Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung

Der Umbauprozess im trabekulären Knochen

Autoren
Weinkamer, Richard
Abteilungen

Biomaterialien (Prof. Dr. Peter Fratzl)
MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam

Zusammenfassung
Lebender Knochen wird laufend durch An- und Abbau kleiner Knochenpakete erneuert. Dieser Umbauprozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzt Knochen die Fähigkeit sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Da sich Experimente äußerst schwierig gestalten, wird dieser Regelkreis mithilfe von Computermodellen intensiv studiert. Die Simulationen erlauben es, Entwicklungen in der Knochenstruktur durch Alterung von krankhaften Veränderungen zu unterscheiden. Über ein detailliertes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Regelkreis und resultierender Knochenstruktur besteht die Hoffnung, Knochenerkrankungen näher „an ihrer Wurzel packen“ und therapieren zu können.

Einleitung

Eine besondere Stärke und gleichzeitig faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch das menschliche Skelett [1]. Als Reaktion auf veränderte mechanische Belastungen, ursächlich etwa durch regelmäßige Sportaktivitäten, ändert der Knochen seine Struktur und „optimiert“ seine Form auf die Funktion des Lasttragens. Die Natur folgt also auch dem Bauhaus-Motto: „form follows function“. Die Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Anpassungsfähigkeit der Struktur biologischer Systeme an mechanische Anforderungen auseinandersetzt, wurde Mechanobiologie getauft [2]. Damit möchte sie sich von der klassischen Biomechanik absetzen. Ausgangspunkt in der Biomechanik ist eine bereits gegebene Form, z.B. die Struktur des menschlichen Skeletts, und typische Fragen sind dann, wie sich die mechanischen Belastungen einzelner Teile während unterschiedlicher Aktivitäten auswirken. Es leuchtet ein, dass mechanobiologische Prozesse bei der vorgeburtlichen Entwicklung der Knochen und Gelenke entscheidend sind. Ähnliches gilt für den Heilungsprozess eines gebrochenen Knochens [3]. Aber auch im „Normalbetrieb“ wird der Knochen mechanisch in Schuss gehalten. Der lebende Knochen unterliegt einem laufenden Erneuerungsprozess, in dem Material abgebaut und neuer Knochen abgelegt wird. Dieser Umbauprozess ermöglicht mikroskopische mechanische Schädigungen aus dem Knochen zu eliminieren, bevor sich diese zu stark akkumulieren und einen möglichen Bruch verursachen. Die fundamentale Idee, dass ein mechanischer Regelkreis im Knochen wirksam ist, reicht bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück und ist eng mit den Namen Julius Wolff und Wilhelm Roux verknüpft. Dieser Regelkreis kontrolliert den Umbau des Knochens und erlaubt zusätzlich die Anpassung an sich ändernde mechanische Anforderungen. Max-Planck-Forscher in Potsdam haben sich das Ziel gesetzt, den Regelkreis im Knochen unter Zuhilfenahme von Computersimulationen besser zu verstehen. Die Hoffnung besteht, dem Zusammenhang zwischen Fehlfunktionen des Regelkreises und Knochenerkrankungen – allen voran Osteoporose – auf die Spur zu kommen.

Grundlagen für das Verständnis des Knochens und Knochenumbaus

Im menschlichen Körper tritt Knochen in zwei Hauptvarianten auf. Der kompakte Knochen, wie er im Schaft von langen Röhrenknochen zu finden ist, ist charakterisiert durch eine geringe Porosität. Demgegenüber zeichnet sich der trabekuläre Knochen durch seine schaumartige Struktur aus (Abb. 2). Beispielsweise ist ein menschlicher Wirbelkörper im Inneren von einem feinen Netzwerk von Verstrebungen, so genannten Knochen-Trabekeln, die ca. 200 μm dick sind, gefüllt. Beim Knochenumbau im trabekulären Knochen lösen spezialisierte Knochenzellen – die Osteoklasten – ein kleines Knochenpaket innerhalb von Wochen aus der Oberfläche heraus. Die dadurch entstandene Aushöhlung wird von Osteoblasten während Monaten mit neuem Knochenmaterial gefüllt. Einige Osteoblasten werden dabei „eingemauert“ und leben dann im Knochen nach einer Zelldifferenzierung als so genannte Osteozyten weiter. Über Zellfortsätze sind die Osteozyten miteinander verbunden. Damit der Knochenumbau im Sinne einer mechanischen Adaptierung wirken kann, darf dieser An- und Abbau nicht einfach zufällig ablaufen, sondern muss von mechanischen Gesichtspunkten gesteuert werden. Eine einfache Formulierung des so genannten Wolff-Roux-Gesetzes besagt, dass Knochen dort lokal abgebaut wird, wo er mechanisch nicht benötigt wird. Ein Anbau erfolgt dort, wo eine starke mechanische Belastung herrscht. Damit ergibt sich die folgende Vorstellung eines Regelkreises, der auf Änderungen in der lokalen Belastung des Knochens reagiert. Ursachen einer Erhöhung der lokalen Belastung könnten zum Beispiel andauernde sportliche Aktivitäten sein oder aber auch eine Aushöhlung im Knochen durch die Osteoklasten während des regulären Umbaus. Diese lokale Änderung der Belastung im Knochen wird von Sensoren detektiert. Das netzwerkartige Geflecht der Osteozyten innerhalb des Knochens, das unwillkürlich an ein „Informationsnetzwerk“ erinnert, bringt die Osteozyten stets mit der Rolle der Mechanosensoren in Verbindung. Es besteht jedoch Unklarheit darüber, wie sie diese Rolle erfüllen. Derzeit werden Hypothesen favorisiert, die annehmen, dass Flüssigkeitsströme in dem Netzwerk der Osteozyten von den Zellen detektiert werden können. Durch biochemische Signale, die zur Knochenoberfläche gelangen, werden nun im Falle einer Überlastung Osteoblasten aktiviert, die Knochen lokal anbauen. Dieser Anbau wird dann gestoppt, wenn die mechanosensitiven Osteozyten keine mechanische Überbelastung spüren. In Analogie zum Thermostaten spricht man im Fall des Knochens vom „Mechanostat“, der für eine ausgewogene Belastung der Knochenstruktur sorgt.

Der Regelkreis des Knochenumbaus birgt eine Vielzahl offener Fragen. Ungeklärt ist etwa auf welchen mechanischen Reiz die Zellen reagieren. Hypothetisch wurden hier zeitliche Änderungen in der Belastung oder in der Verformung vorgeschlagen, oder aber auch mikroskopische Schädigungen des Knochens. Wie lautet der (mathematische) Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion der Knochen abbauenden und anbauenden Zellen? Dies ist ein Zusammenhang der im Folgenden als Umbaugesetz bezeichnet wird. In welcher Beziehung stehen Störungen im Regelkreis zu bekannten Knochenerkrankungen? An dieser Stelle soll betont werden, dass eine Vielzahl von biologischen Faktoren, in Form von Hormonen, Medikamenten und anderer über die Nahrung aufgenommener Substanzen, ganz entscheidend den Regelkreis des Knochenumbaus beeinflussen können [4]. Darüber hinaus ist der Knochen „Diener mehrerer Herren“. Neben seiner mechanischen Funktion stellt der Knochen etwa das größte Reservoir für Kalzium im Körper dar.

Der Aufbau von Experimenten zum Studium des mechanobiologischen Regelkreises im Knochen ist leicht verständlich. Im Mensch oder Tier (in vivo), oder auch in der Gewebekultur (in vitro), wird die mechanische Belastung durch Spezialtraining oder operative Maßnahmen geändert und die dadurch verursachten strukturellen Veränderungen studiert. Typischerweise gerät man dabei in die Schere zwischen einer möglichst genauen Definition der Belastungsänderung einerseits und einem möglichst geringen Eingreifen in das biologische System andererseits. Auch wenn der Effekt unbestreitbar ist, bleibt bei der Interpretation der Ergebnisse häufig die Frage offen, wie viel dieser Auswirkungen ihre Ursache in einer mechanobiologischen Reaktion hat und wie viel sich einfach aus einer Irritation in der Biologie des lebenden Systems erklärt. Eine mögliche Alternative bei spezifischen Fragestellungen kann hier die „in silico“-Welt der Computersimulation bieten.

Struktur und Design von Modellen zum Knochenumbau

Will man den Umbauprozess im trabekulären Knochen darstellen, so folgt die Struktur eines Computermodells dem oben beschriebenen Regelkreis (Abb. 1). Startpunkt sei eine schaumartige Knochenstruktur, wie man sie in einem Wirbelkörper findet. Der erste Schritt besteht dann in einer mechanischen Bewertung der Struktur, d.h. mit hoher räumlicher Auflösung wird bestimmt, wie stark die einzelnen Teile der Struktur belastet sind. Ohne sich um die biologischen und biochemischen Details der Mechanotransduktion zu kümmern, wird das Ergebnis dieser mechanischen Bewertung in ein phänomenologisches Umbaugesetz zurückgeführt. Dieses Umbaugesetz beschreibt die Wahrscheinlichkeit für einen lokalen An- bzw. Abbau des Knochens als Funktion der lokalen mechanischen Belastung. Basierend auf dieser Auswertung wird die Knochenstruktur geändert, worauf wiederum ein neuer Rechenzyklus mit einer neuen mechanischen Bewertung gestartet wird. Im Laufe einer Simulation wird dieser Rechenzyklus typischerweise millionenfach durchlaufen. Damit die Rechenzeit nicht explodiert, sind Kompromisse zwischen Genauigkeit der Rechnung, Anzahl der Simulationsläufe unter veränderten Bedingungen, Größe des simulierten Systems etc. zu finden. Das Design des Modells richtet sich dabei stark nach der konkreten Fragestellung.

Ergebnisse der Computermodellierung

Startet man eine Computersimulation mit einer gleichförmigen Struktur, dann bildet sich als Antwort des Umbauprozesses auf die äußere mechanische Belastung sehr rasch eine netzwerkartige Struktur aus (Abb. 2). Die Trabekel sind dabei vornehmlich entlang der Hauptbelastungsrichtungen in vertikaler und horizontaler Richtung orientiert [5]. In Computerexperimenten wurde die Adaptionsfähigkeit an veränderte mechanische Belastungen, wie sie vom realen Knochen bekannt ist, getestet [6, 7]. Dazu wurde die vorerst vertikale Belastung um einen Winkel von 20° aus der Vertikalen gekippt. Nach einer Vielzahl von An- und Abbauprozessen kleiner Knochenelemente folgt die trabekuläre Architektur der Drehung. Die Trabekel sind schließlich wieder entlang der Belastungsrichtung ausgerichtet [7]. Unabhängig von der Startbedingung der Simulation stellt sich stets ein konstant bleibender Wert für die Knochenmasse ein. Die Architektur des Knochens erreicht jedoch keinen Gleichgewichtszustand [5]. Die Anzahl der Trabekel nimmt stetig ab, während die noch vorhandenen Trabekel an Dicke zunehmen. Diese vergröberte Struktur ist vom Knochen alter, osteoporotischer Patienten bekannt (Abb. 2). Das signifikante Merkmal der Osteoporose ist ein deutlicher Rückgang der Knochenmasse. In den Simulationen lässt sich genau studieren, welche Änderungen im Regelkreis zu einer Änderung der Knochenmasse führen. Entscheidend ist dabei auch, dass eine Verringerung der Knochenmasse nicht einfach durch eine entsprechende Verdünnung der Struktur erreicht wird. Es zeigt sich vielmehr, dass die Abnahme der Knochenmasse von einer Änderung der Architektur begleitet wird [8]. Horizontale Trabekel gehen verloren was zu einer entscheidenden mechanischen Schwächung des Wirbelkörpers führt (Abb. 2). Bei Osteoporosepatienten kennt man die spontanen Brüche der Wirbelkörper, die schließlich zu einem Kollaps ganzer Wirbelkörper führen können, begleitet von der charakteristischen Krümmung des Rückens. Mit dem Computermodell lassen sich damit die im Verlauf der Zeit auftretenden und daher einer Alterung entsprechenden Änderungen von denen unterscheiden, die ihre Ursache in einer Störung des Regelkreises haben. Letztere sind dann eher als Krankheitsbild zu interpretieren.

Nachdem das genaue Umbaugesetz für den Knochenanbau und -abbau als Funktion des mechanischen Reizes nicht bekannt ist und experimentell kaum zugänglich scheint, bietet sich als alternative Strategie verschiedene Umbaugesetze in der Simulation zu testen und die Konsequenzen für die Struktur und deren Zeitentwicklung zu bestimmen. Abbildung 3 zeigt ein Beispiel des Einflusses des Umbaugesetzes auf die trabekuläre Knochenstruktur. Die simulierten Strukturen werden dann realen Knochenstrukturen gegenübergestellt.

Zusammenfassung und Ausblick

Im Knochen erlaubt ein mechanisch gesteuerter Regelkreis eine Adaptation an sich ändernde mechanische Anforderungen. Im Regelkreis besteht eine Verknüpfung zwischen einer komplizierten, schwer beschreibbaren, trabekulären Knochenstruktur einerseits und einem nicht trivialen Umbaugesetz andererseits. Neben Experimenten „in vivo“ und „in vitro“ bietet das Computerexperiment völlig neue Möglichkeiten diesen Regelkreis zu erforschen. Als Strategie ist es dabei nicht entscheidend, die vielen bekannten und unbekannten Details in ein Modell einzuarbeiten. Anstatt in der Simulation auf eine schlichte Reproduktion der Natur hinzuarbeiten, scheint es viel interessanter etwa die prinzipielle Frage zu stellen, unter welchen Voraussetzungen das Modell „natürliches“ Verhalten zeigt, wann es „pathologisch“ wird und wie stabil das System auf Störungen reagiert. Dem Physiker schwebt hier ein „Phasendiagramm“ des Modellverhaltens vor. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist die Einfachheit des Modells im Sinne weniger Parameter. Im Falle des Knochenumbaus besteht die große Herausforderung, den Zusammenhang zwischen Charakteristika in dem Umbaugesetz und Merkmalen der Struktur zu verstehen. Eine Klarheit sollte hier den Weg ebnen mit neuen Therapiemöglichkeiten spezielle Knochenerkrankungen direkt an ihrer Wurzel zu heilen.

Originalveröffentlichungen

J. D. Currey:
Bones: structure and mechanics.
Princeton, N.J.: Princeton University Press (2002).
M. C. H. van der Meulen, R. Huiskes:
Why mechanobiology? A survey article.
Journal of Biomechanics 35, 401-414 (2002).
D. R. Carter, G. S. Beaupré:
Skeletal function and form: mechanobiology of skeletal development, aging, and regeneration.
Cambridge, UK; New York, NY: Cambridge University Press (2001).
G. A. Rodan, T. J. Martin:
Therapeutic approaches to bone diseases.
Science 289, 1508-1514 (2000).
R. Weinkamer, M. A. Hartmann, Y. Brechet, P. Fratzl:
Stochastic lattice model for bone remodeling and aging.
Physical Review Letters 93, 228102 (2004).
R. Huiskes, R. Ruimerman, G. H. van Lenthe, J. D. Janssen:
Effects of mechanical forces on maintenance and adaptation of form in trabecular bone.
Nature 405, 704-6 (2000).
R. Ruimerman, P. Hilbers, B. van Rietbergen, R. Huiskes:
A theoretical framework for strain-related trabecular bone maintenance and adaptation.
Journal of Biomechanics 38, 931-941 (2005).
R. Weinkamer, M. A. Hartmann, Y. Brechet, P. Fratzl:
Architectural changes of trabecular bone caused by the remodeling process.
Materials Research Society Symposium Proceedings 874E, L1.9 (2005).
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