„Wir wissen viel zu wenig über Migration“

Führende Migrationsforscher richten Appell an die Forschergemeinschaft und die Politik

In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Science“ fasst Frans Willekens, Migrationsexperte am Max-Planck-Institut für demografische Forschung, gemeinsam mit drei weiteren Migrationsexperten den aktuellen Stand des Wissens um die weltweiten Migrationsströme zusammen. Die Wissenschaftler liefern ein eher ernüchterndes Bild. Zum einen zeigen sie auf, dass der aktuelle Wissensstand in Sachen Migration sehr begrenzt ist. Und zwar so begrenzt, dass wir ihn nicht heranziehen können, um Entscheidungen für den Umgang mit den aktuellen Migrationsströmen fällen zu können. Zum anderen macht die Zusammenfassung sichtbar, dass dieses fehlende Wissen dazu geführt hat, ein falsches Bild von dem Ausmaß der aktuellen Migrationen entstehen zu lassen.

Es gibt einzelne wissenschaftliche Untersuchungen, die ein differenziertes Bild aufzeigen: So lebten 2015 nur 3,3 Prozent der Weltbevölkerung, also rund 240 Millionen Menschen, in einem anderen Land als ihrem Geburtsland. Insgesamt sind die weltweiten Migrationsbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten eher moderat gewesen. „Europa hat natürlich in den vergangenen zwei Jahren einen starken Zustrom von Flüchtlingen erfahren. Gemessen an der Weltbevölkerung ist die Zahl der Menschen, die nach Europa kommen, immer noch gering“, sagt Willekens. Dieser Zustrom zeige aber, was Globalisierung bedeute und dass Deutschland und Europa dringend eine Haltung angesichts dieser zunehmend vernetzten Welt finden müssen, so der Wissenschaftler.

Die Forscher stellen zudem fest, dass von den Behörden diejenigen, die das Land wieder verlassen, zahlenmäßig kaum erfasst werden. “Diese unvollständigen Informationen führen dazu, dass sowohl die Zahl der Flüchtlinge, als auch die Zahl der hier lebenden Einwanderer im Allgemeinen überschätzt werden“, fasst Migrationsexperte Willekens zusammen.

Migration verändere sowohl die Ziel- als auch die Herkunftsländern, so die Wissenschaftler. In den Zielländern nehme die sozio-kulturelle Vielfalt zu. Auf diese neue Vielfalt müsse eine politische Antwort gefunden werden, die über reine Integrationsmaßnahmen hinausgeht. Und die Herkunftsländer müssten sich gerade auch mit den Folgen des Weggangs vieler gebildeter Menschen beschäftigen.

Forderung nach weltweiten Erhebungen

„Insgesamt wissen wir aber viel zu wenig über Migration, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Das größte Manko sind die Daten“, sagt Willekens. In ihrem Artikel richten er und seine Kollegen Douglas Massey (Office of Population Research, Princeton University, Princeton, USA), James Raymer (School of Demography, Australia National University, Canberra, Australia) und Cris Beauchemin (Institut National d’Études Démographiques, Paris, France) deshalb einen Appell sowohl an die Forschergemeinschaft als auch an die Politik. Sie nennen vier zentrale Punkte, die ihrer Meinung nach umgesetzt werden müssen:

1. Die Statistikämter weltweit müssen besser miteinander kooperieren. Die Daten müssen entsprechend der Empfehlungen der Vereinten Nationen vergleichbar und einfach zugänglich sein.

2. Für Europa wurden passende wissenschaftliche Methoden bereits entwickelt, mit denen man die Migrationsströme untersuchen kann. Diese Methode könnte man auch zur Analyse weltweiter Migrationsströme nutzen - vorausgesetzt, die Daten wären vorhanden.

3. Die Experten empfehlen außerdem, eine regelmäßige weltweite Erhebung zur Migration einzuführen (World Migration Survey), in der Daten in den Herkunftsländern, den Ankunftsländern und den Transitländern erhoben werden. Vergleichbar große Programme hat es bereits in der Vergangenheit gegeben, wie zum Beispiel das World Fertility Survey. Darin wurden Daten zur Fertilität in der ganzen Welt gesammelt. Es wurde in den Siebzigerjahren angesichts der explodierenden Weltbevölkerung eingeführt. Das Programm hat maßgeblich zu dem umfangreichen Wissen beigetragen, mithilfe dessen heute bevölkerungspolitische Maßnahmen geplant werden können.

4. Migration und Diversität müssen in der universitären Lehre mehr Platz bekommen. Ziel ist es, Menschen auszubilden, die in der Lage sind die Datensammlung zu begleiten und aus den Ergebnissen politische Handlungsempfehlungen abzuleiten.

SL/MEZ

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