Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Machst Du jetzt Witze oder was? ­– Die Sprechweisen der Trobriand-Insulaner

Autoren
Senft, Gunter
Abteilungen

Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen
Zusammenfassung
Die Trobriand-Insulaner von Papua-Neuguinea unterscheiden und benennen in ihrer Sprache –­ dem Kilivila – ­Genres und Varietäten oder Register, die von diesen Genres konstituiert werden. Die Dokumentation und Analyse dieser Varietäten und Genres zeigt, wie wichtig es ist, diese metasprachlichen Differenzierungen zu verstehen. Auf dem Verständnis der trobriandischen Texttypologie und der kulturspezifischen Sprechweisen der Trobriander basiert nämlich die sprachliche und kulturelle Kompetenz, die notwendig ist, um angemessen mit den Trobriandern zu interagieren.

Seit der "Poetik" des Aristoteles [1] wird das literarische Konzept "Genre" äußerst kontrovers diskutiert und kritisiert. Dabei ging – und geht – es vor allem um die Fragen:

1.) Wie definiert man das Konzept insgesamt und wie definiert man jeweils spezifische, voneinander zu unterscheidende Genres?

und

2.) Welche Funktionen werden von diesen Genres erfüllt?

Nachdem die Ethnologie, die Ethnographie, die Soziolinguistik, die Diskursanalyse und die anthropologische Linguistik dieses Konzept aufgegriffen hatten, wurde in der kritischen Diskussion des Konzepts "Genre" eine weitere zentrale Frage aufgeworfen, nämlich:

3.) Welche Relevanz haben Genres für die Erforschung von Sprache, Kultur und Kognition in der sozialen Interaktion?

Die Klassifizierung von Genres war also schon immer umstritten; es ist aber noch viel schwieriger und problematischer, Genres in nicht-indogermanischen Sprachen zu klassifizieren, denn diese Klassifikation basiert in aller Regel auf den Traditionen und Terminologien, die auf den klassischen europäischen Philologien und Hermeneutiken – also auf unseren vertrauten Text- und Diskursanalysen im weitesten Sinne – beruhen.

Die Trobriand-Insulaner von Papua-Neuguinea unterscheiden und benennen in ihrer ozeanischen Sprache – dem "Kilivila" [2] – nicht nur dialektale Varietäten, sondern auch eine Vielzahl von Genres (oder Textsorten) und nicht-dialektale Varietäten oder Register, die von diesen Genres konstituiert werden und die in besonderen Situationen mit ganz bestimmten persönlichen oder gesamtgesellschaftlich-kulturellen Intentionen gebraucht werden.

Dokumentation der Texttypen der Trobriander

Die jetzt publizierte, langjährige Dokumentation und Analyse dieser trobriandisch-indigenen Typologie von Textsorten [3] basiert auf dem von Dell Hymes [4] vor allem auch in seiner Zusammenarbeit mit John Gumperz [5] entwickelten Paradigma der "Ethnographie des Sprechens" bzw. der "Ethnographie der Kommunikation".

Neben zwei allgemein-übergreifenden nicht-diatopischen, also nicht Dialekt markierenden Varietäten,

der "biga bwena" – der "guten Sprache" – einerseits und

der "biga gaga" – der "schlechten Sprache" – andererseits

unterscheiden die Trobriander die folgenden Varietäten und die sie konstituierenden Genres:

– "biga tommwaya / biga baloma" – die "Sprache der Alten" / die "Sprache der Totengeister" konstituiert von dem Genre "wosi milamala" – "Lieder der Erntefeiern";

 

– „biga megwa“ – die „Sprache der Magie“, konstituiert von dem Genre „megwa“ – „magische Formeln“;

– „biga tapwaroro“ – die „Sprache der Kirche“, konstituiert von den Genres „tapwaroro“ – „christliche Texte“ und „wosi tapwaroro“ – „Kirchenlieder“;

– „biga taloi“ – die „Sprache des Grußes“, konstituiert von dem Genre „taloi“ – „Grußformeln“;

– „biga pe'ula / biga mokwita“ – die „ernsten Worte“ / die „Sprache der Wahrheit“, konstituiert von den Genres „yakala“ – „(Land-)Rechtsstreit", „kalava“ – das „Zählen von mit Yamsknollen gefüllten Körben“, „kasolukuva“ – „(ritualisierte) Trauerformeln“ und „liliu“ – "Mythen;

– „biga sopa“ – die „nicht ernst gemeinte Sprache“ “ / die „Sprache der Lüge“ , konstituiert von den Genres „sopa“ – „Witz, Lüge", „kukwanebu sopa“ – „witzige Geschichte“ , „kukwanebu1“ – „Märchen“ , „kasilam“ – „Tratsch, Klatsch“ , „wosi“ – „Lieder“ (mit einer Vielzahl ebenfalls metasprachlich unterschiedener Subgenres), „butula“ – „Schmählieder“ , „vinavina“ – „Kinderreime, Spielverse“ , „sawila“ – „Ernterufe“ und „matua“ – (einige) „Beleidigungen“ (ausgenommen fünf „tödliche Beleidigungen“ , die als konstitutiv für die „biga gaga“ – die „schlechte Sprache“ gelten); und schließlich die Mischvarietät:

„kena biga sopa kena biga mokwita“ – „entweder die Sprache der Lüge oder die Sprache der Wahrheit“ , die konstituiert wird von den Genres „kukwanebu2“ – „Geschichte“ , „kavala" – „(öffentliche) persönliche Ansprache“ , „luavala“ – „Mahnrede“ , „kasemwala“ – „Verführen“ und „nigada“ – „Fordern“.

 

Mit Ausnahme der Genres „Rechtsstreit; persönliche Ansprache“ und „Verführen“ dokumentieren Audio- und Videodaten alle anderen oben aufgeführten Genres, Varietäten und Sprechweisen. Diese Originaldaten sind im Internet öffentlich zugänglich (www.mpi.nl/trobriand) und erlauben so eine Überprüfung der in der Dokumentation [3] vorgelegten Transkriptionen.

Sprache des Witzes – Sprache der Lüge

Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung dieser Typologie der trobriandischen Varietäten, Sprechweisen und Texttypen fällt auf, dass offenbar der „biga sopa“, der „Sprache des Witzes, der Sprache der Lüge“ in der alltäglichen verbalen Interaktion der Trobriander eine besondere Rolle zukommt. Ich will deshalb im Folgenden etwas näher – und stellvertretend für die anderen Varietäten – auf dieses Konzept der „biga sopa“ eingehen.

Die Trobriander gehen zunächst einmal davon aus, dass alles, was jemand sagt, als „biga sopa“ klassifiziert werden kann. Der Gebrauch dieser Varietät reizt die für die natürlichen Sprachen so charakteristischen Merkmale „Vagheit“ und „Vieldeutigkeit“ so weit aus, dass man diese Sprechweise als „ein Sprechen, für das man sich nicht verbürgt“ auffassen muss.

Die Trobriander nutzen die „biga sopa“-Varietät des Kilivila strategisch als rhetorisches Mittel, mit dem sie nicht nur die allgemeine Atmosphäre der Interaktion angenehm gestalten und entspannt erscheinen lassen, sondern mit dem sie auch mögliche Konfliktsituationen und unliebsame Konfrontationen vermeiden können.

Sollten die Ansprechpartner der Trobriander signalisieren, dass sie sich von dem gerade Gehörten angegriffen oder beleidigt fühlen, dann können sich die Sprecher des Kilivila jederzeit von dem, was sie gerade gesagt haben, mit dem Hinweis darauf distanzieren, dass sie ja die „biga sopa“ als ihre Sprechweise gewählt hatten, und sie deshalb auch gar nicht meinen, was sie gesagt haben. Die trobriandische Etikette verlangt, dass sich niemand von Aussagen, die als „biga sopa“ klassifiziert werden, angegriffen fühlen darf – andernfalls droht öffentlicher Gesichtsverlust.

Deshalb können die Trobriander die „biga sopa“-Varietät dazu nutzen, möglicherweise kontroverse Argumente auszutesten; die „biga sopa“ und die sie konstituierenden Genres erlauben es den Trobriandern, ihre Gedanken zu verschleiern, auf eine spielerische Art und Weise nicht einer Meinung mit ihren Gesprächspartnern zu sein, ohne fürchten zu müssen, sich persönlich zu stark zu exponieren und sich über andere lustig zu machen. Die „biga sopa“ kann auch als ironisierendes und parodistisches Stilmittel eingesetzt werden, um bestimmte Formen sozial abweichenden Verhaltens bei anderen zu kritisieren und die Betreffenden zur Änderung ihres Verhaltens aufzufordern. Und schließlich gibt diese Varietät den Trobriandern – ob jung oder alt – auch die Lizenz dafür, bestimmte (aber keinesfalls alle) Tabus im verbalen Bereich zu brechen.

Ein Genre zur Sicherung der Harmonie

Von daher fungiert die „biga sopa“ als eine sog. Ventilsitte [6]. Ich will dieses ethologische Konzept kurz erklären. In jeder menschlichen Gesellschaft gibt es Bereiche, die als tabuisiert gelten, und es gibt Dinge, über die man nicht spricht. Dass aber Tabus gebrochen werden – und zwar mit um so größerer Wahrscheinlichkeit, je strikter ihre Einhaltung gefordert wird – ist eine allgemein bekannte, wenn auch oft verdrängte Tatsache. Eine Gesellschaft kann sich der Einhaltung ihrer Tabus in den Bereichen, auf die sie wirklich entscheidenden Wert legt, sicherer sein, wenn sie ihren Mitgliedern zugesteht, in bestimmten Bereichen, die für die Konstruktion ihrer sozialen Wirklichkeit von eher mittelbarer Bedeutung sind, Tabus, Tabuverletzungen und Tabubrüche zu thematisieren, ja, sie sich sogar – in fiktiver Form, versteht sich – vorzustellen. Auf diese Weise kommt es zur Herausbildung der sogenannten Ventilsitten.

Die Genres der „biga sopa“ – auch die, die deutlich Züge der verachteten „biga gaga“ , der „schlechten Sprache“ tragen – sind für die Trobriander zuallererst als „sopa“ klassifiziert – als ein Sprachspiel, als etwas Fiktives. Die „biga sopa“ schafft damit ein Forum, auf dem der Verstoß gegen ein Tabu erlaubt ist, solange das im verbalen Bereich geschieht. Dieses Forum ermöglicht, dass man über etwas reden kann, über das man sonst nicht reden darf.

 

Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die „biga sopa“ in der Lage ist, Emotionen zu kanalisieren, Aggressionen zu kontrollieren und die Möglichkeit zu offenem sozialen Kontakt miteinander aufrechtzuerhalten. Die „biga sopa“ und die sie konstituierenden Genres tragen entscheidend zur Sicherung der Harmonie und zur Erhaltung der trobriand-spezifischen Konstruktion der sozialen Wirklichkeit bei.

Diese relativ kurzen Ausführungen zu einer der von den Trobriandern metalinguistisch unterschiedenen Sprachvarietäten zeigen, dass die Kenntnis der trobriandischen Texttypologie und die Vertrautheit mit den Sprechweisen der Trobriand-Insulaner unabdingbare Voraussetzungen sind, um mit ihnen sprachlich und kulturell adäquat interagieren zu können.

Zum Schluss dieser Ausführungen sei angemerkt, dass die Dokumentation und Analyse der Sprechweisen der Trobriander die vor nahezu einem Jahrhundert von Bronislaw Malinowski, einem der Gründerväter der modernen Kulturanthropologie, in seiner Monographie „Argonauts of the Western Pacific“ gestellte Forderung nach einem „corpus inscriptionum" für das Kilivila erfüllt [7].

Aristoteles:
Poetik.
Griechisch-deutsch, übersetzt und herausgegeben von M. Fuhrmann. Stuttgart: Reclam (1982).
G. Senft:
Kilivila  - the language of the Trobriand Islanders.
Berlin: Mouton de Gruyter (1986).
G. Senft:
The Trobriand Islanders´ways of speaking.
Berlin: de Gruyter Mouton (2010).
D. Hymes:
"The ethnography of speaking."
In: T. Gladwin und W. C. Sturtevant (Hg.): Anthropology and human behavior. 13-53 (1962). Washington D. C.: Anthropological Society of Washington.
J. Gumperz und D. Hymes (H.G.):
The ethnography of communication.
Special Issue of American Anthropologist 66 (6): Part II (1964).
I. Eibl-Eibesfeldt:
Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie.
München: Piper (1984).
B. Malinowski:
Argonauts of the Western Pacific.
London: Routledge and Kegan Paul (1922).
B. Senft, G. Senft:
Ninikula - Fadenspiele auf den Trobriand-Inseln, Papua-Neuguinea.
Baessler Archiv NF 34: 93-235 (1986).
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