An den Grenzen der Kernkraft

Heidelberger und Mainzer Physiker haben Atomkerne mit einem "Heiligenschein" vermessen

19. Februar 2009

In Atomkernen geht es manchmal zu wie in einer Menschentraube. Wie sich der eine oder andere an den Rand des ärgsten Gedränges zurückzieht, kreisen bestimmte Kernbausteine an der Peripherie eines Atomkerns - es wird ihnen innen quasi zu voll. Sie verschaffen den Kernen einen "Heiligenschein", griechisch Halo, weshalb solche Kerne Halokerne heißen. Drei Kerne dieser Art haben Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kernphysik und Kollegen anderer internationaler Einrichtungen nun mit Methoden untersucht, mit denen Physiker bislang vor allem ganze Atome studierten. Unter anderem verfeinerten sie die Laserspektroskopie, um die Radien der Atomkerne und die Verteilung der positiven Ladung darin präzis zu messen. Aus diesen Erkenntnissen lernen die Forscher auch etwas über die Kräfte, die in gewöhnlichen Kernen wirken. (Physical Review Letters, 13. Februar 2009, 19. Dezember 2008 und 26. September 2008)

"Ich würd’ gern wissen, was die Welt, im Innersten zusammenhält", sprach einst Goethes Faust. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kernphysik könnten ihm jetzt helfen. Sie erforschen die Kräfte, die wesentliche Bausteine der Welt zusammenhalten, nämlich die Atomkerne. Konkret messen sie die Größe, Dichte und Ladungsverteilung in einer extremen Form von Atomkernen: den Halokernen, in denen ein oder mehrere Kernbausteine nur sehr schwach gebunden sind. Ihre Messungen verraten ihnen etwas über den Grenzbereich der starken Kernkraft, die die Kernbausteine, aber auch deren noch kleineren Bestandteile, die Quarks, zusammenhält.

In drei separaten Arbeiten studierte die Gruppe von Klaus Blaum, Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik, zusammen mit Wissenschaftlern der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung Darmstadt sowie anderer internationaler Einrichtungen Halokerne der Elemente Lithium, Beryllium und Neon. Diese Kerne erzeugen die Forscher, indem sie schwerere Kerne zerschießen und die Bruchstücke separieren. Das in der Natur vorkommende Lithium etwa besitzt drei Protonen, die immer die Art des Elementes festlegen, und drei oder vier Neutronen - als eine Art Bindemittel. Nun haben die Forscher ein Lithium mit drei Protonen und acht Neutronen erzeugt. Zwei Neutronen kreisen dabei als Halo um den kompakten Lithiumkern, der bereits einige Neutronen als Zusatzlast mit sich trägt. Viele Halokerne sind nur mit zwei Trabanten lebensfähig. Sie bilden borromäische Zustände, die ihren Namen den drei Ringen in einem italienischen Familienwappen verdanken. Sie greifen so ineinander, dass alle auseinander fallen, wenn einer fehlt.

Für das Lithium-11, wie Physiker die Variante nach der Zahl seiner Kernbausteine nennen, haben die Heidelberger Physiker ebenso wie für Beryllium-11 und Neon-17 Kerneigenschaften wie den Radius bestimmt, und zwar besonders exakt und für Neon-17 sogar zum ersten Mal. Demnach gönnen sich die zwei Halo-Neutronen des Lithium-11 etwa so viel Platz wie die über 200 Kernbausteine eines Bleikerns. Deutlich kleiner ist dagegen der Neon-17-Kern. In seinem Halo kreisen aber nicht zwei Neutronen, sondern zwei Protonen. "Das ist erstaunlich, weil die positive Ladung die beiden Protonen untereinander und vom kompakten Kern abstoßen müsste", sagt Klaus Blaum.

Die Radien haben sie mithilfe einer verfeinerten Form der Laserspektroskopie gemessen - eine Methode, die bislang vor allem Atomphysiker benutzten. Das gilt auch für die Penning-Falle. Darin zwingen die Kernphysiker die Atome mit elektrischen und magnetischen Feldern auf eine Kreisbahn. Aus dem Verhalten der Atome auf dieser Bahn bestimmten die Forscher die Masse der Teilchen und daraus - mittels Einsteins berühmter Formel E = mc2 - die Energie, mit der die zusätzlichen Teilchen an den Kern gebunden werden.

Für Lithium-11 stellten sie fest, wie die Neutronen im Halo die Ladungsverteilung im kompakten Zentrum des Kerns beeinflussen. So beobachteten sie, dass Lithium-11 auf elektrische und magnetische Felder anders reagiert als Lithium-9. Beide Varianten des Elementes besitzen im Rumpfkern drei positiv geladene Protonen und sechs ungeladene Neutronen. Im Halo des Lithium-11 kommen nur zwei zusätzliche Neutronen hinzu. Obwohl diese ungeladen sind, beeinflussten sie das Verhalten des Kerns im elektrischen Feld - die Ursache dafür kann also nur sein, dass sich die geladenen Protonen im Rumpfkern anders verteilen.

Bei diesen Studien müssen sich die Forscher sehr beeilen, denn die Kerne existieren kaum länger als einen Wimpernschlag - nicht einmal ein Zehntel einer Sekunde. "Ein leichter Atomkern ist stabil, wenn er etwa gleich viele Neutronen wie Protonen enthält", sagt Blaum und fügt an: "Wenn in einem Atomkern eine Sorte der Kernteilchen deutlich in der Überzahl ist, zerfallen die Kerne zwar schnell, aber nur dann können überschüssige Bausteine einen Halo bilden." Die Anziehungskraft reicht hier nicht mehr aus, alle Teilchen eng zu binden.

Die Anziehungskraft zwischen den Kernbausteinen entsteht aus der starken Kernkraft. Sie klebt einerseits die Quarks, die Elementarteilchen in den Neutronen und Protonen, zusammen. Andererseits wirkt sie auch außerhalb der Neutronen und Protonen und bindet diese im Kern aneinander. Halos verdeutlichen nun die Grenzen dieser Anziehungskraft. Die schwach gebundenen Teilchen sind so weit vom Rumpfkern entfernt, dass die Kernkräfte sie gerade noch halten.

Als nächstes werden die Forscher die Atome Berillium-12 und Berillium-14 untersuchen. Ähnlich wie Lithium-11 besitzt Berillium-14 einen borromäischen Zwei-Neutronen-Halo. "Wir hoffen, noch mehr darüber zu erfahren, wie die Teilchen in den Atomkernen wechselwirken", sagt Blaum. Dann erfahren sie auch noch mehr darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält.

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