Gefühlswelten

Ute Frevert untersucht Empfindungen und ihren Ausdruck im Kontext der Geschichte

Eine Kulturhistorikerin in einem psychologischen Forschungsinstitut? Ute Frevert sieht sich als Anwältin der Geisteswissenschaften – und stellt die Konzepte und Methoden ihrer empirisch-naturwissenschaftlich orientierten Kollegen immer wieder freudig auf die Probe. Als Zeugen für ihre Argumente ruft die Direktorin des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung bisweilen auch Romeo und Julia auf, Friedrich den Großen und sogar Angela Merkel.

Text: Martin Tschechne

Ach ja, die Jahre in Amerika! Es kann passieren, dass Ute Frevert zu einem Symposium über Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften einfach mal einen persönlichen Erfahrungsbericht beiträgt: Wie es ablief im Jahr 2002 bei ihrer Berufung an die Yale University, wie freundlich sie zu einem ersten Besuch eingeladen wurde, wie sie gleich auch die Studenten kennenlernte, ganz zwanglos, und wie man ihr zuhörte – im Hörsaal, beim Lunch mit Kollegen, während der Fragestunde in der Bibliothek.

Ihr Vortrag verfehlte sein Ziel nicht. Hochschulpolitiker, Forschungsmanager und Stiftungsvorstände im Publikum zeigten sich ehrlich beeindruckt. Vielleicht sind sie auch ein bisschen neidisch gewesen auf die verlässliche Wertschätzung, die amerikanische Studenten ihren Dozenten entgegenbringen, berühmte Forscher ihren Mitarbeitern, Politiker den Professoren, Professoren wiederum ihren Studenten und alle gemeinsam ihrem System akademischer Bildung.

Noch erstaunlicher aber war die Form der Präsentation als Bericht aus der Perspektive der Erlebenden – sehr frisch und frei, sehr persönlich. Aber wer sagt eigentlich, dass der Diskurs unter Forschern immer nur auf der Grundlage empirisch ermittelter Zahlenkolonnen stattfinden dürfe? Ist nicht am Ende der überzeugend entwickelte Faden einer Erzählung das Ziel jeder wissenschaftlich motivierten Sammlung von Tatsachen?

Ute Frevert erinnert sich gern an diese fünf Jahre im Kollegium der Eliteuniversität an der amerikanischen Ostküste. Ihr Ehemann, der Soziologe Ulrich Schreiterer, und zwei der drei gemeinsamen Kinder waren mitgekommen und ebenfalls gut untergebracht worden. Frevert erzählt von Transparenz und Fairness der Verfahren, von Forschern und Lehrern, die auch aus anderen Abteilungen gerne mal herüber kamen, um ihren Ausführungen über die Geschichte der gemeinsamen Gegenwart zu lauschen. Und von den Studenten – ihren „Yalies“, handverlesen und hoch motiviert, die so begeistert lasen und nachdachten und debattierten, dass es gar nicht schwer war, sie sehr bald schon als ebenbürtige Kollegen zu akzeptieren. Zumindest als zukünftige.

Als Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat Ute Frevert eine gründlich andere Position. Einzige Historikerin unter lauter Psychologen. Das ist eine fundamentale und jeden Tag neu anzunehmende Herausforderung. In jeder Konstellation ist sie die Andere: im vierköpfigen Direktorium des Instituts, in den Gremien des Hauses und bei der Diskussion der Projekte junger Forscher im Plenum. Immer hat sie Konfrontation zu ertragen und daraus Angebote zu formulieren, immer als Anwältin der Geisteswissenschaften ein Gegenmodell zu verteidigen gegenüber lauter Kollegen, denen die naturwissenschaftlichen Aspekte ihrer Disziplin gerade viel spannender scheinen.

Ob die klassisch-moderne Architektur des Instituts mit ihren Treppen, offenen Brücken, Nervenzentren und synaptischen Verbindungen etwas zu tun hat mit der aktuellen Begeisterung so vieler hier arbeitender Forscher für Hirnphysiologie und neuronale Plastizität? Und ob sie selbst in dieser Umgebung so etwas sei wie ein Hecht im Karpfenteich? „Nein“, sagt die Wissenschaftlerin und lacht: „Aber ich bin auch kein weiblicher Karpfen in einem Teich voller Hechte.“

Der Vater der kühnen Idee – ihrer Berufung – hieß natürlich Paul Baltes – „natürlich“, weil der im Jahr 2006 gestorbene Direktor des Instituts solches Out-of-the-Box-Denken zum Prinzip seiner wissenschaftlichen Arbeit gemacht hatte. Wer es wagt und durchsetzt, die Methoden und Befunde einer bis dato auf Krabbelkinder und pubertierende Jugendliche beschränkten Entwicklungspsychologie auf die gesamte Lebensspanne auszudehnen, wer das Altern der Gesellschaft und die Daseinsform des Alters selbst als Forschungsfelder von höchster Dringlichkeit etabliert, der kann gar nicht anders, als sich über das Denken in bewährten Kästchen und Kategorien hinwegzusetzen.

Und der beruft eben auch eine Historikerin mit gereifter Kenntnis in Literatur und Kunstgeschichte und solider Verankerung in Soziologie und Politik, um den Damen und Herren aus der Psychologie zu zeigen, dass auch außerhalb ihrer Labors und jenseits ihrer empirischen Untersuchungen ideenreiche und kluge Leute daran arbeiten, der Wirklichkeit eine Struktur zu geben.

Ute Frevert muss selbst gestaunt haben. Im Gespräch mit der ZEIT nannte sie sich damals eine „riskante Berufung“. Sie habe bis zum Anruf aus dem Max-Planck-Institut nie auf wissenschaftlicher Ebene mit einem Psychologen zu tun gehabt. Heute sagt sie: „Ich sehe mich in einem Kontinuum innovativer Ideen.“

Dabei war der Schritt in die Bildungsforschung eigentlich schon in ihrer Biografie angelegt. Für Frevert, 1954 als Tochter eines Handwerkers und einer Sekretärin im ostwestfälischen Bad Salzuflen geboren, war Bildung von Anfang an ein Ort persönlicher Entfaltung, nie Mittel allein, immer auch Zweck und Thema – als Siegerin des Bildungssystems, bald als seine Vertreterin, heute als Wissenschaftlerin, die eben dieses System auf seine Möglichkeiten abklopft: Abitur mit 16, ein Stipendium der Studienstiftung, Studium in Münster, an der London School of Economics und in Bielefeld, wo Männer wie Hans-Ulrich Wehler, Niklas Luhmann, Norbert Elias und Jürgen Kocka das geistige Klima prägten und dem Fach Geschichte als historische Sozialwissenschaft neue Relevanz und Richtung gaben.

Frevert habilitierte sich mit einer Arbeit über das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. Es ging um die Frage der Ehre, speziell der männlichen, und ihre Forschung zur Geschichte der Gefühle, die den weiteren Verlauf ihrer Karriere bestimmen sollte, war damit eigentlich schon auf dem Weg. Bald etablierte sich die Wissenschaftlerin als profilierte Vertreterin der Gender-Forschung, wurde Professorin in Konstanz, an der FU Berlin und in Bielefeld, Mitglied der British Academy, der Berlin Brandenburgischen Akademie und der Leopoldina, schrieb Bücher über Männlichkeit und Emotion, Militärdienst und Zivilgesellschaft, Geschlechterdifferenzen in der Moderne und über Vergängliche Gefühle, so der Titel eines ihrer Werk.

Und wenn einer leichtfertig genug ist, das Studium von Emotionen und ihrer historischen Entwicklung als typisch weibliche Angelegenheit zu bezeichnen, dann zitiert die Leibniz-Preisträgerin von 1998 mit Vergnügen eine lange Liste mit Studien über Freundschaft und Vertrauen, Scham und Ehre, Mannesstolz und Mitgefühl, die mit Immanuel Kant nicht anfängt und in den Denkzentren der modernen Neurowissenschaften noch lange nicht endet: lauter männliche Autoren. Objektive Wissenschaft lebt eben immer auch von ihren Subjekten.

Wie es aussieht, erledigt sie ihren Job gut. Baltes war bereits gestorben, als sie 2008 ihr Amt in Berlin antrat. Das machte den Start nicht leichter. Aber Ute Frevert ist erstens eine Frau, die sich elegant in Szene zu setzen weiß, und zweitens eine, die Freude an der Auseinandersetzung hat. Schon mit ihrem strahlenden Lächeln gibt sie zu erkennen, dass sie den Disput nicht scheut, und dass es ihr ein Fest ist, den Coup ihres Mentors zu vollenden.

So berichtet sie auch mit eben jenem Lächeln von ihrer Antrittsvorlesung am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, bei der mehr als nur ein Zuhörer sich verlegen räusperte: Geschichte der Gefühle? Ist das ihr Ernst? Romeo und Julia, die Indianerin Pocahontas und der britische Captain John Smith oder Friedrich der Große und das wechselvolle Verhältnis zu seinen Untertanen – wo solle denn da, bitte sehr, der Gewinn für eine empirische Forschung liegen? Der Ausdruck von Gefühlen könne sich womöglich ändern, räumte man ihr ein, der Anlass für solche Äußerungen vielleicht auch. Aber die Empfindung selbst sei doch wohl unabhängig von historischen Zusammenhängen.

Sie habe den Kollegen dann Einiges zu erzählen gehabt: Der Gewinn für die psychologische Forschung stecke in den Ideen, in der beobachtbaren Tatsache, dass die Konzeption des Daseins ständigem Wandel unterliege. Er erweise sich im historisch verankerten Beleg für Veränderung auch in den Befindlichkeiten, für Moden, Normen und Erwartungen, den Zeitgeist und den Einfluss emotionaler Modelle, kurz: in der Erkenntnis, dass keine Regung ohne ihren Kontext gesehen werden dürfe.

Liebe, Mitleid, Vertrauen – das waren und sind Themenfelder, in denen Ute Frevert den Forschern aus der eigenen und der fremden Zunft Einblicke in die Kultur- und Ideengeschichte und damit in die Plastizität emotionaler Zustände verschafft. Für den Preußenkönig Friedrich, noch fest im Absolutismus verankert, war Vertrauen vielleicht eine grandiose, aus dem Gedanken der Aufklärung hergeleitete Ahnung einer neuen Zeit; bisweilen eine Sehnsucht, bisweilen wohl auch schon eine taktische Option im Umgang mit den Untertanen.

Für Angela Merkel im letzten Bundestagswahlkampf war es nur noch eine Formel, die als Ersatz für ein konkretes Programm herhalten sollte und damit das Gefälle zum Wahlvolk kenntlich machte. Das Plakat, auf dem die Kanzlerin mit dem einzigen Wort „Vertrauen“ in den Wahlkampf zog, steht in Ute Freverts Berliner Büro vor dem Schreibtisch. Als sollte es zeigen: So weit ist es gekommen.

Der Kniefall eines Willy Brandt, die Tränen einer Hillary Clinton, die Umarmungen eines Wladimir Putin nach dem Flugzeugabsturz 2010 in Smolensk: Die Historikerin sammelt solche Belege für die Karriere emotionaler Zustände von ihrer Entfaltung, ihrer Verbreitung bis hin zur präzise kalkulierten Gefühlspolitik, wie Frevert eines ihrer Bücher nannte.

Vertrauensfragen heißt ein im vergangenen Jahr erschienener Titel: Es skizziert die Geschichte eines großen Gefühls, das der Autonomie des aufgeklärten Menschen entspringt, zu einer Obsession der Moderne wurde – und im inflationären Missbrauch in Politik, Finanzwelt und billiger Reklame seine Bedeutung aufgibt. Um Vertrauen zu werben für eine Versicherung oder eine Röstkaffeemischung: Das ist schlicht Unsinn.

Kinder lernen im Kontakt mit der Mutter ein Urvertrauen, das ihr Verhältnis zum Dasein schlechthin bestimmt. Aber kann man, ganz prinzipiell, einer Institution vertrauen? Die Geschichtsforscherin schreckt nicht davor zurück, auch den Fall des Pädagogen Gerold Becker in ihrem Buch zu diskutieren: Der Leiter der Odenwaldschule hatte kleine Jungen an seinem Internat sexuell missbraucht. Erst nach Jahrzehnten war das Verbrechen an die Öffentlichkeit gedrungen.

Und natürlich ging es in allen anschließenden Debatten neben Freizügigkeit, Pädophilie und pädagogischem Eros vor allem um eines: um Vertrauen, um geschenktes, eingefordertes, verletztes, mit Füßen getretenes und verlorenes Vertrauen. Dass der Bildungsforscher Hellmut Becker, Gründer eben jenes Max-Planck-Instituts, an dem Ute Frevert heute arbeitet, eine wenig rühmliche Rolle in den Verstrickungen spielte, gibt ihren Vertrauensfragen noch zusätzliche Brisanz.

Die Quellen, aus denen die Forscherin schöpft, sind in alledem von ergreifender Ehrlichkeit: Bücher, Briefe, Zeitungen. Alles, was Historikern seit jeher als Quellenmaterial vertraut ist: Dokumente, Urkunden, jede Form von Zeitzeugenschaft, auch Kunstwerke, schöne Literatur und Musik. Goethe, Wagner oder Shakespeare stellt die Forscherin zur Diskussion, Rodin, Kafka, Bach oder Dostojewski – sind sie nicht erstklassige Zeugen für Gefühlslagen und kognitive Strukturen ihrer Epochen? Gaben sie nicht Gewissheiten und Überzeugungen, Leidenschaften, Ahnungen und Stimmungen Ausdruck, der bis heute fortwirkt? Waren sie darin nicht wahre Psychologen? Und warum, bitte, nimmt die moderne Psychologie diese Tatsachen so widerstrebend zur Kenntnis?

Die Sache mit dem Risiko hat sich übrigens weitgehend erledigt. Die Brücken, die sie an ihrem Institut zu bauen berufen ist, sind ja in beiden Richtungen zu begehen, und Ute Frevert erkennt darin Gelegenheit und Chance. Gemeinsam mit Tania Singer etwa, der Direktorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, hat sie den Versuch gewagt, sich dem Konzept der Plastizität von Emotionen von zwei fundamental unterschiedlichen Positionen aus zu nähern.

Das Aufleuchten der Synapsen im Magnetresonanztomografen habe wohl Eindruck auf sie gemacht, fasst Frevert nun zusammen, ihr wissenschaftliches Weltbild aber vorerst intakt gelassen. Stattdessen habe sie der Kollegin empfohlen, sie möge doch einmal nachlesen, was Adam Smith oder David Hume zum Thema sympathy, also Mitgefühl, zu sagen gehabt hätten. Und Tania Singer sei ehrlich beeindruckt gewesen.

Ob also für die Erforschung von Gefühlen und ihrer Veränderbarkeit durch äußere Einflüsse ein sündhaft teurer Laserscanner für das Gehirn gar nicht nötig sei? Da lächelt Ute Frevert wieder einmal und sagt nichts. Diplomatie, Gefühlspolitik also, ist in ihrer Position eine notwendige und sehr kluge Tugend.

Nicht, dass sie irgendwelche Einwände zurückhielte! Dazu ist sie ja berufen worden. Schon fürchtet sie, der so oft wiederholte Rat an die Adresse junger Psychologen mit ihren streng kontrollierten, von jeder Unschärfe bereinigten Studien falle den Kollegen langsam auf die Nerven: „Macht euer Bild komplexer!“, rufe sie ihnen zu. „Die Welt ist nicht so eindeutig und klar, wie ihr sie euch im Labor zurechtbastelt.“

Natürlich sieht sie auch die Zwänge und Gewohnheiten, denen die Arbeit vieler junger Forscher unterliegt. „Präsentistisch“ nennt sie deren Perspektive, in der Gegenwart verhaftet und allein ihr verpflichtet. „Geschichtsvergessen“ sagt sie, wenn sie mit den Kollegen am Mittagstisch sitzt. Und die anderen Direktoren des Hauses stimmen ihr sogar zu, denn eigentlich sind sie sich da einig: Vor lauter Zwang zum Zählen, Auswerten und Präsentieren fänden experimentell orientierte Psychologen überhaupt nicht die Zeit dafür, sich über kulturelle, historische oder politische Zusammenhänge ihrer Konzepte zu bekümmern.

Die Psychologen kämen aber auch nicht auf die Idee, es zu tun, kritisiert Frevert. Und lobt dagegen die Forschungszyklen der eigenen Zunft, in der die Maßeinheit für Arbeit und Erfolg eines Wissenschaftlers immer noch das fertig geschriebene, argumentativ abgeschlossene Buch sei, das klassische Meisterstück.

So entwickelt die Bildungsforscherin auch für die Praxis außerhalb ihres Instituts Modelle, die über die Laborbefunde ihrer Kollegen aus der Psychologie hinausgehen, sie ergänzen oder konkreter fassen, oft aber auch ganz andere Wege und Ziele definieren. Sie denkt da manchmal an die Wärme und Gemeinsamkeit, die sie in den USA erfahren hat. Stellt sich vor, die Berufsausbildung stärker und attraktiver zu machen und das akademische Studium auf jene auszurichten, die neben den notwendigen Fähigkeiten auch widerstandsfähiges Interesse am Nachdenken beweisen.

Die Forscherin stellt sich vor, in einer längeren Zeit der Gemeinsamkeit an Schulen den Austausch von Ideen, Kulturen und Milieus zu unterstützen, wie es ihre eigenen Kinder in den USA mit Gewinn erlebt haben. Und Frevert scheut sich nicht, als Ziele für Bildung Werte zu definieren, die den Kollegen aus den empirischen Abteilungen wahrscheinlich viel zu historisch sind: Einfühlungsvermögen, Moral, Offenheit, Neugier und – ja, Herzensbildung.

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