, R. J.
Intensely pleasurable responses to music correlate with activity in brain regions implicated in reward and emotion
Proceedings of the National Academy of Sciences 98, 11818-11823 (2001)
Salimpoor, V. N.; Benovoy, M.; Larcher, K.; Dagher, A.; Zatorre, R. J.
Anatomically distinct dopamine release during anticipation and experience of peak emotion to music
Nature Neuroscience 14, 257-262 (2011)
Wassiliwizky, E.; Wagner, V.; Jacobsen, T.; Menninghaus, W.
Art-elicited chills indicate states of being moved
Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 9, 405-416 (2015)
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