Wie der Kapitalismus die Familie verändert

Geburten und Geburtenraten sind normalerweise Thema der Familiensoziologie oder der Demografie. Was haben sie in einem Forschungsprogramm zur politischen Ökonomie des modernen Kapitalismus zu suchen?

Ein Meinungsbeitrag von Wolfgang Streeck

Sehr viel – so viel, dass man sich nur schwer vorstellen kann, wie man sie ohne Bezug auf Politik und Wirtschaft auch nur annähernd verstehen soll. Im Folgenden ein paar Beispiele: Die niedrigen und sinkenden Geburtenraten in den reichen kapitalistischen Gesellschaften sind nicht nur Resultat eines erleichterten Zugangs zu wirksamen Mitteln der Empfängnisverhütung, sondern auch einer rapiden Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit seit dem Ende der 1960er-Jahre. Ohne sie wären die Geburtenraten trotz Empfängnisverhütung weit weniger stark gesunken, wenn überhaupt. Auch hat sich parallel zur Erwerbstätigkeit der Frauen und mit ihr zusammenhängend die Familienstruktur verändert; Ehen sind seltener geworden, Scheidungen und Zusammenleben außerhalb der Ehe häufiger. Und obwohl der Anteil der Kinder, die außerehelich geboren werden, in nahezu allen OECD-Ländern zunimmt – und in einigen die Zahl der unehelich geborenen Kinder die der ehelich geborenen schon heute deutlich übersteigt –, haben verheiratete Frauen immer noch mehr Kinder als nicht verheiratete.

Weitere Forschung ist nötig

Die Zusammenhänge zwischen weiblicher Erwerbsbeteiligung, Familienstrukturen und Geburten sind vielfältig und längst nicht zureichend erforscht. Ein eigenes Einkommen macht Frauen unabhängiger und hat gelockerte Partnerbeziehungen zur Folge. Letztere drücken, wenn alles andere gleich bleibt, auf die Geburtenrate, vor allem wenn prekäre Partnerschaften mit prekären oder auch besonders anspruchsvollen Beschäftigungsverhältnissen („Karrieren“) zusammentreffen. Dies gilt vor allem in der Mittelschicht, wo Frauen aus wirtschaftlicher Unsicherheit oder um ihres berufl ichen Fortkommens willen, oder weil der gewünschte Partner nicht in Sicht beziehungsweise auf ihn kein Verlass ist, auf Kinder verzichten oder die Geburt von Kindern aufschieben – nicht selten bis es zu spät ist. Am unteren Rand der Gesellschaft, wo Armut herrscht, nehmen die Kinderzahlen in prekären Verhältnissen wieder zu, weil Frauen einen Ausgleich dafür suchen, dass sie weder bei der Arbeits- noch bei der Partnersuche Erfolg haben.

Gesellschaften brauchen Nachwuchs, um sich zu erneuern und zu erhalten – wie viel Nachwuchs ist strittig. Unstrittig ist, dass die meisten reichen kapitalistischen Gesellschaften heute nicht mehr in der Lage oder nicht mehr bereit sind, den für eine konstante Bevölkerungszahl nötigen Nachwuchs selbst hervorzubringen; dies gilt sogar für bevölkerungspolitisch erfolgreiche Länder wie Schweden oder Frankreich. Gesellschaften, die die vom Tod laufend in sie gerissenen Lücken nicht selber zu füllen vermögen, können sich alternativ oder zusätzlich durch Einwanderung ergänzen. Einwanderer, wenigstens solche der ersten Generation, haben in der Regel höhere Geburtenraten als die einheimische Bevölkerung und tragen auch dadurch zur Stabilisierung der Bevölkerung bei. Der Preis dafür können sehr hohe Integrationskosten sein – die im traditionellen „Normalfall“ der Selbstergänzung von den einheimischen Familien getragen werden – sowie soziale Konflikte, wie sie zurzeit in einigen europäischen Ländern immer weiter zunehmen, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.

Kinder, Kosten und Konflikte

Gesellschaften, die sich als überaltert oder, mit dem Soziologen Franz-Xaver Kaufmann, „unterjüngt“ empfinden, können auch versuchen, trotz veränderter Sozialstrukturen für einheimischen Nachwuchs zu sorgen. Auch das hat aber Kosten, nämlich in Gestalt der Ersetzung von früher unbezahlter Familienarbeit durch öffentliche oder private Dienstleistungen, vor allem bei der Pflege von Kleinkindern. Da es um die nächste Generation geht, kann die Qualität der außerfamilialen Versorgung nie hoch genug sein, was die Kosten ständig nach oben treibt. Die Ausweitung der Arbeitsmärkte schlägt sich damit, über den Umweg der Ausgliederung eines großen Teils der Kinderpflege aus den veränderten Familienstrukturen, in den staatlichen Haushalten als Ausweitung der Staatstätigkeit nieder.

Staaten, die das nicht wollen, müssen ihre Arbeitsmärkte für Personen öffnen, die bereit sind, als private Kindermädchen den Nachwuchs der Mittelschicht zu versorgen – zu bezahlbaren, niedrigen Löhnen. In der Regel bedeutet dies zusätzliche Einwanderung, zusätzliche Konflikte und wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, wobei die Einwanderer auf zweierlei Weise zur Erhöhung der Kinderzahlen beitragen: durch ihre eigenen Kinder und indem sie für die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ bei besserverdienenden Paaren oder Individuen sorgen.

Gesellschaften, die Frauen wie Männer in „Karrieren“ einspannen und dabei den Arbeitseinsatz einer und eines jeden immer weiter steigern wollen oder müssen – auch, um gestiegene Humankapitalkosten zu amortisieren –, müssen in vielerlei Hinsicht umdenken. Da es immer weniger Ehen gibt, von stabilen Ehen gar nicht zu reden, müssen sie es unverheirateten Frauen erleichtern, auch ohne verlässlichen oder dauerhaften Partner Kinder zu haben. Unehelichkeit muss sozial möglich und sozialpolitisch ermöglicht werden – sonst treten Verhältnisse ein wie in Japan oder Italien, wo beides nicht gilt und wo deshalb die Geburtenraten niedriger sind als überall sonst in der OECD-Welt.

Die reichen kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart sind nicht nur Arbeits-, sondern auch Konsumgesellschaften. Konsumverhalten wird in ihnen kaum noch von materiellen Notwendigkeiten, sondern zunehmend von sozialen Normen bestimmt. Diese machen bestimmte, ebenso kostspielige wie Zeit beanspruchende Erlebnisse zur Voraussetzung für soziale Anerkennung und erheben sie so zu einer gesellschaftlichen Pflicht. Kinder, insbesondere mehrere auf einmal, erschweren die Ableistung obligatorischer Verbrauchs- und Erlebnispflichten, zumal wenn die Beschaffung der dafür erforderlichen materiellen Mittel intensives berufliches Engagement nötig macht. Bemühungen, jungen Paaren Kinder als Alternative zu Fernreisen oder SUVs schmackhaft zu machen, sind zwar vielerorts im Gang, scheinen aber bislang nur in engen Grenzen erfolgreich zu sein.

Auf dem Weg zum kapitalistischen Totalitarismus?

Die politische Ökonomie des Geburtenverhaltens in den Gesellschaften des fortgeschrittenen Kapitalismus wirft schwierige moralische Probleme auf, nicht nur in Bezug auf Einwanderung und bei der Reproduktionsmedizin und ihren Möglichkeiten, die Gebärfähigkeit von Frauen an deren „Karriere“ anzupassen. Ein Thema, dem man sich stellen muss, ist die immer häufigere, oft nur implizite, immer öfter aber auch explizite Forderung nach etwas, das ich als „soziale Eugenik“ bezeichnen möchte. Diese bestünde darin, Familien nach der zu erwartenden „Qualität“ der von ihnen produzierten Kinder und nicht mehr nach ihrem Bedarf staatlich zu unterstützen.

„Akademikerinnen“, so heißt es, bringen Kinder zur Welt, die als junge Erwachsene intelligenter, leistungsbereiter, angepasster und so fort sein werden als die, bedauerlicherweise, viel zahlreicheren Kinder von arbeitslosen Supermarktkassiererinnen auf Hartz IV. Sollte man diesen nicht die staatliche Unterstützung kürzen und das Geld jenen überweisen, damit die einen mehr und die anderen weniger Kinder bekommen? Man muss aber wissen: Wo zwischen guten und schlechten Kindern nach Maßgabe der voraussichtlichen Rentabilität ihres Humankapitals unterschieden wird, beginnt der kapitalistische Totalitarismus.

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