Wachstumskur für Nervenzellen

Ein kaputter Nerv im Finger heilt, im Gehirn oder Rückenmark aber nicht. Frank Bradke und seine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried wollen auch die Nervenzellen des Rückenmarks dazu bringen, nach einer Verletzung wieder auszuwachsen.

Text: Frank Bradke und Stefanie Merker

Selbstheilung – diese Fähigkeit des Körpers hat mich schon immer beeindruckt. Ein Schnitt in den Finger zerstört Hautzellen, verletzt Muskeln und Gefäße und durchtrennt die Ausläufer von Nervenzellen. Das ist schmerzhaft, aber nicht weiter tragisch: Nervenzellen wachsen nach kurzer Zeit wieder aus, Muskeln und Gefäße werden neu aufgebaut und die Haut schließt sich über dem Schnitt.

Auch stärkere Verletzungen heilen so meist ohne größere Spuren zu hinterlassen, auch wenn die Zellen vielleicht durch einen Verband oder eine Schiene in die richtige Wachstumsrichtung gebracht werden müssen. Doch etwas stört an diesem Bild: Wenn der Körper über diese erstaunlichen Selbstheilungskräfte verfügt, warum setzt er sie dann nicht ein, wenn es um die Reparatur seiner empfindlichsten Systeme, des Gehirns und des Rückenmarks, geht?

Das Nervensystem wird in zwei Bereiche eingeteilt: Gehirn und Rückenmark bilden das Zentrale Nervensystem, während alle anderen Nerven, zum Beispiel die der Arme und Beine im Peripheren Nervensystem zusammengefasst werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Systemen liegt in ihrer Fähigkeit zur Regeneration. Anders als im Peripheren Nervensystem erholen sich die Nervenzellen des Zentralen Nervensystems kaum wieder von einer Schädigung.

Je nachdem, wo sich die lädierten Nervenzellen im Gehirn befinden, kann es zu vielfältigen, meist permanenten Beeinträchtigungen kommen. Unfälle mit Kopfverletzungen, Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Parkinson, aber auch ein Schlaganfall sind häufige Ursachen, die zu einem Zellsterben im Gehirn führen.

Werden Nervenstränge dagegen im Rückenmark stark gequetscht oder durchtrennt, so führt dies zu lebenslanger Querschnittslähmung. Je näher zum Hals die Verletzung auftritt, desto ausgedehnter ist die Lähmung. Eine Studie aus den USA hat ermittelt, dass alleine dort jährlich 8000 bis 11 000 Rückenmarksverletzungen mit einer Querschnittslähmung in Folge auftreten. Von diesen Patienten sind 47 Prozent an den Beinen und 52 Prozent an Armen und Beinen gelähmt. Oft sind Unfälle die Ursache für eine Rückenmarksverletzung; besonders häufig treten Querschnittslähmungen daher im Alter zwischen 16 bis 30 Jahren auf. Da die Betroffenen eine relativ normale Lebenserwartung haben, erhöht sich ihre Zahl weltweit von Jahr zu Jahr.

Stoppschilder im Nervennetz

Angesichts so vieler betroffener Menschen wird dringend nach einer Antwort gesucht, warum Nervenzellen des Zentralen Nervensystems nach einer Verletzung nicht wieder auswachsen. Für mich und viele meiner Kollegen ist es tatsächlich eine der spannendsten Fragen der modernen Neurobiologie. In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren gab es aufgrund intensiver Grundlagenforschung große Fortschritte auf diesem Gebiet. So wurden zum Beispiel eine ganze Reihe von Faktoren aus dem Umfeld der Nervenzellen gefunden, die das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen verhindern können.

Man kann sich diese Faktoren wie Stoppschilder vorstellen: Als guter Verkehrsteilnehmer stellt ein Zellfortsatz sein Wachstum ein, wenn er ein solches Stoppschild erreicht. Und genau hier liegt das Problem: Sobald das Nervensystem vollständig entwickelt ist, werden im zentralen Bereich überall solche Stoppschilder aufgestellt. Werden nun im erwachsenen Organismus die Nervenzellfortsätze im Rückenmark durchtrennt, so stehen diese vor einem Schilderwald. Solange diese Stoppschilder vorhanden sind, können die Zellfortsätze nicht weiter wachsen.  Damit kann aber auch der zu den Partnerzellen unterbrochene Kontakt nicht wieder hergestellt werden – Lähmungen sind die Folge.

Was wäre jedoch, wenn man die Nervenzellen zu etwas draufgängerischen Verkehrsteilnehmern machen könnte, die die Schilder einfach ignorieren und an ihnen vorbeiwachsen? Also in etwa so, wie das im alltäglichen Straßenverkehr immer wieder passiert. Ich habe mir jedoch nicht nur bei diversen Autofahrten Gedanken über diese Frage gemacht, denn sie ist das zentrale Thema meiner Arbeit am Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Hier untersuchen meine Arbeitsgruppe und ich die zellinternen Mechanismen, die für den Wachstumsstopp der Nervenzellen des Zentralen Nervensystems verantwortlich sind. Wir haben uns sozusagen auf die Suche nach der Bremse gemacht, durch die Zellen vor den Stoppschildern zum Stehen kommen. Unsere Hoffnung ist, dass wir diese Bremse langfristig lockern oder sogar lösen können.

Was passiert also in einem Zellfortsatz des Zentralen Nervensystems, wenn er sein Wachstum nach einer Verletzung einstellt? Man könnte meinen, dass die Nervenzellen vielleicht gar nicht in der Lage sind, nach einer Verletzung erneut auszuwachsen. Glücklicherweise gibt es Nervenzellen, deren Fortsätze sowohl ins Zentrale als auch ins Periphere Nervensystem reichen. Werden diese Zellen im peripheren Bereich verletzt, wachsen sie nach kurzer Zeit wieder aus – wie in unserem Beispiel mit dem Schnitt in den Finger.

Blick in den Wachstumskegel

Bei einer Verletzung im Bereich des Zentralen Nervensystems wächst der verletzte Fortsatz dieser Zellen nicht mehr aus. Wird dieselbe Zelle jedoch erst im peripheren und dann im zentralen Bereich verletzt, dann kann sie auch im Zentralen Nervensystem wieder auswachsen. Diese Beobachtungen zeigen, dass sich Nervenzellen des Zentralen Nervensystems im Prinzip von einer Verletzung erholen können.

Um zu verstehen, warum die Zellen nach einer Schädigung trotzdem nicht nachwachsen, ist es hilfreich, sich zunächst den Aufbau und die Entwicklung von Nervenzellen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Eine typische Nervenzelle besteht aus einem Zellkörper und einer Reihe von Fortsätzen. Aus diesen können sich je nach Zelltyp Axone und/oder Dendriten entwickeln. Ein Axon leitet eingehende Informationen wie ein langes Kabel an entfernt liegende Nervenzellen weiter; Dendriten sammeln mit ihren feinen Verästelungen die Informationen von vielen verschiedenen Nervenzellen ein. Die von den Dendriten kommenden Einzelinformationen werden verrechnet, und das Ergebnis wird dann wiederum durch ein Axon an andere Zellen weitergegeben. Bei Verletzungen sind es häufig die Axone, die durchtrennt werden, sodass dem Wachstum dieser Verbindungskabel besondere Bedeutung zukommt.

An der Spitze eines zum Beispiel bei einer jungen Nervenzelle auswachsenden Axons befindet sich ein sogenannter Wachstumskegel – und der hat es in sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Hier finden sich ganz spezielle Gene und Proteine, die es dem Axon ermöglichen, zwischen Tausenden von Nervenzellen den Weg zur richtigen Partnerzelle zu finden.

Außerdem enthält der Wachstumskegel eine große Ansammlung von Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen, und parallel gebündelte Mikrotubuli, um das Auswachsen des Axons überhaupt zu ermöglichen. Mikrotubuli sind winzige Protein- Röhrchen, deren koordiniertes Vorstoßen zur Verlängerung des Axons führt. Auf unserer Suche nach der zellinternen Bremse erschienen die Mikrotubuli daher als ein sehr vielversprechender Forschungsansatz. Vielleicht könnte man die Mikrotubuli ja auch dazu bringen, ein verletztes Axon an den Stoppsignalen vorbeiwachsen zu lassen?

Wird ein Axon im Peripheren Nervensystem durchgeschnitten, so bildet sich an seiner Spitze ein Wachstumskegel – ganz wie bei einer jungen Zelle – und das Axon wächst erneut aus. Auch im Zentralen Nervensystem bildet sich an der verletzten Axonspitze eine Verdickung. Anders als beim Wachstumskegel zeigt diese Verkürzungsknolle jedoch keinerlei Bestreben zum Weiterwachsen. Im Gegenteil: Wir haben beobachtet, dass sich die Verkürzungsknolle in den Wochen nach der Verletzung weiter aufbläht und dann jegliches Wachstum auf unbestimmte Zeit einstellt.

Taxol stabilisiert Mikrotubuli

Was passiert in dieser Verkürzungsknolle und was verhindert das Weiterwachsen des Axons? Diese Fragen sind essenziell für das Verständnis der Wachstumsbremse im Zentralen Nervensystem. Lange Zeit war es gar nicht möglich, die Bildung von Verkürzungsknollen direkt zu beobachten. Unsere Arbeitsgruppe war eine der ersten, die diesen spannenden Fragen auf den Grund gegangen ist. Denn die großen Fortschritte der letzten Jahre in der Genetik haben nach und nach eine Vielzahl neuer Methoden und Analysen hervorgebracht.

So ist es seit Kurzem möglich, einzelne Nervenzellen mithilfe des grün fluoreszierenden Proteins (GFP, englisch green f uorescent protein) zu markieren. Dies hat die Neurobiologie revolutioniert: Wissenschaftler stehen nicht mehr vor einem Gewirr aus Tausenden gleich aussehenden Nervenzellen, sondern können ganz gezielt einzelne Zellen oder Zellkomponenten markieren und erforschen. Auch für meine Arbeit war die Entdeckung von GFP ein Glücksfall, denn nun konnten wir die Vorgänge in der Verkürzungsknolle sichtbar machen.

Mein Mitarbeiter Ali Ertürk fand heraus, dass knapp eine Stunde nach einer Verletzung eine Verkürzungsknolle zu erkennen ist. Während sie in den folgenden Stunden langsam anschwillt, sammeln sich in ihrem Inneren – ähnlich wie bei einem Wachstumskegel – Mitochondrien. Mit diesen zellulären Kraftwerken vor Ort ist es eher unwahrscheinlich, dass der Wachstumsstopp durch einen Mangel an Energie ausgelöst wird. Richtig spannend wurde es jedoch, als wir uns die Mikrotubuli ansahen. Normalerweise wie ein Schienennetz für den Zugverkehr sehr regelmäßig und parallel angeordnet, waren sie in den Verkürzungsknollen völlig durcheinandergeraten. Kein Wunder, dass hier nichts mehr vorwärtsgeht!

Doch sind es wirklich die verstreuten Mikrotubuli, die das Weiterwachsen des Axons verhindern? Um dies zu überprüfen, haben wir den Wirkstoff Nocodazole eingesetzt. Dieser wird in der Zellbiologie häufig verwendet, um Mikrotubuli zu destabilisieren. Und tatsächlich: Wenn wir Nocodazole in einen Wachstumskegel einbrachten, entstand daraus eine Verkürzungsknolle, und das Axon stellte sein Wachstum ein. Das war der Beweis, dass das Durcheinander der Mikrotubuli in der Verkürzungsknolle eine der Hauptursachen für den Wachstumsstopp des Axons ist. Nach diesem Ergebnis lag die nächste Frage auf der Hand. Was, wenn wir anstatt Nocodazole ein Mittel einsetzen, dass die Mikrotubuli stabilisiert?

Für diese Untersuchungen bot sich das Mittel Taxol an. In der Krebstherapie führt die Mikrotubuli- stabilisierende Wirkung von Taxol dazu, dass sich Krebszellen nicht mehr teilen können. In unseren Versuchen zeigte Taxol ebenfalls sehr ermutigende Effekte. So gelang es Harald Witte, einem Doktoranden meiner Gruppe, einer jungen Zelle die Entscheidung abzunehmen, welcher ihrer Fortsätze zum Axon wird. Durch Zugabe von Taxol konnten die Mikrotubuli jedes beliebigen Fortsatzes stabilisiert werden, wodurch dieser Fortsatz zum Axon auswuchs.

Nicht behandelte Fortsätze entwickelten sich zu Dendriten. Injizierten wir das Mittel nun im lebenden Organismus nach einer Verletzung direkt in die Axonspitze, so wurde die Ausbildung der Verkürzungsknolle unterdrückt. Mehr noch: Meine Mitarbeiterin Farida Hellal konnte in Versuchen mit Zellkulturen zeigen, dass verletzte Nervenzellen des Zentralen Nervensystems mit Taxol wieder auswachsen können – und das, selbst wenn wir zur Umgebung der Nervenzellen „Stoppzeichen“- Moleküle zugaben!

Eine Barriere aus Narbengewebe

Die Ergebnisse dieser Studien stimmen uns zuversichtlich. Wir haben in relativ kurzer Zeit eine Menge über die Vorgänge in der Verkürzungsknolle erfahren. Auch kennen wir nun einen der Gründe, warum verletzte Axone des Zentralen Nervensystems nicht weiterwachsen können. Die nächsten Schritte sind nun, herauszufinden, ob Taxol seine Wirkung auch im lebenden Organismus beibehält. Außerdem muss eine Methode zur Darreichung und die richtige Dosierung gefunden werden. Denn zu viel Taxol unterdrückt die Dynamik der Mikrotubuli, sodass Axone nicht richtig auswachsen können. Diese Schwierigkeiten müssen zunächst im Labor und dann in klinischen Studien geklärt werden.

Langfristig denke ich jedoch, dass die Mikrotubuli-Stabilisierung ein vielversprechender Ansatz ist, um die Regeneration von Axonen des Zentralen Nervensystems zu verbessern. Bis die Medizin jedoch in der Lage sein wird, Querschnittslähmungen zu heilen, werden wohl noch einige Jahren ins Land gehen. Denn nach wie vor ist der Einfluss anderer Faktoren wie zum Beispiel des Nerven- Narbengewebes noch kaum bekannt. Dieses Narbengewebe schützt die Zellen zunächst vor weiteren Verletzungen, doch es bildet auch eine Art Mauer, die das erneute Auswachsen der Zellen behindert. Wie die Bildung des Narbengewebes reduziert werden kann oder wie die Nervenzellen nicht nur die Wachstums- Stoppschilder ignorieren, sondern auch diese Narbenmauer durchbrechen können, sind einige der Fragen, denen wir als Nächstes nachgehen werden.

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