Künstlicher Kristall: Magnetismus im WM-Fieber

In einem optischen Gitter lassen sich mit Rydbergatomen magnetische Kristalle erzeugen

26. März 2015

Man kennt es aus dem eigenen Lebensumfeld: Die Beziehungen zwischen Nachbarn können intensiv und zugleich von Empfindlichkeiten geprägt sein. So ähnlich kann man sich komplexe Quantensysteme vorstellen – besonders, wenn es um Magnetismus geht. Ein solches System erforscht ein von Christian Groß geleitetes Team in der Abteilung von Immanuel Bloch, Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching. Inspiriert ist es von den Kristallen magnetischer Festkörper. Doch der künstliche Kristall der Garchinger besteht aus einem Gitter aus Laserlicht, das Rubidiumatome gefangen hält. Die Forscher pumpen einige dieser Atome mit speziellem Laserlicht zu exotischen Riesenatomen auf. Diese formen Quantenkristalle, deren Verhalten nicht nur grundlegende Fragen zum Magnetismus beantworten kann.

Normaler Magnetismus, wie er sich etwa in Eisen findet, ähnelt dem Zustand einer Reihenhaussiedlung während einer Fußballweltmeisterschaft. In jedem Haus läuft die Live-Übertragung, und sobald die deutsche Nationalmannschaft ein Tor schießt, ertönen kollektiv Jubelschreie aus den offenen Fenstern. In kristallinen Festkörpern, zu denen normale Magnete zählen, stellen die zum Magnetismus beitragenden Atome eine an Reihenhäuser erinnernde Ordnung dar. Wie winzige Kompassnadeln richten sich bestimmte Elektronen dieser Atome in einer Richtung aus. Sie vereinigen sich zum kollektiven Magnetismus, so wie die Jubelschreie aus den Häusern sich zu einem mächtigen kollektiven Aufschrei aufschaukeln.

Dieser bekannte Magnetismus heißt Ferromagnetismus, nach dem lateinischen Wort ferrum für Eisen. Es gibt auch andere Formen: Beim Antiferromagnetismus richten sich die benachbarten elektronischen Kompassnadeln gegensinnig aus. Das entspräche einer Reihenhaussiedlung, in der jeder zweite Nachbar Anhänger der gegnerischen Fußballmannschaft wäre – und das Spiel unentschieden ausginge.

Durch Herumschrauben an Quantensystemen lernen Physiker viel

Zwischen diesen beiden magnetischen Extremen gibt es noch viele Zwischenformen des Magnetismus. Zudem spielen solche kollektiven Quanteneffekte auch in anderen physikalischen Phänomenen eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei der Supraleitung: einem Zustand, in dem manche Stoffe bei tiefen Temperaturen elektrischen Strom ohne Widerstand leiten. Deshalb ist ihre Erforschung so wichtig. Doch echte Kristalle aus fest miteinander verbundenen Atomen haben mehrere Nachteile: Es ist schwierig, in Experimenten tief in sie hinein zu schauen, und es sind immer gigantisch viele Atome und Elektronen beteiligt. Vor allem können die Forscher die Wechselwirkungen, die zu einem kollektiven Phänomen wie Magnetismus führen, kaum beeinflussen. Gerade durch dieses Herumschrauben an Quantensystemen können Physiker aber viel über die Quantenwelt lernen.

Deshalb setzen Wissenschaftler Hoffnung auf künstliche Kristalle aus überschaubar vielen Atomen, die gut zugänglich sind. Vor allem lassen sich deren Wechselwirkungen untereinander wunderbar manipulieren. Mit einem solchen System arbeitet das Team von Christian Groß in Garching. Es besteht aus einer Wolke von 250 bis 700 Rubidiumatomen, die bei sehr niedrigen Temperaturen eingefroren werden. Weil die einzelnen Atome sich nur noch relativ langsam bewegen, lassen sie sich leicht einfangen. Gefangen werden die Teilchen durch ein Gitter von Laserstrahlen: An jedem seiner Kreuzungspunkte bleibt ein Atom hängen, was für eine an einen Kristall erinnernde Ordnung sorgt. Vor allem: Indem die Physiker trickreich zusätzliches Laserlicht einstrahlen, können sie nun die Wechselwirkungen zwischen den Atomen manipulieren – und sogar die Atome selbst.

„Das ist ein sehr sauberes System, in dem wir die einzelnen Vorgänge auf Quantenniveau detailliert studieren können“, sagt Christian Groß. Dieses neue Quantenwerkzeug ist so flexibel und mächtig, dass es sich längst von der reinen Simulation echter Festkörperkristalle emanzipiert hat. Das trifft besonders auf die neueste Forschungsarbeit des Teams um den Postdoktoranden zu.

Magnetische Wechselwirkungen als Trötkollektiv

Gemeinsam mit Theoretikern um Thomas Pohl vom Max-Planck-Institut für Physik Komplexer Systeme in Dresden haben sich die Garchinger Folgendes gefragt: Was würde passieren, wenn die Wechselwirkung zwischen magnetischen Atomen im Quantenkollektiv sehr weit reichen würde? Beim normalen Magnetismus ist diese Wechselwirkung auf kurze Strecken begrenzt: Vor allem die direkten Nachbarn beeinflussen sich gegenseitig. Eine lange Reichweite würde in unserer hypothetischen Reihenhaussiedlung einer Situation entsprechen, in der jeder zehnte Nachbar eine Vuvuzela hätte. Damit könnten sie sich über die Zwischenhäuser hinweg zu einem besonders lauten Trötkollektiv einstimmen. Würden nun allerdings auch die Nachbarn dazwischen zu Vuvuzelas greifen, dann wäre wiederum der Frieden so nachhaltig gestört, dass sich in der Siedlung keine Ordnung mehr einstellen könnte.

Ganz ähnlich verhält sich das Quantensystem, mit dem Groß‘ Team nun eine völlig neue Art von magnetischem Kristall geformt hat. Die Garchinger bestrahlten dazu die in dem Lichtgitter gefangenen Atome mit einem speziellen Laserlicht. Mit dessen Energie pumpten sie in einen Teil der Atome – einfach ausgedrückt – zu exotischen Riesenatomen auf. Solche Rydbergatome sind wie Vuvuzela-Besitzer in der Siedlung in der Lage, über viele Nachbaratome hinweg andere Atome zu beeinflussen.

„Solch ein Riesenatom ist tausend Mal größer als ein normales Atom“, erklärt Groß. Sein äußerstes Elektron ist extrem weit vom Kern entfernt und macht das Riesenatom zu einer Art Antenne. Damit kann es andere Rydbergatome, die ebenfalls wie Antennen wirken, beeinflussen, sodass sie eine gemeinsame, kristalline Ordnung bilden – so wie die Vuvuzela-Besitzer über viele Häuser hinweg zu einem koordinierten Tröten zusammenfinden. „Die Atome bleiben nur wenige Millionstelsekunden in dem Rydberg-Zustand“, erklärt Groß: „Aber das ist in der Quantenwelt eine extrem lange Zeit.“ Es reicht für eine schöne Ordnung.

Riesenatome formen einen magnetischen Kristall

Wie beim Plätzchenbacken stanzen die Garchinger aus der Wolke von einigen hundert im Lichtgitter gefangenen Rubidiumatomen wahlweise längliche oder kreisförmige Ausschnitte aus, in denen sie mit ihrem Laser einzelne Atome zu Rydbergatomen aufpumpen. In den länglichen Formen entstanden eindimensionale Ketten aus Riesenatomen, die zusammen einen magnetischen Kristall formten, aus den Kreisscheiben zweidimensionale Kristalle aus bis zu acht Rydbergatomen. Dabei zeigte sich, dass die Größe dieses Ausschnitts bestimmte, wie viele Riesenatome sich am Magnetismus beteiligten. Der Abstand zwischen diesen blieb immer gleich und entsprach ungefähr zehn Atomen des Lichtgitters. Beim eindimensionalen Ausschnitt formten in Stufen zwei, dann drei, schließlich vier Rydbergatome einen Quantenkristall.

Nun muss man noch wissen, dass normaler Magnetismus auf der Quantenebene einzelner Elektronen in Festkörpern nur zwei Zustände kennt: Wie Drehschalter können die Elektronen nur parallel oder antiparallel zum anliegenden Magnetfeld einrasten. Im System der Garchinger repräsentieren Rydbergatome den Schaltzustand parallel zum Magnetfeld. Antiparallel entspricht dagegen den Rubidiumatomen im Lichtgitter, wenn sie nicht zu Riesenatomen angeregt sind. Die Physiker können mit dem speziellen Laserlicht gezielt zwischen diesen beiden Quantenzuständen umschalten.

Die Garchinger haben ihr System also perfekt unter Kontrolle. Damit haben sie ein Werkzeug geschaffen, mit dem sie das Kollektivverhalten von solchen Quantensystemen genauer erforschen können. Dabei geht es nicht nur um ein tieferes Verständnis des Magnetismus. Im Prinzip kann dieses Werkzeug das Verhalten vieler komplexer Quantensysteme nachbilden. Vielleicht können sie als „Quantensimulatoren“ sogar helfen, tiefgehende Fragen auf anderen Gebieten wie etwa der Teilchenphysik zu  beantworten.

RW

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