Kitas wichtiger als Kultur

Niedrige Kinderzahl pro Frau eher Folge mangelnder Betreuungsangebote als Phänomen deutscher Lebensart

11. Dezember 2013

Dass die Geburtenraten in Deutschland im westeuropäischen Vergleich eher niedrig sind, liegt nicht an einer deutschen „Kultur der wenigen Kinder“, sondern an Defiziten in der Familienpolitik. Der Mangel an Kinderbetreuungsangeboten scheint dabei ein wesentlicher Faktor zu sein. Dies zeigt eine Analyse des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock, in der es erstmals gelang, die Einflüsse von Kultur und Politik auf die Fertilitätsentwicklung zu trennen. Dazu untersuchten die Forscher die Fertilität in der deutschsprachigen Region Belgiens.

Die Bevölkerung im Osten Belgiens ist in der deutschen Kultur verwurzelt, kann gleichzeitig aber das seit langem gut ausgebaute Kinderbetreuungsangebot des Landes nutzen. Die Geburtenrate in dieser Region liegt deutlich über der in Deutschland. Mit ihrer Studie konnten die Forscher nicht nur erstmals für den deutschsprachigen Raum belegen, dass eine gut ausgebaute öffentliche Kinderbetreuung also mit einer höheren Geburtenrate einhergeht. Ihre Untersuchung weist auch darauf hin, dass der Grund dafür eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Frauen ist. Diese Ergebnisse veröffentlichten die MPIDR-Autoren Sebastian Klüsener und Michaela Kreyenfeld jetzt im Wissenschaftsjournal Population and Development Review.

Deutsches Denken und belgische Kinderbetreuung

Die etwa 75.000 deutschsprachigen Belgierinnen und Belgier bewohnen ein Gebiet an der Grenze zur Bundesrepublik. Sie sind von deutschen Normen geprägt: Deutsch ist ihre Amtssprache und wird an den Schulen und zuhause gesprochen, sie wählen eher konservativ und konsumieren häufig deutsche Massenmedien. Dadurch erleben sie auch den deutschen Diskurs über das Frauen- und Familienbild. Gleichzeitig nehmen sie aber seit fast einem Jahrhundert die belgischen Familienleistungen in Anspruch, insbesondere ein Angebot an Kinderbetreuung, das seit langem wesentlich besser ausgebaut ist als etwa in den westdeutschen Bundesländern.

„Wären kulturelle Normen aus­schlaggebend für die Geburtenrate, müsste sie in der deutschsprachi­gen Region Belgiens ähnlich niedrig wie in Deutschland sein“, sagt Sebastian Klüsener. Doch das ist nicht der Fall. Während die westdeutschen Frauen der Geburtsjahrgänge 1955 bis 1959 im Alter von 50 Jahren durchschnittlich nur 1,65 Kinder bekommen hatten, waren es in der deutschsprachigen Region Belgiens 1,88 (ausgenommen deutsche Staatsbürgerinnen oder in Deutschland Geborene). Die Fertilität lag damit auf dem durchschnittlichen Niveau der Belgierinnen, die 1,84 Kinder pro Frau erreichten. „Ein gutes Angebot öffentlicher Kinderbetreuung scheint für die endgültige Zahl der Kinder pro Frau wesentlicher zu sein als die gelebte deutsche Kultur“, sagt Demograf Klüsener. Andere naheliegende Einflüsse wie Unterschiede in der Bevölkerungsdichte ließen sich statistisch hingegen ausschließen.

Während die belgische Familienpolitik der deutschen bei direkten Leistungen (z.B. Kindergeld) und der Elternzeit sehr ähnelt (im untersuchten Zeitraum), unterscheidet sich die Kindertagesbetreuung enorm. Seit spätestens 1950 weitete man in Belgien die Vorschul­betreuung kontinuierlich aus. Die meisten Schulen haben zusätzlich Angebote vor und nach dem Unterricht. Damit gehört Belgien zur Weltspitze. Zum Vergleich: Schon 1970 waren dort 95 Prozent aller Vierjährigen in Tagesbetreuung, in Deutschland aber erst ein Drittel. Trotz Kita-Ausbau hinkt die Bundesrepublik auch heute noch deutlich hinterher. Dies gilt insbesondere für die Ganztagsbetreuung.

Viele Kinder trotz erhöhter Kinderlosigkeit

„Das belgische Betreuungssystem scheint potentielle Eltern in der Entscheidung für ein Kind zu unterstützen, weil es die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert“, sagt Sebastian Klüsener. Das legt auch der Anteil erwerbstätiger Mütter nahe: In der deutschsprachigen Region Belgiens waren Anfang des Jahrtausends knapp zwei Drittel aller Mütter von 0- bis Zweijährigen erwerbstätig. In Westdeutschland war es nur ein Drittel. Mehr Kinder bekamen die deutschsprachigen Belgierinnen dennoch. „Aus anderen Studien wissen wir, dass Kinderbetreuungsangebote gerade für gut ausgebildete Mütter wichtig sind“, sagt Michaela Kreyenfeld. „Unsere Ergebnisse passen in dieses Bild“. In Belgien bekommen hochqualifizierte Frauen ähnlich viele Kinder wie niedrigqualifizierte, während in Westdeutschland die Zahl der Kinder mit dem Bildungsgrad drastisch sinkt.

Obwohl die Gesamtgeburtenrate unter den deutschsprachigen Belgierinnen ähnlich hoch wie in den anderen Teilen Belgiens ist, blieb ein höherer Anteil kinderlos. So haben von den 1955 bis 1959 in Belgien geborenen deutschsprachigen Frauen 16,6 Prozent keine Kinder bekommen, von den französischsprachigen Belgierinnen (Bewohnerinnen Brüssels ausgeschlossen) aber nur 14,0 Prozent. In Westdeutschland waren es 19,2 Prozent. „Dass die Kinderlosigkeit trotz guter Betreuungsangebote unter den deutschsprachigen Belgierinnen relativ hoch ist, deutet darauf hin, dass bei der Entscheidung für das erste Kind auch kulturelle Faktoren eine Rolle spielen“, sagt Sebastian Klüsener. Allerdings: Während der Anteil der Frauen, die nie ein Kind bekommen, für die untersuchten Jahrgänge in Deutschland drastisch anstieg, blieb er in der deutsch­sprachigen Region Belgiens konstant. Insgesamt wirkt sich die leicht erhöhte Kinderlosigkeit der deutschsprachigen Belgierinnen nicht auf die Gesamtkinderzahl aus.

Rückgang endgültiger Geburtenraten kommt zum Halten

Wie in den meisten entwickelten Ländern sank die durchschnittliche Zahl der Kinder, die Frauen endgültig zur Welt brachten, auch in Belgien im Lauf der Jahrzehnte unter das Bestandserhal­tungsniveau von 2,1 (siehe Grafik). Im Gegensatz zu Deutschland war der belgische Trend nur auf Rückgänge bei dritten und höheren Geburten beschränkt und scheint momentan gestoppt zu sein. Auch für die deutschsprachige Region Belgiens deutete sich eine Stabilisierung auf einem Niveau von annähernd 1,9 Kindern pro Frau an. In Westdeutschland fielen die Geburtenraten dagegen weiter.

Die MPIDR-Wissenschaftler analysierten in ihrer Studie Frauen der Geburtsjahrgänge 1935 bis1959 mit Hilfe von Daten des belgischer Zensus 2001 und des deutschen Mikrozensus 2008. Die von ihnen genutzte Geburtenrate ist die endgültige Anzahl der Kinder, die die Frauen eines Geburtsjahrgangs durchschnittlich während ihrer gesamten gebärfähigen Lebenszeit bekommen haben. Diese Kohorten-Geburtenrate gibt die tatsächliche Zahl der Kinder wieder und steht erst endgültig fest, wenn die Frauen 50 Jahre alt sind. Sie ist aussagekräftiger als die allgemein gebräuchliche Geburtenrate (zusammengefasste Geburtenziffer), die in den letzten Jahrzehnten durch die Erhöhung des durchschnittlichen Geburtsalters der Mütter starken Verzerrungen unterlag und für Westdeutschland seit den 1970ern um 1,4 pendelt. 

BS/SB

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