Atomare Kollisionen in 3D

Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Kernphysik gelingt mit neuem "Reaktionsmikroskop", dynamische Abläufe im Inneren eines einzelnen Atoms sichtbar zu machen

11. März 2003

Dreidimensionale Bilder von atomaren Reaktionen haben Physiker am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg in enger Zusammenarbeit mit Kollegen von der Universität Missouri-Rolla/USA erstmals aufgenommen. Sie untersuchten, wie Elektronen durch Beschuss eines Atoms mit hochenergetischen Ionen herausgeschlagen und mit welcher Geschwindigkeit sowie in welche Richtung die einzelnen Bruchstücke emittiert werden. Das gelang mit Hilfe eines von den Wissenschaftlern um Prof. Joachim Ullrich neu entwickelten "Reaktions-Mikroskops" (Leibniz-Preis 1999), mit dem man erstmals die Impulsvektoren aller bei einer atomaren Reaktion auslaufenden Teilchen mit hoher Auflösung bestimmen kann. Damit können dynamische Abläufe sichtbar gemacht werden, die innerhalb der räumlichen Dimensionen eines Bruchteils eines Atomdurchmessers stattfinden. Die gewonnenen Daten erlauben Einblicke in die Dynamik atomarer Reaktionen mit bisher nicht erreichter Vollständigkeit und sollen helfen, eine der ältesten und schwierigsten Fragestellungen in der Physik zu lösen: das quantenmechanische Mehrkörper-Problem (Nature, 6. März 2003).

Das quantenmechanische Mehrkörper-Problem ist für unser Verständnis der Natur im Allgemeinen von grundlegender Bedeutung. Dabei geht man davon aus, dass fundamentale Kräfte grundsätzlich nur zwischen zwei Teilchen zur gleichen Zeit wirken können. Das führt zu der Frage, wie sich Systeme mit mehr als zwei Teilchen unter dem Einfluss der paarweise wirkenden Kräfte tatsächlich verhalten, was man in der Physik als Mehrkörper-Problem bezeichnet.

Ein klassisches Beispiel für ein Mehrkörper-Problem sind die Bewegungen der Planeten um unsere Sonne. Die dazugehörigen klassischen Bewegungsgleichungen sind analytisch nicht berechenbar, allerdings kommt man der exakten Lösung numerisch heute durch den Einsatz von Computern sehr nahe. Das diesem Beispiel im Makrokosmos entsprechende Pendant in der mikroskopischen Welt der Quantenteilchen sind atomare Reaktionen. Dazu gehören unter anderem Zusammenstöße von geladenen Teilchen, z.B. Elektronen oder Ionen, mit einzelnen Atomen, die sich selbst wiederum aus einem Atomkern und Elektronen zusammensetzen. Die Quantenmechanik liefert mit der zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung ein klar umrissenes Fundament für die Lösung dieser Frage. Doch ihre mathematische Behandlung stellt sich als so schwierig heraus, dass selbst die größten derzeit zur Verfügung stehenden Computer mehrere hundert Jahre beschäftigt wären, um ein spezielles Mehrkörper-Problem vollständig zu lösen.

Deshalb ist man auf Näherungen angewiesen. Im Allgemeinen geht man dabei von den paarweisen Kräften zwischen den beteiligten Teilchen aus und vernachlässigt andere Wechselwirkungen entweder vollständig oder berücksichtigt sie nur annäherungsweise. Etwas ähnliches tut man, wenn man die Bewegung des Mondes um die Erde beschreiben will und hierbei die Anziehung durch die Sonne außer acht lässt. In manchen Fällen funktioniert ein solches Herangehen sehr gut, in anderen wiederum versagt es vollständig. Für die Beschreibung von atomaren Reaktionen, also die Welt der Quantenteilchen, wird die Situation noch dadurch erschwert, dass uns unsere intuitiven klassischen Bilder teilweise in die Irre führen. Experimentelle Daten sind deshalb von entscheidender Bedeutung, nicht nur um bereits vorhandene theoretische Überlegungen zu testen, sondern auch um herauszufinden, welche Wechselwirkungen zwischen den Teilchen wichtig und welche von untergeordneter Bedeutung sind.

In ihrem Experiment haben die Heidelberger Wissenschaftler Helium-Atome mit Kohlenstoff-Ionen aus einem Beschleuniger beschossen und die Emission von Elektronen untersucht. Im Gegensatz zu früheren Messungen konnten sie erstmals dreidimensionale Bilder der emittierten Elektronen unter definierten kinematischen Bedingungen aufnehmen. Bis dato waren solche kinematisch vollständigen Experimente, bei denen die Impulse aller an einem Stoß beteiligten Teilchen bestimmt werden, nur für eingeschränkte Geometrien und nur für den Elektronenstoß möglich. Für sehr schnelle und schwere Projektile, wie die in diesem Experiment benutzten, auf 50 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigten Ionen, ist es bisher noch nie gelungen, die Kinematik vollständig zu vermessen. Das lag vor allem daran, dass man die Ablenkung des Projektils aus seiner ursprünglichen Richtung nicht direkt messen konnte. Ähnlich wie bei einer Gewehrkugel, die auf ein Staubkorn trifft, sind die aus dem Stoß resultierenden Ablenkwinkel und der relative Energieverlust winzig. Bei dem beschriebenen atomaren Stoß-Experiment würde ein Beobachter, der in einem Abstand so groß wie der zwischen Erde und Mond hinter der Reaktionszone steht, nur eine Auslenkung des Projektils von etwa einem Meter aus seiner ursprünglichen Bahn beobachten.

Mit den erst vor kurzem entwickelten Reaktions-Mikroskopen können solche winzigen Ablenkungen nun erstmals gemessen werden. Dabei werden die Impulsvektoren der atomaren Bruchstücke mit extrem hoher Auflösung registriert und die Änderung des Projektil-Impulses mit Hilfe der Impuls- und Energieerhaltung bestimmt. Die neuen Messergebnisse widerlegen die bisherige Auffassung, dass in Stößen von Atomen mit sehr schnellen geladenen Teilchen einzig die Wechselwirkung des Projektils mit dem Elektron wichtig sei und die Kraft zwischen dem Projektil und dem Atomkern vernachlässigt werden könne. Mit konventionellen experimentellen Methoden war dies nicht feststellbar, weil man sich auf geometrische (zweidimensionale) Schnitte beschränken musste, bei denen dieser Effekt nicht auftauchte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auch in den theoretischen Modellen die Projektil-Atomkern-Wechselwirkung bisher nicht berücksichtigt wurde. Die von den Max-Planck-Wissenschaftlern gewonnenen Daten zeigen nun, dass diese Näherung nur in Einzelfällen gültig ist und unter bestimmten Umständen sogar völlig falsche Ergebnisse liefert. "Unsere Forschungsergebnisse sind somit eine große Herausforderung an die Theorie, die Bewegung eines Systems von mehreren Quantenteilchen unter Berücksichtigung der zwischen allen wirkenden Kräfte in hinreichender Näherung zu beschreiben," meint R. Moshammer, der Leiter dieser Experimente.

Zur Redakteursansicht