Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung

Kontrollierte Bedingungen, kontrollierte Chemie

Autoren
Gilmore, Kerry*; Pieber, Bartholomäus; Seeberger, Peter H.
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam-Golm
Zusammenfassung
Die Effizienz der meisten chemischen Reaktionen hängt von der akkuraten Kontrolle sämtlicher Prozessparameter ab. Mit der Durchflusschemie lassen diese sich äußerst präzise kontrollieren, da dabei Reaktionsmischungen unter stabilen Bedingungen dünne Röhren durchlaufen. Auf dieser Basis lassen sich neue und effizientere Reaktionen entwickeln, die in Rundkolben nicht möglich sind. Der modulare Charakter dieser Technologie bereitet den Weg für neue Strategien zur Synthese von Strukturgrundgerüsten und ermöglicht dadurch die Herstellung verschiedenster Derivate in einem einzigen Reaktorsystem.

Im Wesentlichen liegt der Fokus in der organischen Synthesechemie darauf, Moleküle auf kontrollierbare Weise herzustellen. Dies beinhaltet chemo- und regioselektive Umwandlung von funktionellen Gruppen oder die Herstellung und Verwendung von reaktiven Intermediaten und erfordert eine präzise Regelung aller Prozessparameter. Viele dieser Prozesse profitieren von der Durchflusschemie, da sich hierbei die Reaktionsbedingungen wesentlich besser kontrollieren lassen. Bei dieser Technologie werden Reaktionsmischungen durch dünne Schläuche oder Kapillaren gepumpt, die kontrollierten Bedingungen unterliegen. Aufgrund der spezifischen Charakteristika von Durchflussverfahren ergeben sich Vorteile für Reaktionen bei hohen Drücken und Temperaturen, Mehrphasenreaktionen (gas/flüssig, flüssig/flüssig, fest/flüssig), sehr schnelle und exotherme Reaktionen, sowie bei fotochemischen Umsetzungen [1].

Die Durchflusschemie besitzt außerdem einen modularen Charakter, da sich die verwendeten Komponenten wie Pumpen, Mixer und Reaktoren vielseitig kombinieren lassen. Damit erweitert sich die Palette an Anwendungsmöglichkeiten enorm. Unsere Arbeitsgruppe  "Continuous Chemical Systems" am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung hat sich diese Technik zu Nutze gemacht, um zwei essenzielle Standpfeiler der organischen Synthese weiterzuentwickeln. Dabei handelt es sich um Methodik (Entwicklung neuer Reaktionen und Aufklärung der zugrunde liegenden Mechanismen) und mehrstufige Syntheserouten (kontinuierliche und semi-kontinuierliche Prozesse) zur Produktion von pharmazeutischen Wirkstoffen (active pharmaceutical ingredients, APIs).

Methodik

Als besonders vorteilhaft erweisen sich Durchflussverfahren bei der Verwendung von gefährlichen Reagenzien und fotochemischen Transformationen. Wegen der vergleichsweise kleinen Reaktordimensionen sind zu jeder Zeit nur geringe Mengen der Reaktionsmischung an der chemischen Reaktion beteiligt. Des Weiteren haben Durchflussreaktoren im Vergleich zu klassischen, diskontinuierlichen Reaktoren (Batch-Reaktoren, Rührkesselreaktoren) ein großes Oberflächen-zu-Volumen-Verhältnis.  Dadurch wird die Wärme bei exothermen Prozessen hervorragend abgeleitet. Ein Beispiel hierfür ist unsere kürzlich veröffentlichte Arbeit über die α-Nitrierung von Estern. Dabei wurden hochätzende Schwefelsäure und rauchende Salpetersäure in einem Durchflussreaktor miteinander vermischt, um Nitroniumionen zu erzeugen [2]. Durch ein spezielles Reaktordesign sowie exakte Kontrolle der Fließgeschwindigkeit der einzelnen Reagenzien konnten wir das reaktive Intermediat von α-Ketoestern abfangen, um das gewünschte Produkt zu erzeugen. Die Durchführung dieser exothermen Reaktion ist in einem Batch-Reaktor äußerst gefährlich und unkontrollierbar.

Die Fotochemie profitiert von Durchflussverfahren, da sie in konventionellen Settings stark durch das Lambert-Beer‘sche Gesetz limitiert ist: Die Intensität des eingestrahlten Lichts nimmt mit der Eindringtiefe in ein absorbierendes Medium exponentiell ab. Folglich lassen sich fotochemische Prozesse in dünnen, transparenten Durchflussreaktoren um ein vielfaches schneller und effizienter durchführen als in Kolben oder ähnlichen Glasgefäßen. Bei einer fotochemische Reaktion versetzt Licht ein Substrat in einen angeregten Zustand, wodurch die Bildung des gewünschten Produktes erreicht werden kann. Solche Substrate können zum Beispiel Verbindungen mit einem konjugierten π-System, einer Doppel- oder Dreifachbindung zwischen einem Kohlenstoff und einem Heteroatom, aufweisen. Diese chemische Einschränkung lässt sich durch geeignete Fotokatalysatoren elegant umgehen, wodurch die Verwendung von nicht absorbierenden Substraten ermöglich wird. Hierbei nutzt der Katalysator Photonen, um selbst eine chemische Reaktion entweder durch Ein-Elektronentransfer (single electron transfer, SET) oder Energietransfermechanismen zu initiieren.

Erst kürzlich konnten wir zeigen, dass genau solche fotokatalytischen Transformationen von durchflusschemischen Verfahren profitieren können. Mithilfe des Katalysators Ru(bpy)32+ liefen mehrere SET-Oxidations- und -Reduktionsprozesse in einem kontinuierlichen Reaktorsetup um ein Vielfaches beschleunigt ab (siehe Abb. 1) [3].

Des Weiteren konnten wir die in situ-Herstellung und Verwendung von Singulett-Sauerstoff (1O2), der katalytisch über Energietransfermechanismen aus gewöhnlichem Sauerstoff gewonnen wird, mit dieser Technologie optimieren. Mit dieser angeregten Sauerstoffspezies ließ sich eine Vielzahl an Reaktionen erfolgreich in Durchflussreaktoren erforschen; schließlich konnten wir damit erstmals Artemsinin, ein wichtiges Malarimedikament, kontinuierlich synthetisieren.

Mit dem dabei entwickelten flexiblen Reaktormodul lässt sich die Reaktionstemperatur präzise regeln und beispielsweise auf -80° Celsius kühlen, um eine bessere Reaktivitätskontrolle zu erzielen. Dies stellte sich bei der Fotooxidation von primären Aminen mit 1O2 als äußerst nützlich heraus. Bei Temperaturen oberhalb von -50° Celsius reagiert das resultierende Aldimin sofort mit dem Substrat und bildet ein sekundäres Imin. Bei Temperaturen unterhalb von -50° Celsius ließ sich diese ungewünschte Folgereaktion jedoch vermeiden und das selektiv hergestellte Aldimin zu wertvollen α-Aminonitrilen umsetzen [4].

Gekoppelte Module

Komplexe Strukturen lassen sich in der Durchflusschemie erzeugen, indem man zwei oder mehrere Reaktormodule aneinanderreiht. Dabei unterscheidet man kontinuierliche Verfahren, bei denen zwei Reaktormodule direkt miteinander verbunden sind, und semi-kontinuierliche Verfahren, bei denen das Zwischenprodukt zunächst gesammelt, dann aber umgehend in einen weiteren Reaktor eingespeist wird.

Derart gekoppelte Verfahren sind besonders nützlich, wenn instabile Zwischenprodukte wie α- Aminonitrile entstehen und sofort umgesetzt werden müssen. Diese Verbindungen ließen sich  beispielsweise in einem geeigneten Reaktormodul über eine Hydrolyse der Nitril-Funktionalität in α- Aminosäuren umwandeln. Die Hydrolyse mit konzentrierter Salzsäure ließ sich hierbei von 48 Stunden im Batch-Reaktor auf 40 Minuten  im Durchflussverfahren reduzieren, da bei erhöhtem Reaktordruck das Reaktionsgemisch über den Siedepunkt erhitzt werden kann [5]. Für die Synthese von Hydantoinen, eine Gruppe vielseitig verwendbarerer Heterozyklen, wird das Hydrolysemodul gegen ein Reaktionsmodul für Carboxylierungen ausgetauscht (siehe Abb. 2) [6]. In diesem Modul reagiert das jeweilige α-Aminonitril mit gasförmigem CO2 in einem mehrstufigen Prozess, aus dem die zyklischen Verbindungen hervorgehen.

Target-orientierte Synthese

Durch die Kopplung mehrerer Reaktormodule lässt sich  ein spezifisches Molekül in einem kontinuierlichen Durchflussprozess effizient herstellen. Dies ist von besonderem Interesse für die zielgerichtete Synthese von pharmazeutischen Wirkstoffen. Wir konnten beispielsweise in einem ersten Modul die präzise Kontrolle der Reaktionszeit in Druchflussreaktoren dazu nutzen, eine selektive ortho-Lithiierung von 1,4-Dichlorbenzen mit n-BuLi durchzuführen. Die resultierende reaktive Organolithium-Spezies wurde umgehend mit einem Acylierungsreagenz in einem weiteren Reaktormodul umgesetzt. Die darauffolgende kontinuierliche nucleophile Addition eines Lithium-Cyclopropanacetylides und ein finaler, katalytischer Reaktionsschritt in einem kontinuierlichen Festbettreaktor resultierte in der zurzeit kürzesten Synthese von Efavirenz, einem wichtigen Wirkstoff zur Behandlung von HIV-Erkrankungen in einem semi-kontinuierlichen Verfahren [7].

Kernfunktionalitäts-orientierte Synthese

Eine Vielzahl an wichtigen Molekülen und pharmazeutischen Wirkstoffen basieren auf ähnlichen molekularen Grundgerüsten beziehungsweise Kernfunktionalitäten. Durch  Aneinanderreihen von flexiblen und chemo-selektiven Reaktormodulen ergeben sich mehrstufige Prozesse zur Herstellung solcher Grundgerüste. Da diese Reaktionsmodule weder von den vorhergehenden noch von den nachfolgenden Reaktionen oder Reaktionsmodulen abhängig sind, lassen sie sich beliebig variieren und für die Synthese verschiedener molekularer Kernfunktionalitäten verwenden. Dadurch lässt sich das Fließbandfertigungsprinzip auf die organische Chemie anwenden. Des Weiteren lassen sich die daraus resultierenden chemischen Fertigungssysteme entweder für divergente oder konvergente Synthesen einsetzen.

Ein Beispiel für einen divergenten, kontinuierlichen Prozess ist die Erweiterung der Artemisinin-Synthese um drei Reaktormodule zur kontinuierlichen Herstellung der Wirkstoffe Dhiydroartemsinin, β-Artemether, β- Artemotil und α-Artesunat (siehe Abb. 3). Hierbei haben wir in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe von Andreas Seidel-Morgenstern (Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme, Magdeburg) zusätzlich einen kontinuierlichen Aufreinigungsprozess integriert, um die laut WHO zur Erstbehandlung von Malaria empfohlen Wirkstoffe mit einer Reinheit von mehr als 99,5 Prozent  herzustellen [8].

Das Potenzial und die Breite der Anwendungsoptionen des beschriebenen synthetischen beziehungsweise technologischen Prinzips wurden für die Synthese von fünf unterschiedlichen Strukturgerüsten und daraus folgend zehn unterschiedlichen APIs angewandt. Dazu wurden acht Basisreaktionsmodule in verschiedenen, konvergenten und divergenten Reihenfolgen kombiniert (siehe Abb. 4) [9,10]. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass für keinen Prozess eine Aufreinigung der Zwischenstufen notwendig war.

Literaturhinweise

Plutschack, M. B.; Pieber, B.; Gilmore, K.; Seeberger, P. H.

The Hitchhiker’s Guide to Flow Chemistry
Chem. Rev. 2017, 117
Chentsova, A.; Ushakov, D.; Seeberger, P. H.; Gilmore, K.
Synthesis of α-Nitro Carbonyls via Nitrations in Flow
J. Org. Chem. 2016, 81, 9415.
Bou-Hamdan, F. R., Seeberger, P. H.
Visible-light-mediated photochemistry: accelerating Ru(bpy)32+-catalyzed reactions in continuous flow
Chem. Sci. 2012, 3, 1612.
Ushakov, D. B.; Gilmore, K.; Kopetzki, D.; McQuade, D. T.; Seeberger, P. H.
A Continuous Flow Oxidative Cyanation of Primary and Secondary Amines Using Singlet Oxygen
Angew. Chem. Int. Ed. 2014, 53, 557.
Vukelić, S.; Ushakov, D. B.; Gilmore, K.; Koksch, B.; Seeberger, P. H.
Flow Synthesis of Fluorinated α-Amino Acids
Eur. J. Org. Chem. 2015, 14, 3036.
Vukelić, S.; Koksch, B.; Seeberger, P. H.; Gilmore, K.
A Sustainable, Semi-Continuous Flow Synthesis of Hydantoins
Chem. Eur. J. 2016, 22, 13451.
Correia, C. A.; Gilmore, K.; McQuade, D. T.; Seeberger, P. H.
A Concise Flow Synthesis of Efavirenz
Angew. Chem. Int. Ed. 2015, 54, 4945.
Gilmore, K.; Kopetzki, D.; Lee, J. W.; Horváth, Z.; McQuade, D. T.; Seidel-Morgenstern, A.; Seeberger, P. H.
Continuous Synthesis of Artemisinin-Derived Medicines
Chem. Commun. 2014, 50, 12652.
Ghislieri, D.; Gilmore, K.; Seeberger, P. H.
Chemical Assembly Systems: Layered Control for Divergent, Continuous, Multi-Step Syntheses of APIs
Angew. Chem. Int. Ed. 2015, 54, 678.
Nobuta, T.; Xiao, G.; Ghislieri, D.; Gilmore, K.*; Seeberger, P. H.*
Continuous and Convergent Access to Vicinyl Amino Alcohols
Chem. Commun. 2015, 51, 15133.
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