„Nicht alles, was bei Tieren wirkt, wirkt auch beim Menschen“

Frank Bradke zur Regeneration von Rückenmarksverletzungen dank Paclitaxel

Herr Bradke, Sie haben heute im Fachmagazin Science zusammen mit Kollegen eine Studie veröffentlicht, in der sie Nervenzellen im Rückenmark von Ratten mit dem Wirkstoff Paclitaxel nach einer Verletzung zum erneuten Wachstum anregen konnten. Die Tiere konnten sich danach deutlich besser bewegen. Welche Bedeutung hat diese Entdeckung?

Bradke: Das wirklich Besondere an dem Wirkstoff Paclitaxel ist, dass er sowohl die durchtrennten Fortsätze von Nervenzellen wieder auswachsen lässt als auch die Bildung von Narbengewebe verringert. Beides hemmt normalerweise die Regeneration von Verletzungen im zentralen Nervensystem. Diese Doppelwirkung ist bislang von keinem anderen Wirkstoff bekannt. Wir können also durchaus von einem kleinen Durchbruch sprechen.

Wann könnten denn Patienten mit Gehirn- oder Rückenmarksverletzungen von ihrer Entdeckung profitieren?

Bradke: Wir stehen noch ganz am Anfang einer möglichen klinischen Anwendung. Einerseits handelt es sich bei Paclitaxel um einen Wirkstoff, der bereits seit Jahren gegen Krebs, z. B. Eierstock-, und Brustkrebs, eingesetzt wird. Seine Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind demnach gut bekannt. Außerdem haben wir Paclitaxel in viel geringerer Dosis eingesetzt als in der Krebsmedizin. All dies würde natürlich die klinische Entwicklung deutlich vereinfachen und verkürzen.

Auf der anderen Seite wissen wir aber noch gar nicht, ob überhaupt der Wirkstoff beim Menschen dieselbe Wirkung auf die Nervenzellen hat. Wenn wir alle Erkenntnisse aus Experimenten mit Tieren direkt übertragen könnten, gäbe es heute keine unheilbaren Erkrankungen mehr. Wir haben die Grundlagen und Mechanismen zunächst in der Zellkultur und nun in der Ratte untersucht. Nach diesen sehr viel versprechenden Ergebnissen muss jetzt untersucht werden, ob Paclitaxel auch bei anderen Tierarten, die mit dem Menschen näher verwandt sind als Ratten, ähnlich auf die Nervenzellen und das Narbengewebe wirkt. Außerdem ist noch völlig ungeklärt, wie lange nach einer Verletzung Paclitaxel wirkt. Meiner Einschätzung nach wird es bis zu einer möglichen Anwendung bei Patienten sicher noch zehn Jahre dauern.

Haben Sie Kontakte zu Pharma-Unternehmen, die die klinische Entwicklung übernehmen könnten?

Bradke: Bislang kaum, aber das wird sich nun sicher ändern. Das Patent für die Anwendung von Paclitaxel liegt bei Max-Planck-Innovation, der Wissenstransfer-Gesellschaft der Max-Planck-Gesellschaft. Die weitere Forschung daran bleibt jedoch davon völlig unberührt.

Was sind ihre nächsten Ziele?

Bradke: In der nun veröffentlichten Studie haben wir die Regeneration von Nervenzellen unmittelbar nach einer Verletzung untersucht. Eine wichtige Frage ist jetzt natürlich, ob Paclitaxel das Auswachsen der Axone auch dann noch ermöglicht, wenn die Verletzung schon länger zurück liegt. Außerdem wollen wir die Verbesserung der Bewegungsfähigkeit noch genauer analysieren. Dazu werden wir zusammen mit anderen Forschungsgruppen weitere Verhaltensexperimente durchführen.

Herzlichen Dank für das freundliche Gespräch!

Das Interview führte Harald Rösch.

 

 

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