Was Sterne in Galaxien bewegt

Ein neuer Mechanismus erklärt den seltsamen Umlauf von Sonnen in elliptischen Milchstraßensystemen

19. März 2015

Im All kommt es häufig zu kosmischen Unfällen: Zwei oder mehrere Scheibengalaxien kollidieren und formen elliptische Systeme. In ihnen gibt es Regionen, in denen die Sterne gerade anders herum das Zentrum umlaufen als im Rest der Galaxie. Bisherige Erklärungsversuche hatten eine spezielle relative Orientierung („retrograd“) der kollidierenden Galaxien vorausgesetzt. Athanasia Tsatsi, Doktorandin am Heidelberger Max-Planck-Institut für Astronomie, fand jetzt eine weitere Möglichkeit: Demnach wirkt der Massenverlust der beteiligten Galaxien ähnlich wie eine Art riesiger Raketenantrieb.

Elliptische Galaxien entstehen, wenn mindestens zwei Scheibengalaxien (zu denen auch unsere Milchstraße zählt) miteinander kollidieren und verschmelzen. In solchen Systemen spielt sich mitunter Ungewöhnliches ab: Während die Sterne in den äußeren Regionen sämtlich in eine Richtung rotieren, kann die gemeinsame Umlaufrichtung der Sterne in der Zentralregion eine ganz andere sein.

Wie kommt das? Man stelle sich vor, die Zentralregion einer der Vorläufergalaxien werde durch die Schwerkraft der darin versammelten Masse besonders gut zusammengehalten. Nun sei der Umlaufsinn der Sterne in jener Vorläufergalaxie gerade gegenläufig zu dem Umlaufsinn, mit dem die beiden Vorläufergalaxien sich vor der Verschmelzung umkreisten („retrograde Verschmelzung“).

Unter solchen Bedingungen ist es plausibel, dass die stabile Zentralregion nach der Verschmelzung das Herz der neuen elliptischen Galaxie wird, und dass die Sterne darin in genau der gleichen Richtung umlaufen wie vorher. Die umgebenden Sterne dagegen werden sich in die Gegenrichtung bewegen – dem Drehsinn folgend, in dem die Vorläufergalaxien vor der Verschmelzung umeinander kreisten. Dieses Modell scheint gut zu funktionieren, sagt allerdings eine geringere Anzahl an gegenläufigen Zentralregionen voraus, als man sie tatsächlich beobachtet.

Das war die Ausgangssituation, als Athanasia Tsatsi ihre Forschung als Doktorandin am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg begann und dazu Computersimulationen von Galaxienkollisionen auswertete. Tsatsis Ziel war eigentlich herauszufinden, wie die entstehenden elliptischen Galaxien durch verschiedene Arten astronomischer Beobachtungsinstrumente aussehen würden.

Stattdessen machte die junge Forscherin beim Blick durch solch ein „virtuelles Teleskop“ eine unerwartete Entdeckung: Die Galaxie, die bei der simulierten Verschmelzung entstand, wies zwar eine gegenläufige Zentralregion auf. Aber die Vorläufergalaxien hatten keineswegs die spezielle Orientierung, die dem herkömmlichen Erklärungsversuch zufolge Voraussetzung für die Entstehung der Gegenläufigkeit sein sollte.

Das Ergebnis der simulierten Verschmelzung passte aber zu dem, was aus Beobachtungen bereits bekannt war. Die resultierende elliptische Galaxie war mit 130 Milliarden Sonnenmassen eine der massiveren Vertreterinnen ihrer Gattung; gerade bei solchen massereichen elliptischen Galaxien sind gegenläufige Zentralregionen besonders häufig und langlebig: Im Computerprogramm ließen sie sich noch rund zwei Milliarden Jahre nach der Verschmelzung nachweisen.

In der Simulation sah Athanasia Tsatsi etwas, das all ihren Vorgängern entgangen war: Beim Umlauf der Zentralregionen der beiden Galaxien kommt ein Moment, in dem sich die Richtung umkehrt. Diese Umkehr findet statt, während die beiden Systeme aufgrund ihrer gegenseitigen Schwerkraftwirkung gerade signifikante Mengen an Masse – insbesondere auch Sterne aus ihren äußeren Regionen – verlieren.

Was in einer solche Galaxie passiert, hängt eng mit dem Spezialfall eines Problems zusammen, das der russische Mathematiker Iwan Wsevolodowitsch Mestschersky (1859 bis 1935) untersucht hatte: Punktteilchen, deren Massen sich mit der Zeit verändern und die sich unter ihrem wechselseitigen Schwerkrafteinfluss bewegen. Durch die Massenänderung kommen dabei zusätzliche Kräfte ins Spiel, die auch Mestschersky-Kräfte genannt werden.

Das bekannteste Beispiel für solche Kräfte tritt beim Raketenantrieb auf: Die Rakete stößt aus ihrer Düse heiße Gase aus; dadurch wirkt auf die Rakete eine Kraft in Gegenrichtung, und die Rakete wird beschleunigt. Das liefert die Erklärung dafür, dass selbst bei Galaxienfusionen mit einheitlicher Drehrichtung („prograde Verschmelzung“) gegenläufige Zentralregionen entstehen können: Der Massenverlust der beiden Galaxien hat dieselbe Wirkung wie ein gigantischer Raketenantrieb und kann stark genug sein, um die Umlaufrichtung der Sterne umzukehren, die sich am Ende in der Zentralregion der neu entstandenen Galaxie wiederfinden. Diese Art der Erzeugung gegenläufiger Zentralregionen nennt Tsatsi daher den Mestschersky-Mechanismus.

Athanasia Tsatsis Entdeckung betrifft zwar zunächst einen Einzelfall. Aber der genügt für den Nachweis, dass sich gegenrotierende Zentralregionen tatsächlich auf diese Weise bilden können. Als Nächstes müssen die Astronomen herausfinden, wie häufig Entstehungsprozesse dieser Art sind – indem sie Galaxienverschmelzungen mit den unterschiedlichsten Anfangsbedingungen untersuchen.

Wenn solche systematischen Tests zeigen, dass der Mestschersky-Mechanismus für die Entstehung gegenläufiger Zentralregionen oft genug in Erscheinung tritt, könnte dies die beobachtete Häufigkeit des Phänomens erklären – Theorie und Praxis wären im Einklang.

MP / HOR

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