Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Defekte Zellteilung: Wie die Zelle Fehler ausgleicht

Autoren
Norden, Caren; Dzafic, Edo; Strzyz, Paulina J.
Abteilungen
The retina as a model to explore the cell biology of morphogenesis – from pseudostratified neuroepithelium to complex neuronal tissue (Caren Norden)
Zusammenfassung
Die Teilung von tierischen Zellen verläuft nicht immer fehlerfrei; mit teilweise fatalen Folgen für die Entwicklung eines Organismus. Positioniert sich bei der Teilung von Netzhaut-Vorläuferzellen der Zellkern nicht im oberen Teil der Zelle können sich die entstehenden Tochterzellen nicht problemlos in das Gewebe integrieren. Werden die Bestandteile des Zentrosoms, das die Zellteilung organisiert, nicht richtig dupliziert, kommt es zu Fehlteilungen. Caren Norden und ihre Arbeitsgruppe untersuchen die zellbiologischen Mechanismen, die in der Entwicklung des Auges eine Rolle spielen.

Wir nehmen unsere Umwelt zum größten Teil mit unseren Augen wahr: Rund 80 Prozent aller Informationen liefert der Sehsinn. Ein wichtiger Teil des visuellen Systems ist die Netzhaut mit den lichtempfindlichen Sehzellen. Die Forschungsgruppe von Caren Norden am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) stellt sich die Frage, wie einzelne Zellen und ihr Verhalten dazu beitragen, ein komplexes System wie die Netzhaut zu bilden.

Das Hauptziel der Gruppe ist es zu verstehen, welche zellbiologischen Mechanismen die Entwicklung des Zebrafischauges (Abb. 1) beeinflussen. Dabei liegt der Fokus darauf, wie sich aus Augenbläschen ein Neuroepithelium, also ein Gewebe aus Nervenzellen entwickeln kann und wie sichergestellt wird, dass genau die richtige Anzahl an Vorläuferzellen die genau richtige Anzahl an Nervenzellen produziert. Zudem wollen die Forscherinnen und Forscher entschlüsseln, welche Nervenzellen wo genau im Gewebe entstehen und wie sie an den Ort wandern, an dem sie dann ihre Funktion erfüllen. Damit spannt sich die Arbeit der Gruppe von der zellulären Ebene bis hin zur Gewebeebene und will ein umfassendes Verständnis der Entwicklung der Netzhaut in Wirbeltieren erreichen.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Zwei Studien der Forschungsgruppe aus dem Jahr 2015 beschäftigen sich mit der Zellteilung von Netzhaut-Vorläuferzellen. Die Wissenschaftler stellen sich dabei vor allem die Fragen: "Welche Fehler können auftreten?" und "Wie gleichen Zelle und Gewebe Fehlentwicklungen aus?" Eine Studie in der Fachzeitschrift Developmental Cell [1] beleuchtet die Frage, warum der Zellkern in Netzhaut-Vorläuferzellen des Zebrafisches zur Zellteilung verlässlich innerhalb der Zelle zur apikalen Seite, also nach oben wandert. Seit 1935 ist bekannt, dass sich in den länglichen Zellen von Neuroepithelien der Zellkern nach oben bewegt, wenn eine Zellteilung ansteht.

Caren Norden's Team und andere Gruppen haben in vergangenen Studien bereits erforscht, wie dieser Vorgang mechanisch funktioniert. Eine Erklärung, warum das so ist und wie dieser Prozess ausgelöst wird, gab es allerdings noch nicht. Also schauten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genauer an, wie sich die länglichen Netzhaut-Vorläuferzellen in Zebrafisch-Embryonen verhalten. Die Zellen teilen sich immer wieder in zwei weitere Vorläuferzellen, bis sich ein genügender Vorrat angesammelt hat. In dieser Phase, so die Beobachtung, ist es besonders wichtig, dass sich der Zellkern an der apikalen Seite teilt. In späteren Phasen der Netzhautentwicklung, wenn sich aus dem Pool an Netzhaut-Vorläuferzellen verschiedene spezialisierte Neuronen der Netzhaut gebildet haben, werden Zellkernteilungen auf der nicht-apikalen Seite besser vom Gewebe toleriert und ausgeglichen.

Mit aller Macht nach oben

Die Ergebnisse zeigen, dass die Zelle alles dafür tut, damit sich der Zellkern bei der Zellteilung im oberen Bereich befindet. Selbst wenn der Zellkern schon anfängt, sich zu teilen, bewegt er sich während seiner eigenen Teilung schnell nach oben, um zur Teilung der gesamten Zelle an der richtigen Stelle zu sein. Der Prozess der Zellkernteilung wird durch ein Protein im Zellkern, die Zellzyklus-abhängige Kinase 1 (CDK1), ausgelöst. Sobald die Zellkernteilung in Gang kommt, ist der Teilungsprozess unumkehrbar.  

„Wir Biologen nennen das einen robusten Prozess“, erklärt Norden. Gemeinsam mit ihrem Team konnte die Wissenschaftlerin zeigen, dass die Wanderung des Zellkerns zur apikalen Seite der Zelle die Unversehrtheit von Gewebe gewährleistet und damit einen wichtigen Schritt zur Gewebereifung darstellt. Wenn sich der Zellkern während der Teilung nicht oben befindet, ist es den Tochterzellen, die nach einer Teilung entstehen, unmöglich, sich wieder richtig in das Gewebe einzufügen. „Die Zellen landen zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie sind verloren in Raum und Zeit“, erklärt Caren Norden die Folgen. Es können sich Zellklumpen bilden und die weitere Entwicklung der noch so jungen Netzhaut kommt aus dem Tritt. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Integration nur an dieser Stelle möglich ist. Eine erfolgreiche Integration der Tochterzellen in das Gewebe ist somit unabdinglich für den richtigen Aufbau des Gewebes. Damit haben die Forscher einen weiteren zellbiologischen Prozess gefunden, der zu einer gesunden Netzhautentwicklung beiträgt.

Mit dem Fehler leben

In einer zweiten Studie aus dem Oktober 2015 schaute sich die Forschungsgruppe an, wie die Zellen mit fehlerhaft verdoppelten Zentrosomen umgehen. Das Zentrosom ist ein Zellorganell, das die Zellteilung organisiert. Es besteht aus zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Zentriolen, zylinderförmigen Strukturen, die in einer Proteinmatrix eingebettet sind. Vor der Teilung des Zellkerns verdoppeln sich die Zentrosomen zeitgleich mit der DNA und trennen sich nach ihrer Verdoppelung, um zu entgegengesetzten Polen der Spindel zu wandern. Dies ist wichtig, um genetisches Material gleichmäßig zwischen den zwei Tochterzellen zu teilen. Nach der Kern- und Zellteilung erhält dann jede Tochterzelle eines der beiden Zentrosomen. Die Duplizierung der Zentrosomen läuft nicht immer fehlerfrei ab: Wenn eine Zelle zu viele Zentriolen hat, werden mehr als zwei Zentrosomen gebildet, was zu Fehlentwicklungen bei der Zellteilung und zu einer ungleichmäßigen Verteilung des genetischen Materials führt. Mit fatalen Folgen: Zu viele Zentrosomen stehen im Verdacht, Ursache für Krankheiten wie Krebs oder Mikrozephalie, eine Fehlbildung des Gehirns, zu sein. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Norden konzentrierten sich in ihrer Studie nun auf die Reaktion einzelner Zellen auf solche fehlerhaften Vervielfältigungen des Zentrosoms im lebenden Organismus. Dazu wählten sie als Versuchsmodell, wie bereits in der vorangegangenen Studie den Zebrafisch. Als Embryo ist dieses Tier durchsichtig und man kann das wachsende Fischei einfach beobachten und problemlos in die Zellen hineinschauen, ohne den Fisch  aufwändig präparieren zu müssen.

Zelltod und Fehlentwicklungen

Sie beobachteten, dass im sich entwickelnden Nervensystem der Zebrafischretina zu viele Zentriolen zu Zellen mit zwei Zellkernen führen können. Die meisten dieser zweikernigen Zellen sterben dann ab und verursachen Fehlbildungen im Gewebe des retinalen Neuroepithels. Diese Fehlbildungen bewirken den Tod einzelner Zellen und führen zu Fehlern in der Netzhautentwicklung. Allerdings reagiert nicht jedes Gewebe so empfindlich auf Zellen mit zwei Zellkernen wie das Neuroepithel: Hautzellen beispielsweise tolerieren Zellen mit zwei Zellkernen und  sterben nicht ab. Im Neuroepithlel aber überleben Zellen mit zwei Zellkernen nicht. Andere Zellen, bei denen es eine fehlerhafte Verteilung des genetischen Materials gibt, die aber nur einen Zellkern haben, überleben jedoch, was die Forscher überraschte. Demzufolge scheint eine fehlerhafte Genomverteilung bei der Zellteilung von Neuroepithelzellen nicht immer automatisch zum Zelltod zu führen, sondern vornehmlich die Bildung von zwei Zellkernen. Das Risiko, dass sich bei der Zellteilung Tochterzellen mit zwei Zellkernen bilden und dann absterben, wiederholt sich bei jeder Zellteilung neu. Damit sind zu viele Zentriolen und Zentrosomen für Vorläuferzellen in den frühen Entwicklungsstadien der Retina des Zebrafisches besonders folgenschwer, da sie noch viele Zellteilungen bis zur Ausdifferenzierung in einen bestimmten Zelltyp durchlaufen müssen und mit höherer Wahrscheinlichkeit eine zweikernige Zelle gebildet wird. Zellen, die sich bereits in der Differenzierung befinden, werden von zu vielen Zentriolen nicht beeinträchtigt und entwickeln sich meist normal weiter.

Teamarbeit der Zellen

Die Forscher und Forscherinnen beobachteten eine interessante Reaktion des Gewebes auf den Zelltod der defekten Zellen: Wildtyp-Zellen, die von der Störung durch zu viele Zentriolen nicht betroffen sind, vermehren sich einfach stärker um mehr Vorläuferzellen zu bilden und so den Verlust der Zellen zu kompensieren. Damit können einige Fehlbildungen im Retinagewebe ausgeglichen werden. Diese Ergebnisse zeigen, dass es für den Organismus außerordentlich wichtig ist, ein normal organisiertes Gewebe zu bilden. Zusammenfassend stellt die Forschungsgruppe in ihrer Studie fest, dass überzählige Zentriolen nicht immer Auslöser für das Auftreten von Krebs während der Entwicklung sind. Jedoch ist es möglich, dass erwachsenes Gewebe eher anfällig für Krebs ist, wenn in frühen Entwicklungsstadien zu viele Zentriolen in der Zelle aufgetreten sind.

Literatur

Paulina J. Strzyz, P. J.; Lee, H. O.; Sidhaye, J.; Weber, I. P.; Leung, L. C.; Norden, C.
Interkinetic Nuclear Migration Is Centrosome Independent and Ensures Apical Cell Division to Maintain Tissue Integrity
Developmental Cell 32, 203-219 (2015)
Dzafic, E; Strzyz, P. J.; Wilsch-Bräuninger, M.; Norden, C.
Centriole amplification in zebrafish affects proliferation and survival but not differentiation of neural progenitor cells
Cell Report 13, 168-182 (2015)
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