Ein Hauch von Unsterblichkeit

Ewiges Leben ist verdammt lang. Trotzdem kann Ralf Schaible vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock schon heute sagen, dass der Süßwasserpolyp Hydra diesem Ideal ziemlich nahe kommt. In einem von Institutsdirektor James W. Vaupel initiierten Langzeitexperiment untersuchen er und seine Kollegen, warum Hydra unter bestimmten Umständen nicht altert.

Die Süßwasserpolypen im Rostocker Max-Planck-Institut bekommen wirklich alles für ein langes Leben. Denn für „das Experiment“, wie Ralf Schaible es nennt, kann er nur glückliche Tiere gebrauchen. Für die nicht einmal einen Zentimeter langen, stecknadeldünnen Tierchen schafft Schaible deshalb paradiesische Zustände: „Wir pampern sie mit allem, was sie sich nur träumen können.“ Mehrere seiner Mitarbeiter sind mit der Fütterung der rund 1800 Polypen beschäftigt. Mit hauchfeinen Pipetten verabreichen sie ihren gläsern wirkenden Forschungsobjekten deren Leib- und Magenspeise direkt auf die Tentakeln: kleine Krebstiere. Immer die gleiche Ration, frei Haus, dreimal wöchentlich. Und das seit nunmehr fast zehn Jahren.

Der Hydra scheint es ziemlich zu munden. Unter diesen Bedingungen hat sie nun ihr Geheimnis preisgegeben: „Hydra altert nicht“, resümiert Schaible die spektakuläre Erkenntnis aus dem Experiment, „sie hat über all die Jahre hinweg eine konstante Sterblichkeitsrate.“ Das schien bislang, wissenschaftlich gesehen, unmöglich.

Altern, Sterblichkeit, Unsterblichkeit: Diese Themen faszinieren den Menschen nicht erst seit der Ära der Postpostpost-Moderne. Aus gutem Grund: Ringe pflügen sich immer tiefer unter die Augen. Haut und Bindegewebe schlaffen ab. Falten pflastern Hals und Gesicht. Die Lesebrille sitzt wie ein Seniorenausweis über der Nase. Das Gedächtnis funktioniert nicht mehr so flott wie früher. Der Sprint zur nächsten Bushaltestelle gleicht eher einem müden Trab.

Nein: Ein Vergnügen ist Altern nicht. Und mit jedem Tag steigt das Risiko zu sterben. Einige Zeitgenossen empfinden den Prozess als beängstigend. Andere Menschen verkünden selbstsicher, ihnen sei es egal – obwohl vielleicht auch sie morgens vorm Spiegel so klammheimlich wie akribisch die Falten mustern. Und wer weiß: Vielleicht hoffen auch sie insgeheim, dass die Wissenschaft eines Tages den Lauf der Dinge stoppen kann. So wie die Alchemisten des Mittelalters, die nach dem Elixier für das ewige Leben suchten. Das allerdings war und ist nach Ansicht von Ralf Schaible vergebliche Liebesmüh: „Unsterblichkeit halte ich für unmöglich“, sagt der Mann, „selbst bei einem Organismus wie der Hydra.“

Hydra besitzt wahrlich erstaunliche Eigenschaften – genauso wie ihre Namensgeberin aus der griechischen Sagenwelt. Jenes vielköpfige Ungeheuer, dem für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue Köpfe nachwachsen. Der Kopf in der Körpermitte ist zudem unsterblich.

Wie sein mythologisches Vorbild ersetzt auch der Süßwasserpolyp verloren gegangene Körperteile. „Aber warum kann der das und andere nicht?“, fragt sich Schaible leicht versunken. Hat damit die extreme Langlebigkeit von Hydra zu tun?

Davon ist der Forscher mehr und mehr überzeugt, je weiter das Experiment fortschreitet, das am 1. März 2006 begann und am 31. Dezember 2017 sehr wahrscheinlich enden wird. Damals begannen die Forscher, Hydra 1 aus Kohorte Nummer 1 und alle daraus hervorgegangenen Nachfahren zu verwöhnen.  

Jedes Tier bewohnt für sich eine Schale Wasser mit Mineralstoffen bei konstanten 18 Grad Celsius. Es bekommt stets die gleiche Futtermenge und lebt im Rhythmus eines normalen Tages mit Licht und Dunkelheit. Dass sie in ihren Laborschalen nicht von Fischen oder anderen Tieren gefressen werden, komplettiert das Luxusleben.

Langzeitexperiment in der Petri-Schale

Gleich nach Start des Experiments begann Hydra 1 sich ungeschlechtlich zu vermehren. Die Forscher sammelten ihre Sprösslinge ein und gaben ihnen ebenfalls „Einzelzimmer“ – bis heute mehr als 1800-mal. Trotzdem gibt es Tote. Die meisten sind Laborunfälle, etwa wenn Individuen an dem Deckel der Schalen kleben bleiben und austrocknen oder zu Boden fallen. Manch eine Hydra stirbt aber auch eines natürlichen Todes: Sie hört dann auf zu fressen und verkürzt ihre Fangarme. Als Nächstes beginnt dann der ganze Körper zu schrumpfen, nach ein bis zwei Wochen löst sich das Tier in seine Bestandteile auf. „Diese Form des Sterbens“, sagt Schaible, „haben wir bisher aber nur sehr selten beobachtet.“

Die Wissenschaftler bestimmen darüber hinaus die asexuelle Fortpflanzungsrate. Dabei zählen sie jedes neue Tochterindividuum. „Bis heute sind auf diese Weise mehr als 30 000 genetisch identische Polypen entstanden“, sagt Schaible. Von mehr als 1800 Individuen besitzt er detaillierte Daten. Das produktivste Tier hat bislang 341 Nachkommen hervorgebracht, andere nur zehn oder 20.

Mit ihrem Langzeitexperiment wollen die Forscher die natürliche Sterblichkeit der Tiere über viele Jahre hinweg ermitteln. Aus der Anzahl der jährlichen Toten berechnen sie die Sterbewahrscheinlichkeit für jedes Alter. Dieser Faktor interessiert Demografen von jeher. Beim Menschen ändert sich die Sterbewahrscheinlichkeit kontinuierlich. Meist steigt sie an. Die Änderung der Sterbewahrscheinlichkeit nennen Demografen dann Altern.

In diesem Sinne analysieren die Wissenschaftler im Arbeitsbereich Evolutionäre Biodemografie unter James Vaupel seit geraumer Zeit auch die Sterbewahrscheinlichkeiten von Tieren. Für Biologen wie Schaible eine „ganz andere Welt, in die ich mich erst einmal reindenken musste“, wie der Wahl-Rostocker es ausdrückt. Für gewöhnlich betrachten Naturwissenschaftler Altern eher physiologisch und auf der Ebene von Zellen und Molekülen: Muskelkraft und Stoffwechselraten nehmen im Laufe des Lebens ab, das Erbgut verändert sich und so weiter.

Schaible erkannte jedoch, dass das Hydra -Experiment die Chance bot zu zeigen, dass Organismen ganz unterschiedlich altern und sterben. Und so führt das Rostocker Team seit neun Jahren akribisch Buch darüber, wann die Polypen geboren werden und wann sie sterben. Inzwischen wissen sie: „Hydra hat ein konstantes Sterberisiko, sie altert nicht, weil ihre Sterblichkeit sich mit steigender Lebenszeit nicht verändert.“

Das heißt: Egal, ob ein Individuum erst ein Jahr alt ist oder neun: Sein Risiko zu sterben bleibt gleich.

Außerdem ist die Sterblichkeit erstaunlich niedrig, vor allem für ein so kleines Tier. Pro Jahr stirbt nur eines von rund 220 Tieren. Alle anderen machen weiter und weiter und weiter. Der Polyp besitzt daher eine Lebenserwartung von mehreren Jahrhunderten – ist also nicht unsterblich, aber fast. „Man könnte meinen, dass für so einen kleinen, zerbrechlichen Organismus schon zehn Jahre eine Ewigkeit sein müssen“, sagt Schaible.

„Die Fachwelt“, räumt der Forscher ein, „hat unsere Ergebnisse zunächst einmal belächelt.“ Zu einfach sei das Experiment gestrickt. Doch die Kritik ebbt allmählich ab – die Daten sind schlicht zu eindeutig. Sie stützen die These, dass Alterungsprozesse extrem plastisch sind und von Genen sowie von Umweltbedingungen beeinflusst werden.

Vielfalt im Altern

Lebewesen altern also unterschiedlich – eine Erkenntnis, die der gängigen Theorie widerspricht, dass nach Eintritt der sexuellen Reife die Sterblichkeit zunimmt, während die Fruchtbarkeit abnimmt. Die Daten zur Sterbewahrscheinlichkeit und Fortpflanzung von 46 Arten, die James Vaupel und seine Kollegen des Max-Planck-Instituts in Rostock und des Max-Planck Odense Center on the Biodemography of Aging im dänischen Odense ermittelt haben, zeigen die Vielfalt an Alterungsmustern in der Natur.

Bei Primaten wie Pavianen und Schimpansen folgt die Sterbewahrscheinlichkeit dem klassischen Verlauf und ähnelt der des Menschen. Bei anderen Arten – etwa der Koralle Farbwechselnde Gorgonie, der Eiche oder der Kalifornischen Gopherschildkröte – nimmt das Sterberisiko sogar bis ins hohe Alter kontinuierlich ab – wahrscheinlich weil sie immer größer werden und damit Fressfeinden immer besser widerstehen können. Bei vielen Vögeln steigt das Todesrisiko zunächst an, um dann auf einem konstanten Niveau zu verharren. Die konstante und extrem geringe Sterblichkeit von Hydra ist jedoch einzigartig im Tierreich.

„Die Alterungsprozesse variieren aber auch innerhalb einer Art oder einer Tiergruppe“, erklärt Schaible. Japanische Biologen haben beispielsweise die Art Hydra oligactis untersucht. Bei 18 Grad Wassertemperatur produzieren die Tiere emsig Knospen und altern nicht. Bei 14 Grad dagegen beginnt die Art, sich sexuell fortzupflanzen. Das heißt, die Tiere produzieren nur noch Eier und Spermien und sterben nach fünf Monaten. In diesem Fall steigt die Sterbewahrscheinlichkeit mit der Zeit – wie beim Menschen. Bei anderen Hydra-Arten nimmt im gleichen Experiment die Sterblichkeit dagegen nicht zu. Sexuelle Fortpflanzung verkürzt bei Hydra also die Lebenserwartung nicht generell.

Ob die unterschiedliche Sterblichkeit nur eine Anpassung an niedrigere Temperaturen oder ein echter Alterungseffekt ist, wissen die Forscher daher noch nicht. Offenbar stimmt aber die alte Vorstellung nicht, dass sich in den Zellen eines Organismus über die Jahre Mutationen und andere Schäden ansammeln, an denen er dann zwangsläufig stirbt.

Dank ihrer enormen Regenerationsfähigkeit kann Hydra unter den luxuriösen Laborbedingungen diesem Verfall entkommen. Schneidet man einen Süßwasserpolypen in zwei Hälften, wachsen in zwei bis drei Tagen zwei vollständige neue Individuen nach. Selbst wenn man das Tier in fünf Stücke teilt und lediglich 500 Zellen übrig bleiben, kann es sich schnell und präzise regenerieren.

Diese Fähigkeit zur Selbsterneuerung verdankt sie Stammzellen, von denen Hydra mehr besitzt als spezialisierte Körperzellen. Diese Stammzellen teilen sich zeitlebens und produzieren alle Zelltypen, die für die Neubildung oder Regeneration eines Körpers oder einzelner Körperteile nötig sind. Ihr Körper erneuert sich dadurch laufend, sodass Hydra trotz steter Fortpflanzung immer älter werden kann, ohne zu verfallen.

Hydra produziert durch Knospung ständig genetisch identische Nachfahren. Viele genetisch identische Individuen verringern die Wahrscheinlichkeit, dass das Erbgut eines einzelnen Tiers durch widrige Umweltbedingungen ausgelöscht wird. „Offenbar zahlt unsere Hydra keinen Preis für ihre verlängerte Lebenszeit, die asexuelle Vermehrung ist gleichzeitig ihr Jungbrunnen“, so Schaible.

Möglicherweise ist die Quasi-Unsterblichkeit im Labor auch lediglich ein Nebenprodukt von Anpassungen, welche den Tieren in der Natur helfen zu überleben. Beispielsweise sichert die stetige Neubildung genetisch identischer Nachkommen den Fortbestand des Erbgutes selbst bei hoher umweltbedingter Sterblichkeit. Außerdem erhöht die außerordentliche Regenerationsfähigkeit die Überlebensrate der Polypen, wenn sie beispielsweise von Fressfeinden wie etwa Schnecken angeknabbert werden.

Erneuerung durch Stammzellen

Parallel zum Langzeitexperiment haben die Rostocker Forscher einige kürzere Studien gestartet, um herauszufinden, warum ihre Schützlinge nicht altern. Sie haben die Polypen leichtem Stress ausgesetzt, sie erst normal gefüttert, dann 60 Tage fasten lassen und dann wieder mit Krebsen versorgt. Ergebnis: Die Tiere pflanzen sich effizienter fort. Sie haben also an Lebensenergie gewonnen und sie sinnvoller eingesetzt, was ihr Leben womöglich weiter verlängert.

In einem weiteren Experiment haben die Wissenschaftler die Polypen mit schädlichem UV-Licht bestrahlt oder mit aggressivem Wasserstoffperoxid behandelt. Beides belastet die Tiere erheblich, 30 Prozent starben daraufhin sofort ab. Manche waren deformiert, bildeten mehrere Köpfe oder hatten aufgeschlitzte Tentakel, die meisten haben sich aber wieder erholt und ihre alte Gestalt angenommen. Die Forscher wollten nun wissen, was mit den Schäden passiert, wenn sich die Polypen wieder regenerieren.

„Hydra scheint eine intakte Stammzelle von einer geschädigten Zelle unterscheiden zu können. Auf die Schäden reagiert sie dann unterschiedlich“, erklärt Schaible. Sind wenige Zellen geschädigt, werden sie in Fuß und Tentakel verfrachtet, wo sie sich spezialisieren und aufgrund der kurzen Lebensspanne von Körperzellen früher oder später sterben.

Wenn aber zu viele malträtierte Stammzellen den Organismus überschwemmen, wählen die Tiere zwischen zwei unterschiedlichen Strategien: Die einen verhalten sich egoistisch und schieben die lädierten Zellen ab. Sie sammeln sie in den Knospen, aus denen sich neue Hydren bilden. „Dadurch werden die Polypen schadhafte Zellen los und leben möglicherweise länger“, sagt Schaible. Die anderen opfern sich in einem selbstlos erscheinenden Akt: Sie packen die wenigen intakten Zellen in die Knospen, aus denen daraufhin gesunder Nachwuchs erwächst. Sie selbst gehen zugrunde.

Durch weitere Experimente wollen die Forscher ermitteln, welche Moleküle hinter der Langlebigkeit ihrer Schützlinge stecken. Im Blick haben sie vor allem das Protein FOXO. So heißt ein sogenannter Transkriptionsfaktor, der die Aktivität vieler Gene reguliert – „eine Art Hauptschalter für Zellerneuerung und Langlebigkeit“, wie Schaible sagt. Mit speziellen Substanzen können die Wissenschaftler den Alterungsprozess von Hydra und wahrscheinlich auch die Aktivität von FOXO und anderen Genen verändern. Dadurch steigt die Sterblichkeitsrate der Tiere.

Für Schaible und seine Kollegen ist der extrem langlebige und nicht alternde Polyp ein faszinierender Fall von Langlebigkeit. „Wenn wir in so einem nicht alternden Organismus Gene für das Altern fänden, wäre das schon etwas ganz Besonderes.“            

 

Auf den Punkt gebracht:

Die Wahrscheinlichkeit zu sterben ist für den Süßwasserpolypen Hydra zeitlebens konstant – anders als beim Menschen, dessen Sterberisiko im Alter zunimmt.
Zeitlebens aktive Stammzellen verleihen Hydra die Fähigkeit, alte Körperzellen durch neue zu ersetzen. So kann sie die im Laufe der Zeit zunehmenden Zellschäden loswerden.

Glossar:
Hydra:
Die Gattung Hydra gehört zu den Nesseltieren, zu denen auch die Quallen zählen. Biologen kennen rund 20 Hydra-Arten, fünf davon in Deutschland. Sie leben in Teichen und Seen und nicht zu schnell fließenden Flussbereichen. Das Tier besteht aus einem Fuß, mit dem es sich am Boden verankert, und einem Kopf mit fünf bis acht Tentakeln. Diese Greifärmchen nutzt das Tier zum Beutefang. Auf den Tentakeln sitzen Nesselzellen, die bei Berührung gifthaltige Nesselkapseln herausschleudern.

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