"Start-ups sind die wesentlichen Treiber des Wachstums"

14. März 2016

Dietmar Harhoff ist Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und leitet dort die wirtschaftswissenschaftliche Forschungsabteilung. Als Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) berät er zudem die Bundesregierung in Innovationsfragen. Im Vorfeld der CeBIT, die vom 14. bis 18. März in Hannover stattfindet, sprachen wir mit ihn über die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie im digitalen Zeitalter, die Rolle von Startup-Unternehmen und das Schlagwort „Industrie 4.0“.

Wenn es um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie geht, fällt sehr oft das Schlagwort „Industrie 4.0“. Was kann sich der Normalbürger darunter vorstellen?

Dietmar Harhoff: Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass Produkte zunehmend individualisiert sein werden und dass die Produktion daher stärker flexibilisiert wird. Hier sollen zwei Vorteile gleichzeitig erzielt werden: zunächst niedrige Kosten aufgrund einer hohen Zahl produzierter Einheiten, zudem aber auch eine hohe Flexibilität, die die Anpassung der Produkte auf spezifische Bedürfnisse ermöglicht. Das ist nicht ganz neu – diese Aspekte spielten auch in der Digitalisierungswelle der 1980er-Jahre schon eine große Rolle. Wir können aber nun die Potenziale des Internet für diese Zwecke nutzen. Damit kann dann nicht nur die Produktion, sondern auch die Erbringung von Dienstleistungen flexibler und effizienter gestaltet werden.

Inwieweit wird das Konzept in deutschen Unternehmen umgesetzt?

Industrie 4.0 ist kein homogenes Konzept – es beschreibt vielmehr eine Vielzahl von Ansätzen. Und es ist derzeit erst teilweise in der Umsetzung begriffen. In großen Teilen steckt das Konzept noch in der Entwicklung und dient als Leitbild. Unternehmen – auch im Mittelstand – beschäftigen sich zunehmend damit, aber es ist zu früh, etwas über die tatsächliche Umsetzung zu sagen. Als Impulsgeber für die Produktionswirtschaft und als Marketingkonzept für den Standort Deutschland hat es sich bisher als sehr erfolgreich erwiesen. Aber diese Fokussierung lenkt vielleicht manchmal auch davon ab, dass es weitere Anwendungen internetbasierter Technologien gibt und dass die erfolgreiche Nutzung des Internet nicht nur eine Frage des Technologieeinsatzes ist.

Woran fehlt es deutschen Unternehmen konkret?

Die Kritik lautet: Die deutsche Politik und Teile der deutschen Wirtschaft sehen Innovation immer noch als weitgehend technologiegetrieben. Zudem wird Innovation immer noch bevorzugt auf den industriellen Kontext verengt. Das mag in vielen Fällen richtig sein – im Fall von internetbasierten Innovationen geht es aber immer mehr auch um den Einsatz neuer Geschäftsmodelle. Der Umgang mit Daten, die Konzeption der Geschäftsmodelle wird wichtiger sein als das Verfeinern der Technologie. Hier gibt es große Defizite. Auch den Fokus der Politik auf die Produktionstechnik sehe ich mit einer gewissen Sorge. Es ist gut, dass wir in der Forschung bei Industrie 4.0 starke Akzente setzen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass das „Internet der Dinge“ weit über den Produktionsbereich hinausgeht.

Können Start-ups diese Lücke ein Stück weit füllen?

Start-ups sind derzeit die wesentlichen Treiber des Wachstums der internetbasierten Wirtschaft. Wie man Start-ups sinnvoll nutzen kann, um Lücken in Wertschöpfungsketten zu füllen, ist eine wichtige Frage. Etliche deutsche Großunternehmen haben inzwischen Prozesse entwickelt, um von der hohen Innovationsleistung von Start-ups zu profitieren. Andere experimentieren noch oder entdecken erst die Notwendigkeit, hier aktiv zu werden. In den USA steht Start-ups die Möglichkeit offen, durch einen Börsengang das für Wachstum erforderliche Kapital zu akquirieren. Das ist in Deutschland fast nicht möglich und wir sollten schnellstmöglich ein entsprechendes Börsensegment schaffen. Start-ups werden auch zunehmend von etablierten Unternehmen erworben, um die eigenen Innovationsaktivitäten zu stärken. Die Integration in ein großes Unternehmen ist aber ein komplexer Prozess, der oft scheitert. Auch hier haben Unternehmen in anderen Regionen schon mehr Erfahrung. Die Unternehmenskultur in vielen deutschen Unternehmen lebt noch von der Annahme, dass interne Lösungen völlig ausreichend sind, um weiterhin erfolgreich sein zu können. Das könnte sich als schwerwiegender Fehler erweisen.

Haben wir in diesem Bereich auch ein Nachwuchsproblem?

Nein. Wir haben ein Akzeptanz- und ein Ressourcenproblem, aber es gibt ausreichend viele talentierte und ambitionierte Menschen, die sich eine Karriere in Start-ups vorstellen können und diese Idee in die Tat umsetzen. Die Akzeptanz von Start-ups als Träger neuer Innovationskonzepte in großen Unternehmen und in der Politik ist aber immer noch begrenzt. Und die Rahmenbedingungen für Start-ups sind in Deutschland trotz vieler Lippenbekenntnisse der Politik alles andere als optimal.

Wie kann und sollte die Politik die digitale Wirtschaft fördern?

Die Politik kann zunächst einmal die Rahmenbedingungen für neue Unternehmen verbessern. Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Ein zweiter wichtiger Bereich ist die Ausbildung. Wir plädieren im Jahresgutachten 2016 dafür, in allen Ausbildungsstufen Menschen auf den Umgang mit Daten und neuen Nutzungsmöglichkeiten vorzubereiten. Drittens sollte die Politik den Bereich des e-Government endlich ernst nehmen. Die Politik hat in Deutschland beim Einsatz des Internet und digitaler Technologien in der öffentlichen Verwaltung bisher keine gute Figur gemacht. Länder wie Südkorea oder Estland haben vorgemacht, dass eine durchgängige Nutzung des Internet in Verwaltungen möglich und für die Bürger attraktiv sein kann. In Deutschland wird den Bürgern derzeit eine Verbesserung staatlicher Dienstleistungen vorenthalten. Zudem könnten wir das Internet auch nutzen, um Verwaltungshandeln transparenter zu machen. Wir verlieren auch Nachfrageimpulse, wenn deutsche Amtsstuben weiterhin auf Papier setzen und die Möglichkeiten digitaler Technologien vernachlässigen.

Bei den Stichworten „Big Data“ und „Cloud Computing“ denken viele in Deutschland erst einmal an Datenschutzprobleme. Sind wir Deutschen übervorsichtig oder könnten wir angesichts von Hacker-Angriffen irgendwann davon profitieren, dass wir in diesem Bereich zurückhaltender agieren?

Ein kluger und bewusster Umgang mit Daten ist positiv zu sehen. Zurückhaltung wegen unreflektierter Vorbehalte gegenüber Innovationen sehe ich hingegen als Innovationshemmnis. In Deutschland liegen beide Effekte vor. Das ist aber in anderen Ländern genauso – ich sehe auch keine überzeugende empirische Evidenz dafür, dass die Deutschen übervorsichtig oder besonders technikfeindlich seien. Ich hoffe, dass eine kluge europaweite Regulierung zum Datenschutz dazu beitragen wird, den Grad der Verunsicherung der Bürger zu senken. Innovationen bringen neuen Nutzen, aber oft auch neue Gefahren mit sich – insofern ist das Phänomen nicht neu.

Sie gehören zu den Mitgründern des Munich Center for Internet Research. Was sind die Ziele der Initiative?

Das Internet stellt nicht nur eine wichtige Technologie dar – es ist inzwischen zu einem neuen sozialen und ökonomischen Handlungsraum geworden. Wir haben derzeit in Deutschland noch keine weltweit sichtbaren Forschungseinrichtungen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen. Deshalb sind in München einige Forscher aus Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammengekommen und haben ein neues interdisziplinäres Forschungszentrum konzipiert. Das Munich Center for Internet Research (MCIR) hat im Dezember 2015 als neues Forschungszentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften seine Arbeit aufgenommen. Es wird den mit dem Internet und der Digitalisierung verbundenen gesellschaftlichen Wandel wissenschaftlich untersuchen und eine Orientierung für seine erfolgreiche Gestaltung liefern.

Wie stark nutzen Sie persönlich das Internet und die sozialen Medien?

Ich benutze das Internet fast ständig – sowohl für Kommunikationszwecke wie auch als Plattform für meine Forschungsarbeiten. Zu E-Mail und Videokonferenzen sind inzwischen auch Tools für das Projektmanagement hinzugekommen, bei sozialen Medien bin ich persönlich etwas zurückhaltender. Da ich seit langem mit großen Datensätzen zu Patenten und Publikationen arbeite, ergibt sich in meiner Forschung auch der Einsatz von Big Data-Ansätzen und die Nutzung der Cloud recht natürlich.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Mechthild Zimmermann

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