Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Ich weiß, was Du als nächstes sagen wirst (aber nur, weil ich lesen kann)

Autoren
Huettig, Falk
Abteilungen
Individuelle Unterschiede in der Sprachverarbeitung; Sprachverstehen
Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen
Zusammenfassung
Es wird häufig behauptet, dass die Vorhersage von unmittelbar bevorstehenden Ereignissen eine grundlegende Eigenschaft der menschlichen Kognition ist. Neue Befunde aber legen jetzt nahe, dass die Alphabetisierung (die Lese- und Schreibfähigkeit) eine wichtige Voraussetzung für die Antizipation von Wörtern beim Verstehen gesprochener Sätze ist. Untersuchungen ergaben, dass schreib- und lesekundige Probanden (aber nicht Analphabeten) syntaktische und assoziative Informationen aus gesprochenen Sätzen nutzen, um vorherzusagen, welchen Gegenstand ein Sprecher als Nächstes erwähnen wird.

Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, war bis vor kurzem auf wenige privilegierte Personen beschränkt. Selbst heutzutage ist jeder fünfte Erwachsene weltweit als Analphabet einzustufen, also als eine Person, die nicht in der Lage ist, einen kurzen Text über ihr tägliches Leben zu lesen oder zu schreiben. Obwohl es enorme internationale Anstrengungen gibt, den Analphabetismus zu überwinden, wissen wir überraschend wenig über die Auswirkungen von Analphabetismus auf die kognitive Verarbeitung. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik und der Universität von Allahabad (Indien) haben jetzt untersucht, ob das Fehlen der Lese- und Schreibfähigkeit Auswirkungen hat, die über das Verstehen von geschriebenen Texten hinausgehen. Insbesondere wurde untersucht, welchen Einfluss der Analphabetismus auf die Vorhersage (die sogenannte Antizipation, d.h. die Erwartung eines zukünftigen Ereignisses) von Wörtern während der Verarbeitung von gesprochenen Sätzen hat.

Die Vorhersage von Ereignissen

Die Vorhersage von Ereignissen in unserer Umwelt ist ein grundlegendes Prinzip der menschlichen Kognition. Orchestermusiker zum Beispiel generieren Vorhersagen, indem sie die gleichzeitigen Produktionen ihrer Kollegen nachahmen [1]. Das Wissen über die Aufgabe eines Anderen beeinflusst unser eigenes Planen und Verhalten selbst in Situationen, in denen die Aufgabe des Anderen irrelevant ist [2]. Auch die motorische Entwicklung von Kindern beruht auf der Vorhersage von unmittelbar bevorstehenden Ereignissen [3].

Die Antizipation von Wörtern während der Sprachverarbeitung

Im Gebiet der Sprachverarbeitung wurde beobachtet, dass Leser die „Auftretenswahrscheinlichkeit“ bestimmter Wörter in Texten ausnützen. So werden Wörter, die sich gut vorhersagen lassen (z.B. das letzte Wort im Satz "Weil er sehr müde war, ging er früh ins Bett") kürzer fixiert als Wörter, die schlechter vorhersagbar sind ("weil er sehr müde war, ging er früh ins Haus") [4]. Auf ähnliche Weise haben Electroenzephalogramm-Untersuchungen (EEG) mit ereigniskorrelierten Potentialen (EKPs) gezeigt, dass Probanden linguistische Informationen benutzen, um Repräsentationen – d.h. zum Beispiel gespeicherte Informationen über die Bedeutungen und syntaktischen Merkmale – von Worten zu aktivieren, bevor sie die Wörter überhaupt gehört oder gelesen haben [5]. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Leser die wahrscheinlichsten Fortsetzungen von Sätzen im Voraus antizipieren.

Der Einfluss der Lese- und Schreibfähigkeit auf die antizipatorische kognitive Verarbeitung

Um zu klären, ob und wie antizipatorische kognitive Verarbeitung von der Lese- und Schreibfähigkeit beeinflusst wird, untersuchten Falk Huettig (MPI für Psycholinguistik) und Niharika Singh und Ramesh Mishra (Universität von Allahabad), wie indische Studenten und indische Analphabeten linguistische Informationen aus gesprochenen Sätzen nutzen, um vorherzusagen, welchen Gegenstand ein Sprecher als Nächstes erwähnen wird. Falls Antizipation von fundamentaler Bedeutung für die Sprachverarbeitung ist, dann sollte Antizipation bei allen kompetenten Sprechern/Hörern einer Sprache auftreten und nicht vom Grad der Schulausbildung abhängen.

Der indische Subkontinent ist für die Untersuchung der Effekte von Alphabetisierung besonders geeignet. Mehr als 35 Prozent der indischen Bevölkerung können weder lesen noch schreiben. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern sind indische Analphabeten jedoch gut in der Gesellschaft integriert. Analphabetismus in Indien ist hauptsächlich bedingt durch sozioökonomische Faktoren.

In früheren psychologischen Untersuchungen wurde beobachtet, dass Analphabeten schlechte Resultate in kognitiven Aufgaben erzielten, die Aufgaben missverstanden [6]. Huettig, Singh und Mishra wählten daher eine einfache ,Schauen und Hören'-Aufgabe [7] aus, die Ähnlichkeiten mit alltäglichen Aufgaben hat. Probanden hörten einfache gesprochene Sätze (z.B. "Gleich werden Sie eine hohe Tür sehen"), während sie auf einem Computerbildschirm vier einfache Objekte (z.B. eine Tür, einen Knopf, eine Blume und eine Trommel) sahen. Eins der dargestellten Objekte (in diesem Beispiel die Tür) fungierte demzufolge als Zielobjekt, das im gesprochenen Satz erwähnt wurde. Die indischen Probanden hörten diese Sätze in ihrer Muttersprache Hindi. In den Sätzen folgten ein Adjektiv (z.B. "uncha", hoch), ein neutrales Partikelwort ("wala") und das Substantiv "darwaja", Tür) aufeinander. Adjektiv und Partikel werden dekliniert (das heißt sie verändern ihre Form) und kongruieren mit dem Substantiv (ähnlich wie im Deutschen Artikel und Adjektivendung zum Nomen passen – wir sagen einE hohE Tür, aber ein hohES Fenster). Die Probanden hatten daher die Möglichkeit, das Zielobjekt aufgrund von syntaktischen Informationen vom Adjektiv und Partikel (z.B. das "a" in "uncha" und "wala" vorherzusagen. Zusätzlich waren die Adjektive so ausgewählt, dass sie mit dem nachfolgenden Substantiv assoziiert waren, d.h. in der Sprache häufig zusammen auftreten. Es ist wichtig zu bemerken, dass von den vier Objekten auf dem Computerbildschirm nur das Zielobjekt, aber nicht die drei anderen Objekte mit dem Adjektiv assoziiert waren. Ebenso kongruierte nur das Zielobjekt mit dem Adjektiv und dem Partikel. Das Experiment prüfte, ob und wann die Probanden (Studenten oder Analphabeten) die syntaktischen und assoziativen Informationen aus den gesprochenen Sätzen nutzen, um das Zielobjekt vorherzusagen. Dazu wurde bestimmt, wann sie eine Augenbewegung zu dem Zielobjekt ausführten (Abb. 1).

Es zeigte sich, dass die Studenten im Mittel bereits 600 Millisekunden (ms) nach Beginn des Adjektivs und 1000 ms vor Beginn des Nomens auf das Zielobjekt schauten. Sie sagten also vorher, was das Zielwort sein würde, und richteten ihre Aufmerksamkeit entsprechend aus. Die Analphabeten schauten jedoch erst auf die Zielobjekte, wenn diese tatsächlich erwähnt wurden. Die Studenten (aber nicht die Analphabeten) benutzten also linguistische Informationen aus den gesprochenen Sätzen, um die Zielobjekte vorherzusagen (Abb. 2).

Alternative Interpretationen

Bedeutet das vielleicht nur, dass die Analphabeten Schwierigkeiten mit der Aufgabe hatten oder einfach nur unwillig waren, die Zielobjekte anzuschauen? Dies ist sehr unwahrscheinlich. Die Augenbewegungen der Analphabeten waren nämlich nicht zufällig oder ziellos. Sobald die Zielobjekte erwähnt wurden, schauten sie sie auch an. Genaue Analysen des Zeitverlaufs der Augenbewegungen zeigten, dass die Analphabeten die Augenbewegungen zum Zielobjekt planten, sobald sie den Anfang des Namens gehört hatten und das Zielobjekt identifizieren konnten. Analphabeten können also durchaus linguistische Informationen zum visuellen Orientieren benutzen. Sie benutzten diese linguistischen Informationen nur nicht, um das Zielobjekt vorherzusagen.

Man könnte auch meinen, dass die Analphabeten die Adjektive und Partikel vielleicht nicht auf dieselbe Weise verarbeiteten wie die Studenten. Vielleicht wussten sie einfach nicht, dass Adjektiv und Partikel mit dem Substantiv kongruieren. Auch diese Erklärung der Ergebnisse ist sehr unwahrscheinlich, weil die Analphabeten in ihren eigenen Äußerungen keine Kongruenzfehler machen. Im Experiment wurden einfache Aussagesätze verwendet (z.B. "Gleich werden Sie eine hohe Tür sehen"), wie sie alle Sprecher täglich hören und produzieren. Diese alternativen Erklärungen der Untersuchungsergebnisse können daher mit einiger Sicherheit ausgeschlossen werden.

Fazit

Huettig, Singh und Mishra schlagen deshalb vor, dass die Lesefähigkeit die unmittelbare Ursache der Antizipationsunterschiede ist. Die Daten legen nahe, dass Lesen und Schreiben lernen zur Feinabstimmung von antizipatorischen Wirkungsmechanismen führt, die auf der Vorhersage von semantischen, syntaktischen, und assoziativen Repräsentationen beruhen. In weiteren Untersuchungen soll nun festgestellt werden, warum Analphabeten den sprachlichen Kontext nicht in derselben Weise verwenden wie Hörer, die lesen können. Zunächst müssen Untersuchungen ausgeführt werden, in denen Gruppen von Versuchspersonen, die lesen können, und Gruppen, die nicht lesen können, besser hinsichtlich ihrer allgemeinen kognitiven Fähigkeiten vergleichbar sind als dies in den bisherigen Untersuchungen der Fall war. Des Weiteren muss festgestellt werden, welcher der vielen Prozesse, die beim Lesen stattfinden, das Verstehen gesprochener Sprache beeinflussen. Beim geübten Lesen wird per Zeiteinheit viel mehr Information aufgenommen als beim Verarbeiten gesprochener Sprache (ca. 250 vs. 150 Wörter/pro Minute). Um eine solch hohe Lesegeschwindigkeit zu erreichen, müssen Leser vermutlich häufig Wörter vorhersagen. Es könnte sein, dass sich diese Fertigkeit auf die Verarbeitung gesprochener Sprache überträgt.

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