Forschungsbericht 2010 - Bibliotheca Hertziana - Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte

Optisches Wissen in der Geschichte der Malerei

Autoren
Thielemann, Andreas
Abteilungen
Bibliotheca Hertziana - Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom
Zusammenfassung
Welche Verbindungen gibt es zwischen der Geschichte der Optik und der Geschichte der Malerei? Ein Forschungsprojekt an der Bibliotheca Hertziana in Rom (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) untersucht diese Frage und orientiert sich dabei an der Systematik der klassischen Optik, die seit der Spätantike als Lehre vom Sehen und vom Licht in drei Hauptgebiete unterteilt wurde: das direkte Sehen auf der Grundlage der geradlinigen Ausbreitung von Lichtstrahlen, die Spiegelung an reflektierenden Oberflächen und die Ablenkung von Lichtstrahlen an den Grenzflächen unterschiedlich dichter Medien.

Direktes Licht

Grundlegend für unsere Alltagswahrnehmung ist das direkte Sehen und das Erfassen aller Effekte, die mit der geradlinigen Ausbreitung des Lichtes verbunden sind. Dazu gehört auch das Interpretieren von Schatten, durch die wir die Umrisse und die Dreidimensionalität von Gegenständen richtig erfassen können. In der Theorie der Malerei wird die Nachahmung dieser Qualitäten des Sichtbaren seit der Renaissance mit den Begriffen des disegno und des rilievo bezeichnet und systematisch durchdacht. Doch bereits in der Antike wurden Umriss und Schattierung als zentrale Elemente der zweidimensionalen Darstellung begriffen. Außerdem beobachtete man schon damals, dass Schatten wegen der geradlinigen Ausbreitung des Lichtes ein regelrechtes Bild des beleuchteten Gegenstandes erzeugen können. Und so überliefert der römische Gelehrte Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. in seiner „Naturkunde“ eine Legende, der zufolge die Malerei erfunden wurde, als man anfing, solche Schatten von Menschen nachzuzeichnen und dauerhaft zu fixieren (Abb. 1).

Reflektiertes Licht

Um 1435 entwickelte der italienische Humanist Leon Battista Alberti in seinem Malereitraktat De pictura eine neue Ursprungslegende. Sie verbindet die Malerei auf mythisch-allegorische Weise mit dem Spiegelbild, das der Knabe Narziss von sich selbst in einer Quelle sah. Bei dieser Ausdeutung von Ovids Narziss-Legende wurde Alberti von philosophischen Argumenten geleitet, doch stellte er die Malerei damit zugleich in den Geltungsbereich jenes zweiten Teiles der Optik, in dem die Phänomene der Spiegelung behandelt werden. Der Spiegel als neuer Maßstab für malerische Abbildungstreue entsprach der Entwicklung von Perspektive und Naturalismus in der italienischen und niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts.

Tatsächlich bezeichnete Alberti an einer anderen Stelle seines Traktats den Spiegel als Richter des fertigen Werkes und forderte auch ganz praktisch, dass die nach der Natur gemalten Dinge noch durch das „Urteil des Spiegels“ verbessert werden müssen. Mit solch einer Kontrolle des gemalten Bildes durch einen in die Sehbahn eingeschobenen Spiegel hatte der italienische Architekt und Bildhauer Filippo Brunelleschi wenige Jahre zuvor in Florenz die von ihm entwickelte Linearperspektive in einem öffentlichen Experiment als „richtig“ erwiesen. In der Folgezeit hielten Spiegel als Instrumente der Kontrolle und des visuellen Experiments Einzug in die Ateliers der Maler. Leonardo da Vinci schrieb, die Oberfläche eines ebenen Spiegels enthalte „wahre Malerei“ und umgekehrt gleiche die „vollkommene Malerei“ der Oberfläche eines Spiegels. Selbst der Geist des Malers solle einem Spiegel gleich sein und sich wie dieser mit Ähnlichkeiten anfüllen.

Zielte diese Spiegel-Analogie und -praxis zunächst auf das Medium der Malerei als Ganzes, so intensivierte sich seit der Renaissance aber auch das Interesse an einer detaillierten malerischen Darstellung spiegelnder Gegenstände. Um die „spiegelnde“ Qualität der Malerei insgesamt zu steigern, war es notwendig, tiefer in die sekundären optischen Eigenschaften der darzustellenden Gegenstände einzudringen: sekundäre Beleuchtung durch Reflexion, farbiger Widerschein in Schattenzonen, Spiegelbilder auf Wasseroberflächen, Wandspiegeln, Rüstungen oder Silbertellern sowie diffuse Glanzlichter, die auf mehr oder weniger glatten Oberflächen aufblitzen.

Hier eröffnete sich eine ganze Welt neuer Beobachtungen: Leonardo da Vinci registrierte, dass die Schatten in den Gesichtern von Menschen einen stärkeren Gelbton aufweisen, wenn sie eine vom Regen aufgeweichte Straße passieren. Dies komme daher, „dass die durchnässten Straßen mehr ins Gelb gehen, als wenn sie trocken sind, und dass die Stellen des Gesichts, die der Straße zugekehrt sind, dann in das Gelb und die Dunkelheit der ihnen gegenüberliegenden Straße umgefärbt werden“. Auch Alberti beobachtete die Wirkung des reflektierten, farbigen Lichtes und notierte, dass die Gesichter von Menschen, die über eine grüne Wiese gehen, selbst einen grünen Schein annehmen. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts war das Interesse der Maler und Kunstliebhaber an den Effekten des reflektierten Lichtes so weit gediehen, dass der niederländische Maler und Kunsttheoretiker Karel van Mander in seinem Schilder-boeck (Harlem 1604) die reflexy-const als ein eigenes Wissens- und Praxisfeld der Malerei besprach.

Gebrochenes Licht

Demgegenüber gestaltete sich das Verhältnis zwischen der Malerei und dem dritten Teil der Optik schwieriger. Effekte der Lichtbrechung wurden in der Malerei wesentlich seltener dargestellt [2, 3], auch bot sich die Lichtbrechung, die beispielsweise zum scheinbaren „Abknicken“ von Gegenständen beim Übergang in Wasser führt (Abb. 2), nicht als Modell einer auf Abbildtreue orientierten Kunst an.

Und dennoch: Aus einem speziellen Gegenstand dieses dritten Teils der Optik entwickelte sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts ein neues Modell und Hilfsmittel für die Malerei: die Bildprojektion durch Linsen, die ein lebendes Bild der Außenwelt auf einen Schirm werfen. Als erster empfahl der italienische Universalgelehrte Giambattista della Porta in der zweiten Ausgabe seiner Magia naturalis von 1589 die mit einer Linse ausgestattete Camera obscura als Hilfsmittel für Maler, und zumindest seit dem 17. Jahrhundert ist dieser Gebrauch durch einzelne Maler tatsächlich belegt. Johannes Kepler beschrieb solch eine Bildprojektion auch am Beispiel einer runden, mit Wasser gefüllten Glaskaraffe. Dieser Alltagsgegenstand wirkt wie eine Bikonvexlinse und ist ebenfalls imstande, jene wunderbar leuchtenden Bilder zu projizieren, wenn auch weniger scharf (Abb. 3). Kepler bezeichnete sie in seiner Optik von 1604 gar als „Malerei“ (pictura) – als ob er geahnt hätte, dass sich diese projizierten Bilder eines Tages chemisch fixieren lassen und der Malerei Konkurrenz machen würden.

Von der Hockney-Debatte zur Wissensgeschichte der Optik

Der britische Künstler David Hockney vertrat die These, dass sich zahlreiche Maler bereits seit dem 15. Jahrhundert projizierter Bilder als Malhilfen bedient hätten, um ihren Bildern das bewunderte naturalistische Erscheinungsbild zu verleihen [1]. In zahlreichen Tagungen und Publikationen wurde diese These inzwischen einer genaueren Prüfung unterzogen. Auch wenn dabei nicht alle Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt werden konnten, zeigte sich, dass von einer optischen Geheimpraxis im großen Stile nicht die Rede sein kann. Geblieben ist von der Diskussion neben zahlreichen Einzelerkenntnissen aber die Aufgabe, Wechselbeziehungen zwischen der Entwicklung der Optik und der Geschichte der Malerei grundsätzlich aufzuarbeiten. Hierzu veranstaltete die Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom) im April 2010 einen internationalen Kongress, der diese breiter gelagerte Thematik unter dem Titel „Lumen – Imago – Pictura“ aufgriff.

Das Projekt einer Wissensgeschichte geht über die traditionellen Vorstellungen vom Erkenntnisvorsprung der Wissenschaften hinaus und betrachtet das gesamte Feld sich ergänzender und überlappender Formen des theoretischen und praktischen Wissens in Wissenschaft, Alltag, Kunst und Handwerk. Bei dieser Sichtweise wird schnell deutlich, dass etwa jene optischen Inszenierungen in der holländischen Stilllebenmalerei, die mit raffinierten Spiegelungen und Brechungen spielen (Abb. 4), in einem korrelativen Verhältnis zu den entsprechenden wissenschaftlichen Publikationen der Zeit stehen. Zahlreiche optische Effekte, die in den damaligen Lehrbüchern der Optik nur mühsam verstanden werden konnten, sind in diesen Malereien detailreich, farbig und anhand von dreidimensionalen Gegenständen dargestellt, sodass sie nach dem Kriterium der Evidenz einen geradezu wissenschaftlichen Charakter annehmen – und sei es im Modus von Spiel und visuellem Spektakel. Was diese Schaustücke an Faszination und Neugier auslösten, mag man gerade im Kontrast zu den formalisierten sprachlichen Protokollen und den vielfach nur schwer verstehbaren Strichzeichnungen der zeitgleichen Optik ermessen. Immerhin bekannte 1614 selbst ein Experte wie Galileo Galilei, dass er gewisse Passagen in Keplers Optik von 1611 kaum verstehe.

Experimentelle Analyse von Stillleben

Die nach optischen Prinzipien kalkulierten Anordnungen in Stillleben des 17. Jahrhunderts sind demnach mit den optischen Experimenten jener Zeit zu verbinden und im Wissenskosmos der sogenannten „Kunst- und Wunderkammern“ anzusiedeln. Nachdem die Kunstgeschichte in den Stillleben bereits die mehr oder weniger verborgenen moralphilosophischen Botschaften entzifferte, soziale Gehalte aufdeckte und Aspekte der virtuosen Demonstration würdigte, bedürfen nun die dargestellten optischen Phänomene einer eingehenderen Betrachtung. Die pauschale Erwähnung von Spiegelungen und Brechungen ist dafür nicht ausreichend, vielmehr müssen die Einzelphänomene, die in den Bildern häufig komplex verschränkt auftreten, wieder entflochten und zunächst einzeln identifiziert werden. Selbst die Ansicht eines halb gefüllten Weinglases ist mitunter so komplex ausgeführt worden, dass die Mehrfachspiegelungen und die Doppelansichten infolge von Brechungen selbst dann nur schwer zu durchschauen sind, wenn man die einschlägigen optischen Gesetzmäßigkeiten beherrscht.

Weder die klassisch-physikalische noch die ingenieurstechnische Optik hatten je Anlass, Lichtreflexe in kupfernen Kochkesseln oder den Lichtschimmer in Glaskaraffen genauer zu betrachten. Daher ist zwar die allgemeine Taxonomie der Phänomene vorhanden, doch wurde sie nicht zur Analyse an den fraglichen Alltagsobjekten eingesetzt. Ein weiterer Unterschied zur traditionellen physikalischen Optik besteht in der Komplexität der Inszenierungen, die eben nicht standardisierte Anordnungen und geometrische Grundformen bieten, sondern mit unterschiedlichsten Lichtverhältnissen und irregulär geformten Alltagsgegenständen arbeiten. Schnell wurde deutlich, dass eine Analyse am Schreibtisch nicht genügt, sondern der Ergänzung durchs Experiment bedarf. Hierzu wurde eine regulierbare Fensteröffnung gebaut, wie sie Leonardo da Vinci seinerzeit (in anderer Ausführung) für optische Experimente benutzte (Abb. 5). Mit derartigen Analysen lässt sich der Realitätsgehalt der jeweiligen Darstellung prüfen, und das hilft vielfach auch, den Ursprung spezieller Motive auszumachen und von bloßem Zitat beziehungsweise fehlerhafter Übernahme abzugrenzen. So ergeben sich über die Wissensgeschichte der Optik nicht nur Anschlüsse zu anderen Fächern, sondern auch Antworten auf genuin kunsthistorische Fragen nach Urheberschaft, Chronologie und Rezeptionsverlauf.

D. Hockney:
Secret knowledge: Rediscovering the lost techniques of the old masters.
Thames & Hudson, London 2001.

 

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