Proteomik – auf dem Weg zur Krebsprotein-Bibliothek

4. Februar 2011

Zehn Jahre nach der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes befindet sich die Wissenschaft vor einem neuen Meilenstein. Nun stehen die Gen-Produkte auf dem Programm: die Proteine. Nach den rund 21000 Genen rechnen die Wissenschaftler um Matthias Mann vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried mit etwa 12000 Proteinen, die in den Zellen des Menschen produziert werden. Ein gewaltiger Datenberg, zumal die Forscher im Gegensatz zur Analyse des Genoms nicht nur alle Proteine in den Zellen identifizieren wollen. Damit sie die Abläufe in einer Zelle verstehen können, müssen sie auch wissen, in welchen Mengen Proteine vorkommen und wie sie in den Zellen noch verändert werden.

Text: Harald Rösch

Was die Datenanalyse so anspruchsvoll macht und die an dem Projekt beteiligten Bioinformatiker vor besondere Herausforderungen stellt, bietet gleichzeitig die Chance, Erkrankungen sehr viel besser erklären zu können als bisher. Denn Proteine sind unverzichtbare Bausteine des Lebens, ohne die eine Zelle nicht überleben kann. Die riesigen Moleküle aus Aminosäure-Ketten sind deshalb auch an der Entstehung vieler Krankheiten beteiligt, wie z.B. Krebs. Krankhaft veränderte Proteine können dabei genauso zum unkontrollierten Wachstum von Zellen führen wie fehlende oder solche, die zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort gebildet werden.

Matthias Mann und seine Mitarbeiter haben eine Methode entwickelt, mit der sie viele Proteine auf einmal identifizieren können. Der Physiker und Mathematiker übernahm vor sechs Jahren die Leitung der Abteilung Proteomik und Signaltransduktion am Martinsrieder Institut. Die Forscher benutzen ein so genanntes Massenspektrometer, das die zuvor in kleinere Peptid-Fragmente zerstückelten und elektrisch geladenen Riesenmoleküle in einem elektrischen Feld nach ihrer Größe sortiert. Aus der Verteilung und der Stärke der Peptidsignale im Messgerät können die Forscher die Proteine und sogar deren Menge in den Proben rekonstruieren.

Davor müssen die Wissenschaftler aber überhaupt erst wissen, wonach sie suchen. Bislang sind nämlich nur relativ wenige Proteine bekannt, die für die verschiedenen Krebsarten typisch sind. Hier kommt Tami Geiger ins Spiel. Die Wissenschaftlerin aus Israel hat in den vergangenen drei Jahren eine Protein-Datenbank wichtiger Krebszell-Linien erstellt. Diese Bibliothek dient ihr als Referenz, mit der sie Gewebeproben von Patienten untersuchen kann. Damit die Forscherin beispielsweise Proben eines Gesunden und eines Krebspatienten vergleichen kann, versieht sie die Proteine mit besonderen Kohlenstoff- oder Stickstoff-Isotopen, die schwerer sind als die natürlich vorkommenden Atome. Aus der Signalstärke der markierten und unmarkierten Peptide im Massenspektrum kann Tami Geiger ablesen, ob ein Protein in Krebszellen stärker oder schwächer gebildet wird.

Mit Super-SILAC zum kompletten Protein-Inventar

Mit dieser als Super-SILAC bezeichneten Technik untersucht die israelische Forscherin, Gewebeproben von mehreren Hundert Brustkrebs-Patientinnen. Die individuellen Unterschiede zwischen den Patientinnen, die mit der Krebserkrankung nichts zu tun haben, fallen so nicht mehr ins Gewicht. „Übrig bleiben die Proteine, die sich zwischen gesunden und entarteten Zellen unterscheiden“, erklärt Tami Geiger. Ziel ist ein möglichst umfassender Katalog an Protein-Markern für Brustkrebs. Kollegen von Tami Geiger wiederum arbeiten an der Erstellung eines Katalogs für Dickdarm- und Prostata-Krebs.

In nicht allzu ferner Zukunft könnten Mediziner mit dieser Methode testen, ob eine Probe entartete Zellen enthält. „Dazu muss die Technik zuverlässig funktionieren, einfach zu bedienen, aber nicht zu teuer sein. Diese Ansprüche erfüllt sie schon weitest gehend. Bis sie sich aber in den Kliniken durchsetzt, können noch einige Jahre vergehen“, vermutet Matthias Mann.

Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur klinischen Anwendung ist Jacek Wisniewski zu verdanken. Der Chemiker hat ein Verfahren entwickelt, mit dem er Protein aus fixierten, also haltbar gemachten, Gewebeproben so aufbereiten kann, dass sie für die Massenspektrometrie verwendbar sind. Eine wichtige Voraussetzung für die Grundlagenforschung, denn so können Wissenschaftler die vielen Gewebeproben untersuchen, die weltweit in den Pathologie-Abteilungen von Kliniken lagern und die von Patienten mit bestens dokumentierter Krankheitsgeschichte stammen. “Anfangs wurden wir dafür belächelt - kaum jemand glaubte, dass man Formalin-getränkten Gewebeproben noch brauchbar Informationen über die Proteine entlocken könnte”, sagt Wisniewski lächelnd. Doch er blieb hartnäckig und widerlegte alle Zweifler. Inzwischen gibt es seine Methodik sogar fertig zu kaufen.

Proteomik gegen Genomik?

Was aber kann die Proteomik, was die Genomik nicht kann? „Gen-Analysen zeigen, ob eine bestimmte Gen-Variante vorhanden ist oder nicht. Im Gegensatz zur Protein-Analyse sagt sie nichts darüber aus, wie stark das Gen aktiv ist. Diese Information ist aber ungeheuer wichtig für das Verständnis von Lebensvorgängen und Erkrankungen“, so Matthias Mann.

Dies ist aber nicht der einzige Vorteil, den die Proteom- gegenüber der Genom-Analyse aufweist. Erkrankungen entstehen nämlich nicht nur, wenn Proteine in zu großer oder geringer Menge produziert werden. Damit sie Signale zwischen und innerhalb von Zellen weiter geben können, werden sie nachträglich mit verschiedenen Molekülanhängen versehen. So bestimmen beispielsweise Phosphat-Anhängsel, ob ein Protein als Enzym wirkt. Andere wiederum entscheiden, wohin ein Protein in einer Zelle transportiert wird oder ob es vom Aufräumdienst der Zelle abgebaut wird. Viele Erkrankungen werden durch solche fehlerhaften Veränderungen verursacht.

Im Massenspektrometer werden diese Modifikationen sichtbar. 2006 haben Matthias Mann und seine Kollegen an über 2200 Proteinen insgesamt 6600 Stellen nachgewiesen, die mit Phosphat-Anhängen versehen werden können. 90 Prozent dieser Phosphorylierungsstellen waren zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Nun wollen die Martinsrieder Forscher untersuchen, wie sich dieses Muster zwischen Krebszellen und gesunden Zellen unterscheidet.

Mediziner könnten also in Zukunft durch die Analyse der Zellproteine feststellen, wie hoch das Krebsrisiko eines Patienten ist oder ob Gewebe bereits Krebszellen enthält und diese Metastasen bilden können. Auch die Wirkung von Medikamenten ließe sich auf diese Weise voraussagen – möglicherweise genauer und eindeutiger als mit Gen-Analysen. Für Matthias sind beide Verfahren aber mehr wie die zwei Seiten einer Münze: „Sie schließen sich keineswegs aus und werden sich bei der Vorhersage und Behandlung von Erkrankungen ergänzen.“

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