Macht und Ohnmacht der Milliarden

24. Juli 2015

Zur politischen Ökonomie des Anleihen-Ankaufprogramms der Europäischen Zentralbank

Ein Meinungsbeitrag von Benjamin Braun

An die Tage zwischen dem 9. und 18. März 2015 wird man sich in Frankfurt noch lange erinnern. Die Europäische Zentralbank begann mit der Umsetzung ihres gigantischen Anleihen-Ankaufprogramms, in dessen Rahmen sie bis September 2016 jeden Monat Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Wert von 60 Milliarden Euro erwerben wird. Da dem von Wolfgang Streeck beschriebenen europäischen Konsolidierungsstaat jeglicher fiskalpolitische Handlungswille abhanden gekommen ist, stellt das geldpolitische „Quantitative Easing“ der EZB einen willkommenen Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung in der Eurozone dar. Dennoch schwappte wenige Tage nach dem Start des Programms eine Protestwelle von ungekannter Aggressivität durch die Stadt und gegen das neue Hauptquartier der EZB, das ihre neue Macht so anschaulich verkörpert. Der Deutsche Aktienindex erreichte unterdessen ein Rekordhoch von 12.000 Punkten – während die Medien nicht müde wurden, der EZB die Schuld für einen vermeintlichen „Anlagenotstand“ in die Schuhe zu schieben. Wie passt das alles zusammen?

Was ist Quantitative Easing?

Ähnlich wie bei früheren, kleineren Ankaufprogrammen erwirbt das Eurosystem festverzinsliche Wertpapiere zum Marktpreis und hält diese bis zur Rückzahlung des Nennwerts durch den Emittenten. Das Eurosystem, das sind die EZB und die nationalen Zentralbanken. Die Gegenparteien sind die Banken der Eurozone, aber auch Versicherer und Investmentfonds. Die Wertpapiere sind private Pfandbriefe und Asset-Backed Securities (unter anderem verbriefte Unternehmens- und Immobilienkredite), vor allem jedoch die Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsländer. Um den Marktpreis der Wertpapiere zu bezahlen, überweist das Eurosystem seinen Gegenparteien frisch geschaffenes Zentralbankgeld. Quantitative Easing bezeichnet also eine durch die Erhöhung der Zentralbankgeldmenge erwirkte geldpolitische Lockerung. Entscheidend für deren Wirksamkeit ist jedoch gar nicht so sehr die Erhöhung der Geldmenge, als vielmehr die dadurch erreichte Verringerung der im Umlauf befindlichen Qualitätsanleihen.

Diese gesteigerte Knappheit treibt den Preis von Staatsanleihen und drückt ihre Rendite, die den Leitwert für das langfristige Zinsniveau in der Volkswirtschaft darstellt. So soll Quantitative Easing die Finanzierungsbedingungen in der Volkswirtschaft in einer Situation lockern, in welcher der kurzfristige Zinssatz bereits bei Null steht. Die Maßnahme zielt darauf ab, die Nachfrage aus Investitionen, Konsum und aus dem Ausland (niedrigere Zinsen schwächen den Wechselkurs des Euro) zu stimulieren und so die Preissteigerungsrate in Richtung des Inflationsziels von knapp unter zwei Prozent anzuheben. Darüber hinaus soll das Absinken der Renditen risikoarmer Anleihen Banken und Investoren dazu bewegen, ihre Portfolios in Richtung weniger liquider (Kredite, Immobilien) oder risikoreicherer (Aktien) Anlageformen umzuschichten, mit tendenziell positiven Auswirkungen auf die Nachfrage der Haushalte und Unternehmen. Die Gefahr der Blasenbildung in diesen Anlageklassen ist real und stellt ein kalkuliertes Risiko dar, das Zentralbanken mit dieser Politik eingehen.

Wer profitiert?

So er denn eintritt, ist der Konjunktureffekt von Quantitative Easing die Folge einer gezielt herbeigeführten Vermögenspreisinflation. In einer „Bilanzrezession“, wie sie in weiten Teilen der Eurozone immer noch spürbar ist, macht dies durchaus Sinn: Höhere Vermögenspreise stärken die Bilanzen der Besitzer von Finanz- und Immobilienvermögen, die in der Folge, so die Theorie, ihre Investitions- beziehungsweise Konsumausgaben erhöhen.

Die Besitzer von Vermögen profitieren also überproportional von den Anleihenkäufen der EZB? Wie lässt sich das vereinbaren mit der deutschen Hysterie über den angeblich von der EZB verursachten „Anlagenotstand“? Hierzu zwei Anmerkungen. Zunächst zu der Frage, wer die „Schuld“ trägt am niedrigen Zinsniveau. „Die Notenbanken warn’s“, fasst die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 21. März 2015 den Konsensus in der deutschen Presse zusammen. „Weltweiter Pessimismus“, hält der Ökonom Robert Shiller in derselben Ausgabe dagegen – Zentralbanken seien überschätzt. Volkswirte wie Larry Summers oder Carl Christian von Weizsäcker sehen in Stagnation und Nullzinsen sogar einen Dauerzustand in alternden Gesellschaften mit chronisch schwacher Nachfrage. Man mag damit hadern, dass Zentralbanken mit Hilfe von Quantitative Easing die Zinsen um einen weiteren halben Prozentpunkt nach unten drücken – das Zinsniveau in der aktuellen Situation dauerhaft anzuheben, liegt dennoch nicht in ihrer Macht. So lange Unternehmen nicht in produktives Kapital investieren, woher sollten die Renditen kommen, die höhere Sparbuchzinsen finanzieren würden?

Die zweite Anmerkung richtet sich auf die Frage, wie das Finanzvermögen der Reichen wachsen kann, während die Mittelschicht das Schrumpfen ihrer Ersparnisse beklagt. Die Gründe sind in erster Linie im unterschiedlichen Anlageverhalten der beiden Gruppen zu suchen. Erstere legen ihr Vermögen in Aktien, Rentenpapieren und Immobilien an, letztere beschränken sich weitgehend auf das „Banksparen“ und „Versicherungssparen“. Um zwei wenig hilfreiche, in der öffentlichen Debatte aber geläufige Begriffe zu verwenden: Die „Sparer“ leiden unter den niedrigen Sparbuch- und Lebensversicherungszinsen, welche nichts anderes sind als die Kehrseite des Ansteigens der Wertpapierpreise durch Quantitative Easing, das unmittelbar die Nettovermögensposition von „Investoren“ verbessert.

Dabei ist die konservative Haltung deutscher Sparer letztlich aber nicht mehr als ein verschärfender Faktor für ein tiefer liegendes Problem: Ein über den Vermögenseffekt wirkendes Konjunkturprogramm begünstigt in erster Linie die Vermögenden. Selbstverständlich profitieren in dem Maße, in dem Quantitative Easing die Konjunkturlage und die Beschäftigung verbessert, auch und vor allem einkommensschwächere Schichten. Dennoch liegt hier ein entscheidender Unterschied zwischen fiskalischen Ausgabe- und monetären Ankaufprogrammen: Erstere sind Einkommenspolitik für Lohnempfänger, letztere, überspitzt formuliert, Einkommenspolitik für Rentiers. Im nach wie vor prekären wirtschaftlichen Umfeld der Eurozone wäre es unverantwortlich, den Strohhalm, den Quantitative Easing bietet, nicht zu ergreifen. In Zeiten dramatisch anwachsender Ungleichheit tun Sparer, Wählerinnen und Aktivisten dennoch gut daran, sich einer dauerhaften Aufnahme dieser Maßnahme in den Werkzeugkasten makroökonomischer Stabilisierungspolitik zu widersetzen.

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