Magnetische Monopole im Spineis

3. Februar 2009
Unzertrennlich sind der Nord- und der Südpol eines Magneten - für gewöhnlich. Doch in manchen Stoffen können sie sich einzeln bewegen und werden somit zu magnetischen Monopolen.

Text: Christian Meier  

Licht und Schatten, Gut und Böse, Yin und Yang − manche Gegensätze brauchen sich. Auch die Physik kennt ein unzertrennliches Gegensatzpaar: den Nord- und den Südpol eines Magneten. Noch nie haben Physiker einen einzelnen Magnetpol, sie sprechen von einem magnetischen Monopol, zuverlässig beobachtet. Die meisten Wissenschaftler wundert das nicht, denn alle bekannten magnetischen Bausteine der Materie, etwa das Elektron oder das Neutron, tragen immer nur beides: Nord- und Südpol. Da unsere Umwelt aus diesen Teilchen zusammengesetzt ist, sollte es kein Stück Materie geben, das einen magnetischen Monopol darstellt – so die allgemeine Überzeugung.

Vor diesem Hintergrund klingt Roderich Moessners Forschungsergebnis erstaunlich, dass es in Festkörpern magnetische Monopole gibt. Der theoretische Physiker, Direktor am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden, vermutet sie in einer Substanz, deren besondere Kristallstruktur ihr äußerst ungewöhnliche magnetische Eigenschaften verleiht, dem Spineis. Die Spins sind winzige magnetische Momente der Elektronen im Festkörper, die sich wie Miniatur-Stabmagnete verhalten. Die Anordnung dieser Stabmagnetchen im Spineis gleicht dem Muster, nach dem sich Wassermoleküle im Eis aneinander lagern.

In dem Material können sich magnetische Nord- und Südpole beliebig weit voneinander entfernen, so als gäbe es frei bewegliche Träger von magnetischen Nordpolen und ebensolche Träger von Südpolen. Das haben die Berechnungen von Moessner und seinen Kollegen Claudio Castelnovo von der Oxford University und Shivaji Sondhi von der Princeton University ergeben. Die Theorie der Wissenschaftler hat in der Fachwelt Aufsehen erregt, nicht zuletzt weil sie mysteriöse Messdaten am Spineis erklärt hat.

Dass im Spineis vereinzelte magnetische Nord- und Südpole auftauchen, bedeutet indes nicht, dass es zwei neue Teilchenarten gibt, die jeweils einen dieser magnetischen Pole tragen, wie Elektronen eine negative und Protonen eine positive elektrische Ladung mit sich führen. Die Lehrbücher der Elementarteilchenphysik müssen nicht umgeschrieben werden.

„Vielmehr handelt es sich bei einem magnetischen Monopol um ein Phänomen, das die Atome und Elektronen, aus denen Spineis besteht, durch ihr Zusammenspiel gemeinschaftlich hervorbringen“, sagt Moessner und vergleicht die atomare Teamarbeit im Spineis mit dem Entstehen von Wasserwellen: „Einzelne Wassermoleküle bringen keine Wellen hervor; das können nur sehr, sehr viele Wassermoleküle zusammen, indem sie einwirkende Kräfte an ihre Nachbarmoleküle weitergeben. Wellen sind ein kollektives Phänomen.“

In Festkörpern gibt es Teilchen, die keine sind

Wellen im Wasser und magnetische Monopole im Spineis sind Beispiele dafür, dass ein Ganzes mehr sein kann als die Summe seiner Teile. Emergenz nennen Wissenschaftler das Auftauchen neuer Qualitäten, wenn sich sehr viele Einzelteile zu einer neuen Einheit verbinden, so wie viele einzelne Zellen ein mehrzelliges Lebewesen bilden. Festkörperforscher kennen zahlreiche emergente Phänomene, etwa Schallwellen in Kristallen. Etliche dieser kollektiven Erscheinungen stellen zwar keine eigenständigen Teilchen dar. Sie besitzen wie die vereinzelten Magnetpole im Spineis aber manche Eigenschaften von Teilchen, weshalb sie auch als Quasiteilchen bezeichnet werden.

Die magnetischen Monopole gehören zu einer Klasse von Quasipartikeln, die Physiker einerseits besonders faszinieren, die ihnen aber andererseits große Rätsel aufgeben. „Es gibt Quasiteilchen, die wie Bruchteile von eigentlich als unteilbar geltenden Elementarteilchen aussehen“, sagt Moessner. Das Elektron etwa definiert sich unter anderem durch zwei Eigenschaften, nämlich seine negative Elementarladung und sein magnetisches Moment von einer bestimmten Stärke. In allen bisher nachgewiesenen Elementarteilchen gehören diese beiden Eigenschaften zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.

In Festkörpern treten manchmal allerdings Quasiteilchen auf, die zwar das magnetische Moment eines Elektrons besitzen, aber keine Ladung tragen oder umgekehrt, also gewissermaßen einseitige Medaillen darstellen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr abwegig, dass sich im Spineis magnetische Monopole finden.

Festkörper sind etwas anderes als die Summe ihrer Teilchen

Und die Dekonstruktion der Elementarteilchen im Festkörper geht noch weiter: Bei sehr tiefen Temperaturen und in starken äußeren Magnetfeldern tauchen in sehr dünnen Festkörperschichten sogar Quasiteilchen auf, die Bruchteile, etwa ein Drittel, der als unteilbar anerkannten Elementarladung tragen.

In komplexen physikalischen Systemen, wie sie Festkörper mit ihren Abermilliarden untereinander wechselwirkenden Atomkernen und Elektronen darstellen, herrschen also Gesetze, die sich nicht unmittelbar aus den grundlegenden Formeln der Elementarteilchenphysik herleiten lassen. Solche Befunde deuten darauf hin, dass Festkörper gewissermaßen als kleine Welten betrachtet werden können, die de facto ihre eigenen Naturgesetze hervorbringen.

Mit dieser Meinung steht der Dresdener Wissenschaftler nicht allein. Schon 1972 warnte der US-amerikanische Physiker Philip W. Anderson im Wissenschaftsmagazin Science vor den Konsequenzen einer reduktionistischen Forschungsphilosophie, wie sie damals vorherrschte. Sie geht davon aus, dass man die Dinge verstehen kann, indem man sie in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt. Das ist der Weg, den Teilchenphysiker gehen, weshalb sich viele von ihnen als Avantgarde der Forschung begreifen.

Anderson hielt dagegen, dass der Reduktionismus makroskopische Phänomene wie Festkörper, Pflanzen, Menschen oder das Universum niemals vollständig wird erklären können. Er schloss in seinem Aufsatz: „Das Ganze ist nicht nur mehr, sondern etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile.“ Um das Verhalten von großen und komplexen Konglomeraten aus Elementarteilchen zu verstehen, müsse Forschung betrieben werden, die genauso fundamental sei wie die Erforschung der kleinsten Partikel selbst.

In einer verborgenen magnetischen Ordnung entstehen Monopole

Die Forscher in Roderich Moessners Gruppe suchen bislang unentdeckte Ordnungsprinzipien, nach denen sich komplexe physikalische Systeme räumlich und zeitlich organisieren. Dabei erforschen sie unter anderem sogenannte topologische Quantenflüssigkeiten. In einer Quantenflüssigkeit liegt Materie in einem besonderen Aggregatzustand vor, den sie neben dem festen, dem flüssigen und dem gasförmigen Zustand annehmen kann. Ein Beispiel gibt das Bose-Einstein-Kondensat, in dem kleine Wölkchen aus Atomen bei sehr tiefen Temperaturen in einen gemeinsamen Quantenzustand treten und in ihrem Verhalten einer Flüssigkeit ähneln. Um eine topologische Quantenflüssigkeit handelt es sich, wenn bestimmte ihrer Eigenschaften von ihrer Geometrie abhängen. „Solche topologischen Quantenflüssigkeiten spielen derzeit bei der Forschung zu Quantencomputern eine große Rolle“, sagt Moessner.

Die verborgenen Ordnungsprinzipien, nach denen Roderich Moessner sucht, sind gewissermaßen die Naturgesetze der komplexen Systeme und somit die Grundlage neuer Erkenntnisse. Auch das Erscheinen der magnetischen Monopole konnte der Physiker erst vorhersagen, nachdem er und seine Kollegen im Spineis eine neuartige Ordnung entdeckt hatten.

Diese gilt für den Magnetismus in dem Material. Die magnetische Ordnung des Spineises ist weit weniger offensichtlich als etwa die in permanentmagnetischen Metallen, den Ferromagneten. „In Ferromagneten richten sich die magnetischen Momente aller Atome parallel aus“, sagt Moessner. Die Anordnung der Momente ist vergleichbar mit einem Lattenzaun. „Um diese Ordnung zu erkennen, wäre es ausreichend, sich die Ausrichtung des Moments einiger einzelner Atome anzusehen“, erklärt Moessner. Dann würde man feststellen: Aha, die meisten magnetische Momente zeigen in eine bestimmte Richtung. Es handelt sich um eine lokale Ordnung.

 „Im Spineis hingegen gibt es keine lokale Ordnung“, sagt Moessner. Dass Spineis trotzdem nicht einfach ungeordnet ist, lässt sich erst erkennen, wenn man alle magnetischen Momente in einem größeren Bereich betrachtet. „Vorher müssen wir uns aber die einzelnen Tetraeder anschauen, aus denen sich das Spineis zusammensetzt“, erklärt Moessner. Jeder Tetraeder unterliegt der Eisregel, nach der die magnetischen Momente an jeweils zwei Ecken gleich ausgerichtet sind. Das erlaubt sechs Kombinationen für die Orientierung der magnetischen Momente an den Ecken des Tetraeders und somit sechs unterschiedliche magnetische Gesamtmomente des Tetraeders. Die magnetischen Momente vieler Tetraeder summieren sich zu einer Magnetisierung eines betrachteten Bereiches. Selbst bei Einhaltung der Eisregel kann die Magnetisierung verschiedener Bereiche im Spineis stark variieren.

„Wir betrachten im Spineis die Magnetisierung bestimmter Ebenen, die sich durch den Kristall ziehen wie Stockwerke durch ein Gebäude“, sagt Moessner: Dabei ist zu erkennen, dass die Magnetisierung solcher Flächen immer gleich ist, solange die Eisregel eingehalten wird.

„Das zeigt uns, dass es noch immer eine gewisse Ordnung gibt“, sagt Moessner. Und nur wo es eine Ordnung gibt, kann man gegen sie verstoßen – nichts anderes als eine solche Ordnungswidrigkeit stellt ein magnetischer Monopol dar. Auf den magnetischen Monopol hatte es Roderich Moessner zunächst gar nicht abgesehen, auf den Bruch mit der Ordnung dagegen schon. Er überlegte, wie sich die Magnetisierung des gesamten Kristalls verändert, wenn im Labor ein äußeres Magnetfeld auf das Spineis wirkt.

Exotische Ordnungen als Leitmotiv

„Die Magnetisierung kann sich nur ändern, wenn die Eisregeln an einigen Stellen im Kristall unterlaufen werden. Dort bilden sich dann magnetische Defektstellen“, erklärt Moessner. Diese Defekte bewegen sich entlang des Magnetfeldes durch den Kristall und tragen die Änderung der Magnetisierung von einer Fläche zur anderen. Bei der Analyse der Eigenschaften dieser Defekte bemerkte der Physiker dann, dass es sich um magnetische Monopole handelt. Sie verhalten sich nämlich ähnlich wie elektrische Ladungen.

Die Entdeckung der besonderen Eigenschaften des Spineises war kein Zufall. Die Suche nach verborgenen und exotischen Typen von Ordnung zieht sich wie ein roter Faden durch Moessners Forscherkarriere. Schon während seiner Promotion forschte er an zweidimensionalen Elektronengasen und sagte in ihnen elektronische Zustände vorher, bei denen sich herausstellte, dass sie zu Ordnungen führen, die jenen in Flüssigkristallen ähneln. In Flüssigkristallen richten sich Moleküle in einer Raumrichtung parallel aus, bleiben ansonsten aber ungeordnet und beweglich. Die vergleichbaren elektronischen Zustände wurden dann tatsächlich experimentell nachgewiesen.

Anschließend forschte er im kanadischen Hamilton und an der US-Universität in Princeton. Dort wies Moessner nach, dass es – erstaunlich einfache – mikroskopische Modelle gibt, in denen sich die Elementarladung vom magnetischen Moment, dem Spin, eines Elektrons trennen kann. Um dies nachzuvollziehen, hilft die Vorstellung, dass sich die Elektronen im Festkörper auf einem Gitter bewegen. Die negativen Ladungen der Elektronen werden dabei von den positiv geladenen Atomrümpfen ausgeglichen.

In den einzelnen Ebenen dieses Gitters umgibt sich jedes Elektron mit seinen Nachbarn. Mit einem dieser Nachbarn verpaart es sich, und zwar so, dass sich die Spins, die magnetischen Momente, der beiden gegenseitig aufheben. Diese Spin-Paare sind aber nicht von Dauer. Jedes Elektron wechselt vielmehr ständig seinen Partner, sodass das gesamte Gefüge der Bindungen immer in Bewegung bleibt.

„Wenn man nun ein Elektron aus dem Gitter entfernt, bleiben ein Loch, eine positive Ladung, und daneben ein ungepaartes Elektron zurück“, erklärt Moessner. Von dem zurückbleibenden einsamen Elektron macht sich nur der Spin bemerkbar, seine negative Ladung fällt vor dem positiven Hintergrund nach wie vor nicht auf. Das Elektron, vom positiven Hintergrund auf seinen Spin reduziert, muss nun nicht alleine bleiben, es kann einen Partner eines benachbarten Spin-Paares an sich reißen. So wandert der ungepaarte Spin, also das magnetische Moment, durch das Gitter, ohne dass ihm die positive Ladung folgt.

Experimente sollen die Monopole realisieren

Dass auch künftig noch viele solcher neuen Ordnungsprinzipien und Naturgesetze in komplexen Systemen entdeckt werden, prophezeit der Physiker und Nobelpreisträger Robert B. Laughlin in seinem Buch Abschied von der Weltformel: „Die große Mehrheit der Ordnungsprinzipien kennen wir nicht“, schreibt er darin. Für die Physiker um Roderich Moessner gibt es also noch viel zu tun.

Komplexe Systeme theoretisch zu erforschen fasziniert ihn dabei aus zwei Gründen: „Erstens arbeiten wir in kleinen Gruppen, was ein hohes Maß an Flexibilität und Vielfalt mit sich bringt“, sagt Moessner. Der zweite Grund wiegt wohl schwerer: „Teilchen- und Astrophysiker haben ein großes Universum, wir haben viele kleine Quasiuniversen“, sagt der Forscher augenzwinkernd. „Denn für uns stellt jeder Festkörper ein potenziell neuartiges komplexes System dar.“ Die Vielfalt der Festkörperphysik ergebe sich aus den unzähligen Kombinationsmöglichkeiten der Elemente des Periodensystems, sodass hier noch viele neue Phänomene zu entdecken sind.

Die Ergebnisse, die ihre theoretische Forschung an den kleinen Universen hervorbringt, sollen nicht nur Theorie bleiben. Auf der Agenda stehen jetzt Experimente zur Monopol-Hypothese. Derzeit laufen dazu an verschiedenen Orten die Vorbereitungen. „Wie auch immer die Experimente ausgehen, ich bin zuversichtlich, dass sie uns etwas Wichtiges lehren werden“, sagt der Physiker. Unmittelbare technische Anwendungen der magnetischen Monopole sieht er noch nicht. Die gute Nachricht aber sei, dass man magnetische Monopole hoffentlich wird herstellen können, sollten sie für eine bestimmte Anwendung gebraucht werden, sagt Moessner. „Das demonstriert den Grad der Kontrolle, den man in der Materialphysik und der Physik komplexer Systeme inzwischen ausüben kann.“

GLOSSAR:

Spineis
Das Spineis bildet ein Kristallgitter aus Tetraedern, die an ihren Ecken miteinander verknüpft sind. Moessner und seine Kollegen untersuchten Spineis, das aus den Elementen Dysprosium, Titan und Sauerstoff zusammengesetzt ist. Seinen Namen verdankt Spineis einer gewissen Ähnlichkeit mit Wassereis. Letzteres besteht aus Sauerstoff- und Wasserstoffatomen. Jedes Sauerstoffatom hat vier Wasserstoffatome als Nachbarn. Zwei davon − und zwar jene, mit denen das Sauerstoffatom ein Wassermolekül bildet − liegen näher am Sauerstoff als die anderen zwei. Fachleute sprechen von der Eisregel. Im Spineis gibt es eine ähnliche paarweise Anordnung: An jeder Ecke eines Tetraeders sitzt ein magnetisches Moment, gegeben durch den Spin. Magnetische Momente sind gewissermaßen winzige Stabmagneten mit Nord- und Südpol. Wie die Nadeln eines Kompasses sind die magnetischen Momente an jeder der vier Ecken der Tetraeder, aus denen sich das Spineis zusammensetzt, aufgehängt. Im niedrigsten und daher bevorzugten Energiezustand des Spineises zeigen in jedem Tetraeder zwei Nordpole zum Zentrum des Tetraeders und zwei davon weg; eine magnetische Version der Eisregel.

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