Max-Planck-Gesellschaft führt Gesamtrevision ihrer Präparate-Sammlungen durch

14. März 2016

Die Untersuchungen zu den im Frühjahr 2015 wiederentdeckten menschlichen Hirnschnitten aus dem Nachlass des Arztes und Hirnforschers Julius Hallervorden im Archiv in Berlin haben den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft jetzt veranlasst, eine Gesamtrevision an allen Max-Planck-Instituten zu verfügen, die Sammlungen von Humanpräparaten besitzen. Erste Stichproben am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München hatten ergeben, dass sich in der Sammlung des Instituts noch Hirnschnitte befinden, die eigentlich 1990 auf dem Waldfriedhof hätten beigesetzt werden sollen. Die Max-Planck-Gesellschaft wird darüber hinaus ein Projekt zur Opferforschung vergeben, um anhand der vorliegenden Akten und Unterlagen die Identitäten der Opfer festzustellen. Die im Rahmen der Gesamtrevision als belastet ermittelten Humanpräparate sollen – anders als noch 1990 –, soweit möglich mit Namen nachbestattet werden.

Erst Ende der 1980er-Jahre entschied sich die Max-Planck-Gesellschaft auch aufgrund politischen Drucks zu einer Untersuchung der Präparate-Sammlungen an den Standorten in München, Köln und Frankfurt. Es folgte 1989 der Beschluss, alle Präparate aus der NS-Zeit, deren Herkunft nicht einwandfrei als unbedenklich erklärt werden konnte, zu identifizieren und zu bestatten. Dabei handelte es sich unter anderem um Hundertausende, meist mikroskopischer Hirnpräparate von mutmaßlichen Opfern der sogenannten „Euthanasie“-Aktion. Diese in der NS-Zeit hergestellten Präparate wurden offenbar noch weit nach 1945 in Forschung und Lehre eingesetzt. Die große Mehrheit der Wissenschaftler hatte dabei keine oder zu wenig moralische Bedenken.

Während das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt beschloss, sich von sämtlichen zwischen 1933 und 1945 entstandenen Präparaten zu trennen, entfernte man am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München nur etwa 30 Prozent der auf Grund der Aktenlage eindeutigen bzw. prekären Fälle aus der Sammlung. Die Beisetzung der Präparate erfolgte auf dem Münchner Waldfriedhof. In einer Gedenkveranstaltung am 25. Mai 1990 wurde der Opfer gedacht und ein Gedenkstein enthüllt. Historiker, wie der britische Forscher Paul Weindling von der Oxford Brookes University, kritisieren heute zu Recht, dass damals keine Dokumentation der Herkunft der Präparate und keine Klärung der Identitäten der Opfer erfolgte (Pressemitteilung vom 30. Oktober 2015 www.mpg.de/9720585/).

Offenbar wurden 1990 jedoch nicht alle Hirnschnitte in Frankfurt entdeckt und beigesetzt. Etwa 100 Präparate zu 35 Fällen aus den Jahren 1938 bis 1967 gelangten erst 2001 mit einer Abgabe des Neurologischen Instituts (Edinger-Institut) am Universitätsklinikum Frankfurt in das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft. Bei der Übergabe wurde zwar eine Prüfung und Kategorisierung der Schnitte vorgenommen, der notwendige Handlungsbedarf aber nicht erkannt, wie die Max-Planck-Gesellschaft bereits im Frühjahr 2015 berichtete (Pressemitteilung vom 9. April 2015; www.mpg.de/9154143/).

Die vom Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann angeordnete Untersuchung ergab, dass die 2001 vorgenommene Kategorisierung der Hirnschnitte zu oberflächlich erfolgt war. Tatsächlich konnten einzelne Hirnschnitte eindeutig „Euthanasie“-Opfern zugewiesen werden, wie auch Recherchen im Bundesarchiv bestätigten. Weil ferner zwei Hirnschnitte sowie Fotografien der Schnitte innerer Organe und in einem Fall der neuropathologische Befund zwischen 2001 und 2009 verschwunden waren, stellte die Max-Planck-Gesellschaft im Mai 2015 Strafanzeige gegen Unbekannt. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat jedoch darauf verzichtet, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, da ein etwaiger Diebstahl oder eine Unterschlagung bereits verjährt sind und es zudem keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung gibt.

Stichproben im Rahmen der Untersuchung am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München förder­ten weitere Hirnschnitte zutage, die eigentlich 1990 auf dem Waldfriedhof hätten beigesetzt werden müssen. Vor diesem Hintergrund hat Präsident Martin Stratmann eine Präsidentenkommission unter der Leitung von Prof. Heinz Wässle (emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung) eingerichtet; sie soll eine Gesamtrevision vorbereiten und Experten dafür identifizieren. Alle Max-Planck-Institute mit Sammlungen von Humanpräparaten wurden Mitte Februar schriftlich gebeten, den Experten unbeschränkten Zugang zu den Sammlungen samt den dazugehörigen Unterlagen zu gewähren und sie aktiv zu unterstützen. „Die Max-Planck-Gesellschaft trägt hier eine besondere ethische Verantwortung“, so der Präsident, „deshalb sollten wir mit allen Humanpräparaten verantwortungsvoll umgehen und ihre Entstehung kritisch hinterfragen.“

Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie fand auf Drängen der dortigen Direktoren bereits eine erste Begehung statt. Dabei wurden sowohl Hirnschnitte als auch Nasspräparate gefunden, die schon in den 1990er-Jahren von dem Tübinger Neuropathologen Jürgen Peiffer als Verdachtsfälle der NS-Euthanasie eingestuft worden waren und laut einer von einer damaligen Mitarbeiterin des Instituts zusammengestellten Liste als bestattet geführt wurden. Peiffer hatte damals begonnen, die Beteiligung von Hirnforschern an der NS-Euthanasie aufzuarbeiten. Diese wurde 1997 durch die von Max-Planck-Präsident Hubert Markl eingesetzte unabhängige Forschungskommission „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ umfassend dokumentiert.

Die Präsidentenkommission hat unterdessen empfohlen, Prof. Dr. Gerrit Hohendorf von der TU Mün­chen mit der Supervision der Gesamtrevision zu betrauen. Der Medizinhistoriker und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist aufgrund seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeiten mit dem Thema sehr vertraut. Er war unter anderem federführend in dem DFG-Projekt “Wissenschaftliche Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ‘Euthanasie’-Aktion ‘T4’. Aufgrund der Vielzahl der Präparate wird die Gesamtrevision einige Zeit in Anspruch nehmen.

Sämtliche im Rahmen der Gesamtrevision sichergestellten Humanpräparate, die im Zusammenhang mit der verbrecherischen Forschung im Dritten Reich stehen, sollen würdig nachbestattet werden. In diesem Zusammenhang soll auch die Inschrift auf der Stele am Waldfriedhof überarbeitet werden. „Wir müssen uns zu unserer Verantwortung bekennen“, erklärt Martin Stratmann und betont: „Es ist unsere Pflicht, den Toten wieder eine Identität zu geben.“ Daher wird die Max-Planck-Gesellschaft in den kommenden Monaten ein Projekt zur Opferforschung vergeben, um anhand der vorliegenden Akten und Unterlagen so zweifelsfrei wie möglich die Identitäten der Opfer zu ermitteln.

Diese Untersuchungen stehen auch in Zusammenhang mit dem noch von Max-Planck-Präsident Peter Gruss 2014 initiierten Forschungsprogramm zur „Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft 1948-2002“, das unter der Leitung von Prof. Jürgen Renn (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte), Prof. Dr. Carsten Reinhardt (President of the Chemical Heritage Foundation, Philadelphia/Universität Bielefeld) und Prof. Dr. Jürgen Kocka (Wissenschaftszentrum Berlin) steht. An die Studien des Forschungsprogramms der Präsidentenkommission „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ anknüpfend, wird dabei auch danach gefragt werden, welche Hypotheken der NS-Vergangenheit die Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft belasten und wie mit der Aufklärung der Verstrickungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in NS-Verbrechen umgegangen wurde (Pressemitteilung vom 6. Februar 2015; www.mpg.de/8947555/).

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