Hirnforscher auf Evolutionsspuren der Grammatik

Leipziger Max-Planck-Forscher weisen nach: Die Verarbeitung sprachlicher Regeln erfolgt in zwei stammesgeschichtlich nacheinander entstandenen Hirnarealen

9. Februar 2006

Mit wachsendem Erfolg wird mit hochspezialisierten Verfahren untersucht, was genau die Ursachen für die menschliche Fähigkeit zur Sprache sind. Warum verstehen wir Menschen komplizierte Sätze und unsere nächsten Verwandten -die Affen - hingegen nur einzelne Worte? Nun haben Wissenschaftler des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn zwei Hirnareale für verschiedene Verarbeitungsleistungen der Sprache zuständig sind. Sie stellten fest, dass einfache Sprachstrukturen in einem evolutionär älteren Hirnareal verarbeitet werden, über das auch Affen verfügen. Komplizierte Strukturen jedoch aktivieren Prozesse in einem entwicklungsgeschichtlich jüngeren Hirnareal, das nur höherentwickelte Spezies (Mensch) besitzen. Diese Befunde liefern einen wichtigen Baustein zum Verstehen des menschlichen Sprachvermögens (PNAS, 6. Februar 2006).

Sprache verstehen und erzeugen zu können, ist ein wesentliches Merkmal, das uns von nicht-menschlichen Primaten unterscheidet. Speziell das Anwenden komplexer sprachlicher Regeln wird dafür verantwortlich gemacht, dass Menschen im Gegensatz zu anderen Spezies lange Sätze erzeugen und verstehen können. Wenn man die Regeln der Sprache (Syntax) analysiert, kann man zwei grundlegende Muster von Grammatik unterscheiden. Eine einfache Regel ist das richtige Bilden von typischen (wahrscheinlichen) Wortverbindungen, wie z.B. bei Artikel und Substantiv ("ein Lied") oder bei Artikel und Verb ("ein gefällt"). So ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Substantiv auf einen Artikel folgt, sehr hoch, dass ein Verb einem Artikel nachsteht, hingegen sehr gering. Um aber längere Sätze verstehen zu können, benötigt man ein komplexeres Strukturmodell, die so genannte "Hierarchie". Dabei werden hierarchische Abhängigkeiten zwischen Satzverbindungen gebildet, um diese miteinander zu verknüpfen, wie ein eingeschobener Nebensatz: "Das Lied [das der Junge sang] gefiel dem Lehrer.". Ansatz der Max-Planck-Studie war demzufolge, die Hirnaktivitäten bei der Verarbeitung dieser beiden Modelle, also "Verknüpfungswahrscheinlichkeit" und "Hierarchie", miteinander zu vergleichen.

In einem Verhaltensexperiment hatten Wissenschaftler in den USA zuvor gezeigt, dass nicht-menschliche Primaten (Tamarin-Äffchen) zwar in der Lage sind, Regeln mit lokalen Verknüpfungswahrscheinlichkeiten zu verarbeiten, nicht aber hierarchische Regeln. Das Ergebnis veranlasste die Leipziger Forscher zu der Hypothese, dass komplexe grammatische Regeln von Hirnarealen verarbeitet werden, die 'phylogenetisch jünger' sind. Diese Annahme untersuchten die Forscher in einem funktionellen Kernspintomografie(fMRT)-Experiment an Menschen.

Dazu erzeugten die Wissenschaftler künstliche Grammatiken mit sinnlosen, aber strukturierten Silben (z.B. de bo gi to). Die Aneinanderreihung dieser Silben erfolgte entweder gemäß der einfachen Regel ("Verknüpfungswahrscheinlichkeit") oder der komplexeren Regel ("Hierarchie"). Die Silben wurden in zwei Kategorien unterteilt. Silben der Kategorie A endeten mit lautlich hellen Vokalen (de, gi, le ...), Silben der Kategorie B mit dunklen Vokalen (bo, fo, gu, ...). Die einfache Regel bildete abwechselnde Folgen von den Kategorien A und B (z.B. AB AB = de bo gi ku), die komplexe Regel bildete dagegen Hierarchien durch das Verknüpfen beider Kategorien (z.B. AA BB = de gi ku bo). Dieses Prinzip entspricht dem Versuch, Grammatik auf die einfachsten formalen Regeln zu reduzieren. Der Vorteil von künstlichen Grammatiken besteht im Experiment - im Gegensatz zu natürlich gesprochener Grammatik - darin, dass andere Strukturelemente der Sprache (Semantik, Phonologie, Morphologie) keine zusätzlichen Einflüsse auf den neurologischen Verarbeitungsprozess nehmen können.

Die Versuchspersonen trainierten beide Grammatiktypen zwei Tage vor der Kernspinuntersuchung. Eine Gruppe lernte die "Verknüpfungswahrscheinlichkeit", die andere Gruppe die "Hierarchie". Während der fMRT-Untersuchung wurden neue Abfolgen von Silben über einen Bildschirm präsentiert, die syntaktisch "richtig" (korrekte Sequenzen) oder "fehlerhaft" (inkorrekte Sequenzen) waren. Auf diese Weise wurde das Anwendungsvermögen der gelernten Regeln gemessen bzw. die Versuchspersonen sollten jede Sequenz nach der Grammatikalität bewerten (richtig/falsch).

Beim Verarbeiten beider Regeltypen konnten die Leipziger Forscher bei ihren Probanden Aktivitäten in einem menschheitsgeschichtlich älteren Hirnareal (frontales Operculum) nachweisen. Wie sie vermutet hatten, zeigte eine jüngere Hirnstruktur, das Broca Areal, nur dann Aktivitäten, wenn von den Versuchspersonen hierarchische Regeln verarbeitet wurden.

In einem zweiten Schritt wurde die Methode der diffusionsgewichteten Bildgebung (diffusion tensor imaging, DTI) verwendet, um strukturelle Verknüpfungen (Konnektivität) der beiden Hirnregionen zu untersuchen. Als Ergebnis konnten auch hier beide Hirnareale voneinander abgegrenzt werden. Das frontale Operculum war über spezielle Faserverbindungen (fasciculus uncinatus) mit den vorderen Bereichen des Schläfenlappens verknüpft. Hingegen wies das Broca-Areal Verknüpfungen auf, welche über den fasciculus longitudialis superior zu oberen Bereichen des Schläfenlappens führten (vgl. Abb.).

Durch zwei unterschiedliche Verfahren (fMRT- und DTI-Messung) konnten die Max-Planck-Forscher beide Hirnareale in Struktur wie Funktion voneinander abgrenzen. Werden also einfache Regeln vom Gehirn verarbeitet, wie dies beim Affen offenbar auch erfolgt, so wird das stammesgeschichtlich ältere Areal im Gehirn aktiviert. Hingegen wird beim Anwenden komplexerer Regeln, die ein Affe nicht beherrscht, das Broca Areal herangezogen.

Dieser Befund ist zum einen höchst aufschlussreich für die Lokalisierung jener Funktionsbereiche im menschlichen Gehirn, die Sprachverarbeitungsprozesse steuern. Zum anderen führt er exemplarisch vor, auf welche Weise komplexe Fragestellungen - wie etwa die Entstehung des menschlichen Sprachvermögens - disziplin- und fachübergreifend in der modernen Forschung aufgegriffen und untersucht werden. Für die Grundlagenforscher in Leipzig heißt das, als nächstes zu fragen, was die unterschiedlichen Verknüpfungen zum Schläfenlappen für die Sprachverarbeitung im Detail bedeuten.

Zur Redakteursansicht