Ein Wurm mit fünf Gesichtern

Max-Planck-Wissenschaftler entdecken neue Fadenwurm-Art auf La Réunion

Seit nunmehr acht Jahren kommen Ralf Sommer und Matthias Herrmann mit ihrem Team zu Forschungsarbeiten auf die Insel La Réunion im Indischen Ozean. Nun haben die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen dort eine neue Fadenwurm-Art entdeckt. Die winzigen Würmer leben in den Früchten von Feigenpflanzen und sehen auf den ersten Blick völlig unterschiedlich aus. Es handelt sich aber um eine einzige Art, die fünf verschiedene Mundformen ausbilden kann. Welche Mundform gebildet wird, bestimmt ausschließlich die Nahrungsquelle. Genetisch sind die Fadenwürmer völlig identisch. Damit sind sie ein extremes Beispiel für die Evolution innerhalb einer Art.

Die von den Wissenschaftlern entdeckten Fadenwürmer leben im Innern von Feigen und gelangen als blinde Passagiere mit Feigenwespen bei der Bestäubung auf neue Feigenblüten. Das Team um Ralf Sommer, Direktor der Abteilung Evolutionsbiologie am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, verlieh der neuen Art den Namen Pristionchus borbonicus nach der Île Bourbon, wie La Réunion bis 1848 hieß.

Zu ihrer großen Überraschung fanden die Forscher heraus, dass die Würmer in den Feigen fünf unterschiedliche Mundformen aufwiesen. Anfänglich hielten sie sie daher für Angehörige unterschiedlicher Arten. In der klassischen Morphologie, also der Lehre von Struktur und Form von Organismen, werden Arten unter dem Mikroskop betrachtet und anschließend beschrieben. Nur mithilfe einer Erbgutanalyse ist es den Tübinger Wissenschaftlern gelungen, die fünf verschiedenen Mundformen alle dem neu beschriebenen Pristionchus borbonicus zuzuordnen.

Dies ist ein extremes Beispiel für Evolution innerhalb einer Art und für Formenreichtum bei genetischer Gleichheit. Interessanterweise fanden die Forscher Fadenwürmer derselben Gruppe auch noch in Feigen aus Vietnam und Südafrika, was darauf hindeutet, dass die Bindung an Feigen ein weit verbreitetes Phänomen ist. „Die vielen Formen von Pristionchus borbonicus, die wir jetzt gefunden haben, sind auf unterschiedliche Nahrungsquellen spezialisiert. Das heißt, sie besetzen als Bakterien- oder Hefefresser sowie Räuber anderer Fadenwürmer unterschiedliche ökologische Nischen im Inneren der Feige“, erklärt Sommer. „Mit diesem Team von Spezialisten hat sich die Art ein richtig großes Nahrungsspektrum erschlossen und kann so auf Schwankungen im Nahrungsangebot schnell reagieren.“

Sommer und seine Mitarbeiter forschen schon lange an Würmern der Gattung Pristionchus. Die Art Pristionchus pacificus lebt auf Käfern und kann je nach Nahrungsangebot zwei unterschiedliche Mundformen ausbilden. Dadurch entwickelt der Wurm entweder ein kurzes, breites oder ein langes, dünnes Maul. Die Breitmaulvariante mit einem charakteristischen Zahn ist für Raubzüge geeignet. Die schmalen Mundwerkzeuge dienen dagegen bevorzugt dem Abgrasen bakterieller Nahrung. Welchen der beiden Entwicklungswege eine Pristionchus-Larve einschlägt, entscheiden dabei nicht die Gene, sondern die Umwelt.

Die kleine Feigenfrucht erweist sich damit als ein hochkomplexes, ko-evolviertes Ökosystem, das über die Feigenwespe von zahlreichen Bakterien, Hefen und anderen Einzellern sowie offenbar auch von diversen Fadenwurmarten besiedelt wird. Die Rolle, die Pristionchus borbonicus in diesem System spielt, ist ein äußerst spannender Forschungsgegenstand für die Tübinger Wissenschaftler. Sie planen bereits ihre nächste Reise nach La Réunion, um weitere Feigenarten und Nematoden zu finden.

NW/HR

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