Erfolgreiche kosmische Archäologie

Das größte mit dem Weltraumteleskop Hubble aufgenommene Bild zeigt die Geschichte des Universums

15. Januar 2004

Die größte bisher mit dem Weltraumteleskop Hubble gewonnene Farbaufnahme wurde vergangene Woche auf der jüngsten Tagung der American Astronomical Society in Atlanta vorgestellt. Dr. Eric F. Bell vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg und Dr. Shardha Jogee vom Space Telescope Science Institute in Baltimore zeigten einen Vollmond-großen Himmelsausschnitt im Sternbild Fornax auf der südlichen Hemisphäre, auf dem mehr als 40.000 Galaxien zu sehen sind. Das Bild ist ein Mosaik, zusammengesetzt aus 78 mit der "Advanced Camera for Surveys" gewonnenen Einzelaufnahmen. Die beiden Astronomen gehören zu einem internationalen Konsortium mit dem Namen GEMS, "Galaxy Evolution from Morphology and Spectral Energy Distributions", das von Prof. Hans-Walter Rix, Direktor am Max-Planck-Institut für Astronomie, geleitet wird. Die Forscher betonten, dass das Bild helfen werde zu verstehen, wie sich große, unserem Milchstraßensystem ähnliche Galaxien während der letzten 9 Milliarden Jahre, also über etwa zwei Drittel des Alters des Universums, entwickelt haben.

Die Größe dieses Bildes ist für die zu gewinnenden Erkenntnisse wesentlich. Die Galaxien sind nicht gleichmäßig über den Himmel verteilt: Sie bilden im Weltraum Haufen und Ketten. Deshalb können kleinere Himmelsausschnitte zufällige, untypische Merkmale aufweisen. Zum Vergleich: Auf Nachtaufnahmen erscheinen die Ballungsgebieten in ganz Europa hell erleuchtet, Ackerland, Wälder, Berge und Seen bleiben dagegen dunkel. Um zu verstehen, wie die Bevölkerung über Europa verteilt ist, muss man also ein hinreichend großes Gebiet untersuchen, in dem sowohl dunkle, dünn besiedelte Areale vorkommen, als auch hell erleuchtete Areale, in denen die großen, dicht besiedelten Städte liegen. Gleiches trifft auch auf die Verteilung der Galaxien am Himmel zu: Nur wer eine Vielzahl ihrer Größen und Formen untersucht, kann letztlich die ganze Bandbreite möglicher Galaxientypen erfassen und beispielsweise kurze, heftige Phasen ihrer Entwicklung herausfinden.

Für das GEMS-Projekt (Galaxy Evolution from Morphology and Spectral Energy Distributions) hatten die Astronomen ein Himmelsareal ausgewählt, für das - aufgrund einer vorangehenden, in Heidelberg und Oxford durchgeführten Studie - die Entfernung von annähernd zehntausend einzelnen Galaxien bereits bestimmt worden war. Weil das Universum expandiert, entfernen sich die Galaxien umso schneller von uns, je größer ihr Abstand von uns ist. Aufgrund dieses Doppler-Effekts lässt sich aus den Spektren der Galaxien deren Fluchtgeschwindigkeit und damit ihre Entfernung ableiten. Und weil die Lichtgeschwindigkeit endlich ist, sehen wir die ferneren Galaxien in einem früheren Stadium als die näheren. Mit Hilfe dieser "Zeitmaschine" schauen wir auf dem GEMS-Bild bis zu 9 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurück, das sind bis zu 4,5 Milliarden Jahre vor der Entstehung der Sonne und der Erde.

Dr. Christian Wolf, University of Oxford, und Dr. Klaus Meisenheimer, Max-Planck-Institut für Astronomie, hatten zusammen mit ihren Kollegen innerhalb des GEMS-Feldes die Entfernung von etwa 10.000 Galaxien mit einer Genauigkeit von wenigen Prozent bestimmt. Dieser einmalige Datensatz in Verbindung mit der exzellenten Qualität der HUBBLE-Bilder ermöglichte es nun, zu untersuchen, wie sich die Größen, Formen und Strukturen der Galaxien im Laufe der letzten 9 Milliarden Jahre entwickelt haben. Zum Beispiel: Wie kam es zur Ausbildung von Balkenstrukturen in den Spiralgalaxien? Die "Balken" sind längliche Verdichtungen in der zentralen Verteilung der Sterne in den Galaxien. Sie beeinflussen die Dynamik des interstellaren Gases, treiben es in den zentralen Bereich und können dadurch spektakuläre Ausbrüche von Sternbildungen auslösen. Heute gibt es diese Balkenstrukturen in den meisten Spiralgalaxien, einschließlich unseres eigenen Milchstraßensystems. Doch wenig ist darüber bekannt, wann und wie sie entstanden sind.

Eines der Ziele des GEMS-Projekts ist es deshalb, zu untersuchen, wie die Wechselwirkungen der Galaxien untereinander ihre spätere Entwicklung beeinflusst haben. Wechselwirkende Galaxien üben starke Gravitationskräfte aufeinander aus, die zu gravierenden morphologischen Veränderungen führen können, bis hin zur vollständigen Verschmelzung der wechselwirkenden Partner zu einem neuen, gänzlich anders strukturierten Objekt. Auf dem neuen GEMS-Bild sind einige wechselwirkende und verschmelzende Galaxien aus allen Epochen unseres Universums bis zurück in die Zeit vor etwa 9 Milliarden Jahren zu erkennen. Aus den beobachteten, manchmal bizarren Formen, wie doppelten Galaxienkernen, Tausenden von Lichtjahren langen Gezeitenschwänzen aus unzähligen aus den Galaxien herausgeschleuderten Sternen und extrem exzentrischen Sternentstehungsgebieten, lässt sich die innere Dynamik der beteiligten Systeme rekonstruieren.

Die gravitativen Wechselwirkungen können aber auch mächtige Ströme interstellaren Gases in die massereichen Schwarzen Löcher kanalisieren, die in den Zentren der Galaxien liegen, und damit heftige Aktivitätsphasen in den galaktischen Kernregionen auslösen. Aus GEMS werden die Forscher noch viel lernen über die Struktur solcher aktiven Galaxien und über die Häufigkeit von Wechselwirkungen während der verschiedenen Epochen ihrer Entwicklung. Es scheint, als ob die Wechselwirkungen in der Frühzeit des Universums wesentlich häufiger vorkamen als heute. "Heute werden die meisten massereichen Galaxien einfach älter, sie verblassen langsam, bis sie eines Tages in der Dunkelheit verschwunden sind," sagt Hans-Walter Rix. Das GEMS-Bild zeigt auch, dass der Anteil der elliptischen Galaxien heute deutlich höher ist als in der Vergangenheit. Dies ist ein starker Hinweis darauf, dass zumindest ein Teil der Elliptischen Galaxien aus der Verschmelzung massereicher Spiralgalaxien entstanden ist.

An dieser Studie sind beteiligt:
Eric F. Bell, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg

Shardha Jogee, Space Telescope Science Institute, Baltimore

Hans-Walter Rix, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg

Marco Barden, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg

Steven V. W. Beckwith, Space Telescope Science Institute, Baltimore

Andrea Borch, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg

John A. R. Caldwell, Space Telescope Science Institute, Baltimore
Boris Häußler, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg

Knud Jahnke, Astrophysikalisches Institut Potsdam
Daniel H. McIntosh, Astronomy Department, University of Massachusetts
Klaus Meisenheimer, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg

Chien Y. Peng, Steward Observatory, University of Arizona
Sebastian F. Sanchez, Astrophysikalisches Institut Potsdam
Rachel S. Somerville, Space Telescope Science Institute, somerville@stsci.edu
Lutz Wisotzki, Astrophysikalisches Institut Potsdam
Christian Wolf, Astrophysics Department, University of Oxford

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