Eine angeborene Lebensspanne gibt es nicht

Der Alterungsprozess beim Menschen verschiebt sich um ein Jahrzehnt

21. Juli 2010

Die Anzahl der Lebensjahre, die die Menschen in Gesundheit verbringen, wächst. Denn die Lebenserwartung von Männern und Frauen steigt nicht, weil sich der Alterungsprozess verlangsamt und verlängert, sondern vor allem, weil er immer später im Leben einsetzt.

Die Alternsforschung hat in der Vergangenheit heftige wissenschaftliche Kontroversen geführt. Gibt es eine Obergrenze in der Lebenserwartung? Zu welchem Anteil ist die Lebensspanne eines jeden Menschen genetisch festgelegt? Bedeutet die höhere Lebenserwartung, dass mehr Zeit in Gesundheit verbracht werden kann oder - im Gegenteil - dass sich die Phase des körperlichen und geistigen Verfalls verlängert? Nach Jahrzehnten der akribischen Datensammlung und -analyse sind nun große Teile des Puzzles zusammengesetzt, wie ein aktueller Übersichtsartikel des Max-Planck-Instituts, die jetzt in "Nature" erschienen ist, belegt.

Seit über 170 Jahren steigt die Lebenserwartung der Menschen in den entwickelten Ländern kontinuierlich um durchschnittlich fast drei zusätzliche Lebensmonate pro Jahr. Zahlreiche Obergrenzen, die Experten in der Vergangenheit als unüberwindbar vorschlugen, wurden dabei durchbrochen. Auch gegenwärtig ist kein Abflachen des Anstiegs in der Lebenserwartung auszumachen. Wenn sich diese Trends auch zukünftig weiter fortsetzen, stehen die Chancen für ein Kind, das heute in Deutschland oder einem anderen Industriestaat geboren wird, besser als 1:1, dass es seinen 100. Geburtstag feiern wird - im 22. Jahrhundert.

Eine individuell in den Genen festgeschriebene, natürlich vorbestimmte Lebensspanne des Menschen scheint es nicht zu geben. Zwillingsstudien zeigen, dass die Chance auf ein langes Leben nur zu etwa 25 Prozent durch die genetische Ausstattung eines Menschen beeinflusst ist. Bemühungen, wahrhaftige Methusalem-Gene im menschlichen Genom zu isolieren, hatten bislang kaum Erfolg.

Dies ist in Einklang mit evolutionstheoretischen Ansätzen: Mutationen, die eine deutlich längere Lebensspanne bewirken, kommen in der Natur selten vor, da sich häufig gleichzeitig zu einem verminderten Fortpflanzungserfolg führen. Es ist eher davon auszugehen, dass Hunderte oder sogar Tausende von Genorten jeweils nur einen kleinen Beitrag zum Altern leisten und sich im komplexen Zusammenspiel auf die Sterbewahrscheinlichkeit im hohen Alter auswirken.

Ausschlaggebend für den stetigen Anstieg in der Lebenserwartung in der Vergangenheit waren sicher nicht genetische Faktoren, sondern ein allgemeiner Anstieg im Lebensstandard, eine bessere Ernährung, Fortschritte in der Medizin und in der Gesundheitsversorgung sowie soziale Errungenschaften, wie etwa der erhöhte Zugang der Menschen zu Bildung. Doch gegenwärtig arbeitet die biologische Alternsforschung daran, die Genetik altersbedingter Krankheiten in ihren Grundzügen zu verstehen. Neue Behandlungsmöglichkeiten auf Basis dieses Wissens könnten zukünftig die Gesundheit Älterer weiter verbessern.

Heute steht bereits fest: Das Altern war und ist beeinflussbar. Die Menschen werden nicht nur immer älter, sondern immer gesünder älter. Abbildung 1 zeigt, wie sich das Durchschnittsalter, in dem Frauen in Schweden, Japan und in den USA noch fünf beziehungsweise zehn Jahre zu leben haben, in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Die Kurven steigen gleichermaßen an, verändern ihren Abstand zueinander aber nicht. Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Zahl gesunder Lebensjahre wächst. Die Lebenserwartung der Menschen nimmt also zu - nicht, weil der Alterungsprozess sich insgesamt verlängert, sondern weil er immer später einsetzt.

Heute Geborene können somit nicht nur darauf hoffen, den 100. Geburtstag zu feiern, sondern auch die Zeit bis zum 90. Lebensjahr in zufrieden stellender körperlicher und geistiger Gesundheit zu verbringen. Angesichts solcher Entwicklungen erscheint es wenig sinnvoll, zu leben und zu arbeiten wie bisher: Lange Ausbildungszeiten zu Beginn des Lebens, in der Mitte doppelte Belastung durch Familie und Beruf, ab Mitte 60 eine sich immer weiter verlängernde Phase ohne Arbeit. Die Alterung der Gesellschaft ist nicht aufzuhalten, und schon bald wird man auf die älteren Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne Einbußen für alle verzichten können.

Modellrechnungen (siehe Demografische Forschung Aus Erster Hand 1/2006) bis 2025 zeigen, dass durch einen gesteigerten Arbeitseinsatz von älteren Beschäftigten in Deutschland die insgesamt geleistete Arbeitszeit trotz sich ändernder Bevölkerungsstruktur konstant gehalten werden könnte. Die Arbeit ließe sich zukünftig sogar gleichmäßiger über alle Altersgruppen verteilen. Im Vergleich zu heute hieße dies, etwas weniger zu arbeiten, wenn neben beruflichen Verpflichtungen der Nachwuchs der täglichen Fürsorge bedarf, und ein wenig mehr, wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind.

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