„Es hat sich gelohnt, in die Mühle hineinzugeraten“

Max-Planck-Nobelpreisträger Erwin Neher über die Beratungen rund um die Gründung des Europäischen Forschungsrates ERC

Der Nobelpreisträger Erwin Neher vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie gilt als einer der Wegbereiter des Europäischen Forschungsrates ERC, der heute im zehnten Jahr seines Bestehens als internationales Aushängeschild für eine funktionierende Forschungsförderung gilt. Im Interview spricht Neher über wichtige Weichenstellungen in der Gründungszeit. Dazu gehört eine Unterschriftenaktion, ohne die vielleicht alles anders gekommen wäre.

Herr Neher, Sie sind Vollblutforscher – wie kamen Sie in das völlig anders gelagerte Feld der Forschungspolitik?

Erwin Neher: Den Impuls gab indirekt der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, der im Jahr 2000 erklärte, die Europäische Union soll die größte wissenschaftsbasierte Gesellschaft weltweit werden. Meine Einschätzung war dabei klar: Eine solche Wissensbasis wird durch Grundlagenforschung geschaffen. Als von der Max-Planck-Gesellschaft vorgeschlagenes Mitglied des EURAB, des European Research Advisory Boards, war ich in den Jahren 2001 bis 2004 direkt beteiligt, als mit dem damaligen EU-Forschungskommissar Philippe Busquin beraten wurde, wie die dazugehörige Förderung gestaltet werden soll. So bin ich in die ganze Mühle hineingeraten.

Es ging also darum, harte Bretter zu bohren …

Erwin Neher: Ja, das ist richtig. Meine Erfahrung war nach zwei Jahren Arbeit im EURAB, dass sozusagen eine Reparatur bestehender Instrumente nicht möglich ist, sondern man auf etwas ganz Neues setzen muss. Das klassische Muster war ausgerichtet auf Industrieforschung, auf Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Nicht aber auf die Ermöglichung völlig neuartiger Durchbrüche; die kommen nicht, wenn eine Behörde vorgibt, was für die europäische Wissenschaft und Wirtschaft wichtig ist und daraus Projekte formuliert, um die sich dann Wissenschaftler bewerben können. Das hieße Forschung genauso durchzuführen wie wenn ein Bauunternehmen darangeht, eine Brücke in Spanien zu bauen. Vielmehr muss es, wie ja auf nationaler Ebene beispielsweise bei der DFG und dem britischen Research Council, genau anders herum gemacht werden: Die Idee muss das Entscheidende sein. Die beste Idee, ermittelt im wettbewerblichen Gutachterverfahren nach Exzellenzkriterien, ist der Türöffner für neue Erkenntnisse. Dass wir dieses Denken auf EU-Ebene etablieren konnten, war in der Tat ein Meilenstein.

War es schwer, diesen Perspektivwechsel zu vermitteln?

Erwin Neher: Es gab Unterstützer wie Kritiker, der Knackpunkt war: Gelingt es, die reine Fokussierung auf wissenschaftliche Exzellenz durchzuhalten, also zu vermeiden, dass sich der Proporzgedanke durchsetzt. Im Sinne bestmöglicher Bedingungen für Forschung war sich die Scientific Community einig: Der ERC soll Projekte fördern, die aus der Wissenschaft kommen, die gewagt, also ‚high-risk‘ sind  und bei der Auswahl dieser Projekte soll allein das Exzellenzkriterium gelten. Was heute allseits als Erfolgskriterien gesehen wird, war damals umstritten.

Gab es einen bestimmten Moment, der den Ausschlag gab?

Erwin Neher: Die Diskussion um den ERC war ständiges Thema im EURAB, der alle paar Monate in Brüssel direkt den EU-Forschungskommissar beriet. Es gab da eine Situation, als damals Philippe Busquin etwas verschlüsselt durchblicken ließ, dass der ERC nicht mehr auf der Liste derjenigen Projekte steht, die er in seiner Amtszeit durchsetzen wollte. Da habe ich die Initiative ergriffen zu einer Unterschriftensammlung mit 45 Nobelpreisträgern. Mit dieser Liste  sind wir im Oktober 2003 nach Brüssel gereist, haben sie Busquin übermittelt und hatten ein sehr gutes Gespräch. Das haben wir wiederholt im Folgejahr, als der Slowene Janez Potočnik das  Amt übernommen hat. Ich glaube, dass dies dazu beigetragen hat, dass die Idee am Leben blieb, dass sie übertragen wurde. Und Potočnik hat sich dann für die Einrichtung des ERC eingesetzt.

Als Präsident der MPG hat sich auch Peter Gruss starkgemacht für den ERC …

Erwin Neher: Ja, es gab mehrere Initiativen der MPG für den ERC und der damalige Präsident Peter Gruss war sehr engagiert. Er hat sich vor allem um die Frage gekümmert, welche Struktur der ERC haben soll. Wie sichergestellt werden soll, dass der ERC möglichst unabhängig ist. Es gab zwei Modelle entsprechend verschiedener EU-Regularien. Ausgesucht wurde ein Modell unter Ägide der Kommission, bei dem aber doch zumindest in den wissenschaftlichen Entscheidungen der ERC im Endeffekt das Sagen hat. Wichtig für das Gelingen war sicher das Wirken von Fotis Kafatos, dem ersten Vorsitzenden des Scientific Council, und von Ernst-Ludwig Winnacker, dem ersten Generalsekretär. Und ganz zentral war die Besetzung des Council insgesamt.

Inwiefern?

Erwin Neher: Diese 26 Mitglieder haben gewissermaßen die Politik des ERC festgelegt. Ich war involviert, weil ich in das fünfköpfige Identification Committee berufen wurde. Wir haben dabei die Maßgabe ausgegeben, dass die Mitglieder des Council erstens hervorragende Wissenschaftler sein und zweitens relativ junge, eigene Erfahrungen in der aktiven Forschung haben sollen. Die Mitglieder des Councils wie der Vorsitz haben mittlerweile gewechselt, entsprechend der Amtszeiten. Aber ich denke schon, dass wir als erstes Nominierungskomitee Weichen gestellt haben, die den ERC bis heute prägen. Dabei hat der ERC natürlich viele Väter, wie das meistens bei erfolgreichen Unternehmungen der Fall ist.

Wie beurteilen Sie den ERC heute?

Erwin Neher: Angesichts der früheren EU-Forschungsförderung ist der ERC gerade für die Grundlagenforschung ein sehr großer Fortschritt. Indem der Scientific Council in den ersten Jahren die Förderlinien festgezurrt hat, beginnend mit den Starting Grants, dann mit der Einführung der Advanced und der Consolidator Grants, wird ein breites Spektrum innerhalb einer Wissenschaftskarriere abgedeckt. Natürlich gibt es Kritik wegen der Bürokratie, das höre ich von Kollegen, die ERC Grants haben. Aber im Großen und Ganzen ist es ein sehr gutes Programm, was wirklich Topwissenschaft fördert. Und natürlich bin ich froh, einen Anteil daran zu haben.

Das Gespräch führte Jens Eschert

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