Buchstabe für Buchstabe

Sprechen lernen Kinder durch bloßes Nachahmen, Lesen und Schreiben können sich dagegen die wenigsten ohne Unterricht aneignen. Sascha Schroeder und seine Forschungsgruppe „REaD“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersuchen, worauf es dabei im Detail ankommt. Sie schaffen so die Basis, um Kinder mit Leseproblemen effektiv zu unterstützen.

Text: Petra Mies

"Mia freute sich über ihr Geburtstagsgeschenk.“ Und weiter. „Tina kickte den Ball über das Spielfeld.“ Und weiter. „Der Hund war wütend, denn die Gans hatte ihn gebissen.“

Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort liest Zoe die Sätze, die auf dem Bildschirm vor ihr aufleuchten. Per Klick auf den blauen Knopf des Eingabegerätes, das sie in ihrer rechten Hand hält, bestimmt das Mädchen selbst, wann sie einen Satz beendet hat und der nächste erscheint. Dabei ruht der Kopf der Berliner Grundschülerin auf einem Gestell, das sie bisher nur vom Augenarzt kannte. Der Kopf soll sich möglichst nicht bewegen. Die Pupillen hingegen müssen es. Wohin genau Zoe beim Lesen guckt und wie sie dabei vorwärts kommt, zeichnet eine Kamera auf. Denn die Blickbewegungen sind in dem Testlabor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung von großem Interesse.

„Super“, lobt Sascha Schroeder die Siebenjährige. „Du liest schon sehr schnell für Dein Alter.“ Sie strahlt und erklärt stolz: „Mir macht es auch viel Spaß.“ Schroeder und sein Mitarbeiter Simon Tiffin-Richards haben bei der „Longitudinal Eye-Tracking Study“ schon ganz andere junge Probanden erlebt. Schroeder breitet die Arme aus: „Das Spektrum der Lesegeschwindigkeit ist riesig, manche Kinder sehen jedes Wort zigmal an.“ Zoe erledigt den auf die Dauer einer Schulstunde angelegten Test mit den 96 Sätzen und kleinen Pausen in 20 Minuten. Schwächere Schüler brauchen 80 Minuten.

Jeder fünfte Erwachsene versteht einfache Texte nicht

Warum ist das so? Wie genau erlernen Kinder das Lesen? Welche Teilprozesse sind beim Schriftspracherwerb relevant? Und wie wichtig sind verbale Fähigkeiten beim Transfer vom gesprochenen Laut zum geschriebenen Buchstaben und umgekehrt? Das und mehr wollen Schroeder und seine sechsköpfige Forschungsgruppe „REaD“ (Reading Education and Development – Schriftspracherwerb und Leseentwicklung) in mehreren Studien herausfinden.

Das Team um Sascha Schroeder widmet sich seit Mitte des vergangenen Jahres einem Thema, das in Deutschland bisher noch zu wenig untersucht wurde. Mit fatalen persönlichen und gesellschaftlichen Folgen, wie der Leiter befindet. Jeder fünfte Erwachsene in Deutschland könne einfache Texte nicht verstehen. Und davon sind keineswegs nur Menschen aus schwierigen sozialen Verhältnissen oder mit nicht-deutscher Herkunftssprache betroffen. Die Probleme finden sich in allen Schichten.

„In unserer modernen Informationsgesellschaft geraten Menschen mit geringen Lesefähigkeiten ins Abseits“, sagt Schroeder. „Das ist für Betroffene ein mit großer Scham und sozialer Isolation verbundenes Desaster. Hinzu kommt der enorme volkswirtschaftliche Schaden, denn sie finden oft keinen Zugang zur Arbeitswelt.“ Nicht zu vergessen die politische Dimension: „Das Tolle am Lesen ist doch die Aufklärung im Kleinen. Wer es kann, ist mündiger.“

Schroeder erkennt einen Teufelskreis. Wem das Lesen schwer falle, der vermeide es oft. „Da ist Sand im Getriebe, es ist anstrengend, und was macht man? Nichts.“ Das Ergebnis seien sich negativ aufschaukelnde Effekte. „Dabei steht absolut fest: Lesen lernt man durch nichts anderes als dadurch, dass man es macht.“

Auch die schönsten Bücherecken brächten aber nichts, wenn Kinder die Kulturtechnik nicht beherrschten, urteilt der Wissenschaftler. „Wer es nicht kann, kann auch nicht partizipieren.“ Daran änderten auch die Lese-Förderprogramme kaum etwas, die nach den ersten Pisa-Studien aufgelegt wurden. Denn sie sind Schröders Meinung nach häufig wenig effektiv, da die Prozesse, auf denen das Lesen beruht, noch unklar sind. „Das ist unsere Grundidee: Bevor wir bei der Leseförderung weitermachen, treten wir besser einen Schritt zurück und gucken uns die kognitive Mechanik hinter dem Lesen an.“ Es gelte, abstrakt zu forschen, um es nachher im Konkreten besser zu machen.

Damit Hilfsprojekte in Zukunft wirklich fruchten, bedarf es nach der Meinung des Psychologen, Linguisten und Musikwissenschaftlers noch vieler Informationen, die hierzulande bisher fehlen. Anders sei das im englischsprachigen Raum, aber die Ergebnisse ließen sich nicht übertragen, weil verschiedene Sprachen sehr spezifisch verschriftlicht würden. Mithin funktioniert auch der Transfer von Schrift in gesprochene Sprache in jedem Idiom anders. So sei der orthografische Code im Englischen schwerer zu knacken als im Deutschen. Kurzum: Nur mit Basis-Erkenntnissen darüber, wie der Schriftspracherwerb speziell im Deutschen funktioniere, sei Kindern mit Leseschwächen künftig sinnvoll zu helfen.

Die Ausgangslage scheint klar zu sein. „Schrift ist geronnene Sprache“, erklärt Schroeder. „Lesen ist die Entnahme von sprachlichen aus visuellen Informationen. Das gesprochene Wort, der Klang, verfliegt und dehnt sich zeitlich aus. Das geschriebene Wort hingegen steht fest und ist räumlich organisiert.“ Diese beiden Dimensionen ineinander zu überführen, gehöre zu den komplexesten kulturhistorischen Leistungen. Welche Hürden es dabei zu nehmen gilt, ist Kern der Arbeit von „REaD“.

Sprechen lernen Kinder in der Regel alleine durch den Umgang mit ihren Eltern und anderen Menschen. Dem Forschungsgruppenleiter zufolge geht die aktuelle Forschung zwar davon aus, dass Kinder desto leichter lesen lernen, je besser ihre verbalen Fähigkeiten entwickelt sind. Das Lesen und Schreiben fliegt ihnen aber nicht so zu wie das Sprechen. Darin, die ihnen bekannten Sprachlaute den richtigen Buchstabenfolgen zuzuordnen, brauchen sie Unterricht. Und sie müssen oft jahrelang üben, bis sie das Regelwerk verstehen. Dass die „Biene“ ein „ie“ braucht, der „Tiger“ aber nur mit „i“ auskommt, das erschließt sich nicht einfach so. Schroeder verweist darauf, dass viele Menschen vergäßen, wie schwer das Laut-Buchstabenrätsel für Beginner zu lösen ist.

Ein Vor und Zurück auf dem Weg zum Satzende

Mühsam müssen sich Leselerner die geschriebene Welt erobern, und das geschieht sprunghaft. „Wir glauben, dass sich unsere Augen schön gleichmäßig über die Zeilen bewegen, aber das stimmt nicht. Vielmehr hüpfen wir in so genannten Sakkaden über einen Text.“ Zwischen den Sprüngen machten die Augen eine Pause, in der es gelte, die gelesenen Informationen zu verarbeiten. Die Stopps sind notwendig, weil nur ein überaus kleiner Teil des Sehfeldes – auch fovealer Bereich genannt – scharf genug ist, um Buchstaben und Wörter identifizieren zu können. Dieser Sichtkegel sei dabei keineswegs rund wie der Lichtstrahl einer Taschenlampe, sondern in die Leserichtung nach rechts etwas größer und weiter. Auf diese Weise ist zu erahnen, was die Augen gleich lesen werden. Im Umfeld nach links blieben die Umrisse eher verschwommen.

Von links nach rechts, von oben nach unten liest man jedoch nicht in allen Sprachen. So lesen beispielsweise Araber von rechts nach links. Daher ist es praktisch, dass das scharfe Sehfeld eines Lesers je nach der Muttersprache immer in der Richtung erweitert ist, in der ein Text weitergeht – bei arabisch sprechenden Menschen also nach links. Alles Übungssache.

Anfänger wissen noch nichts von der Leserichtung. Sie müssen erst trainieren, dass Schrift die Sprache in Zeilen ordnet und Wörter voneinander abtrennt. Daher bewegen sie ihre Augen gleich in zweierlei Hinsicht anders über den Text als erfahrene Leser. „Kinder lesen am Anfang eher sequenziell. Sie arbeiten einen Text Buchstabe für Buchstabe ab, etwa so wie man eine Wurst in Scheiben schneidet“, sagt Schroeder. „Deshalb ist anfangs auch die Wortlänge ein wichtiger Faktor.“

Gerade anfangs ist der Kampf von Wort zu Wort anstrengend und zeitaufwändig, so dass Kinder den Anfang eines Wortes vergessen haben, wenn sie sein Ende erreichen. Dann müssen sie sich erst zurückorientieren und es erneut fixieren. Im Schnitt kommt es bei Kindern so zu zwei bis drei Fixationen pro Wort, wie es im Jargon der Sprachwissenschaftler heißt: „Daher beobachten wir bei ihnen auch die unsteten Blickbewegungen.“

Könner gehen die Sache routinierter und damit ganzheitlicher an. Sie machen zwar auch Sprünge, aber vor allem nach vorne, nämlich um über Wörter hinwegzuhüpfen. 20 bis 30 Prozent aller Wörter lassen geübte Erwachsene aus. Und die Wörter, die sie lesen, gehen sie nicht Buchstabe für Buchstabe durch. Selten müssen sie ein Wort mit ihrem Blick mehrmals anfassen, um es zu verarbeiten. So huscht der trainierte Blick insgesamt viel flotter über die Zeilen, und der Geübte liest fließend.

Im Alter lässt die Leseleistung auch aufgrund des abnehmenden Sehvermögens oft nach, weil die Augen schlechter werden. Aber ältere Rezipienten hüpfen nicht gar so extrem in Texten herum wie Kinder. Verlernen Menschen, die älter als 65 Jahre sind, das Lesen wieder? Klare Antwort des Forschers: „Nein!“ Er spricht von Phasen. „Die harte Lernphase dauert bis zum 16. Lebensjahr, dann beginnt die stabile Plateauphase und reicht bis über die mittlere Erwachsenenzeit hinaus, im Alter geht es dann wieder etwas nach unten.“

Doch zurück zu den Anfängen. Wie schnell und wie stark sich die Blickbewegungen im Laufe der Leseentwicklung verändert, ist eine der grundlegenden Fragen, denen das Berliner Team nachgeht. Schroeder: „Hängt es damit zusammen, dass die Augen der Kinder sich noch entwickeln, oder liegt es daran, dass sie sprachlich immer besser werden?“ Und: „Was steuert die Blickbewegungen? Wie unterscheiden sich Blickbewegungen von Kindern mit und ohne Leseschwierigkeiten?“

Schroeder hofft, dass die Studie der Blicke beim Lesen auch praktisch nützt. Denn Kenntnisse über die Augenbewegungen helfen, Probleme beim Lesen zu entdecken. In den 1970er-Jahren wurde Schroeder zufolge noch geglaubt, dass schlechte Leser vor allem Probleme mit den Augenbewegungen hätten. Damals sei man davon ausgegangen, dass die Augenbewegungen der Kinder mit Lesestörungen noch nicht reif, also entwickelt genug seien.

„Neue Forschungsergebnisse widersprechen dem“, erklärt Schroeder. „Bei Kindern mit Leseproblemen sind die Bewegungsmuster der Augen zwar tatsächlich auffällig, aber das ist keine Ursache, sondern vielmehr eine Konsequenz ihrer sprachlichen Defizite.“ Ein Nutzen der Eyetracking-Studie bestehe also darin, eine vollkommen falsche Auffassung aus dem Weg zu räumen. Zudem helfe sie bei der Antwort auf die Frage, welche sprachlichen Informationen eigentlich wirklich während des Leseprozesses genutzt werden.

Finnische Kinder haben es beim Lesenlernen leichter

Die Eye-Tracking-Längsschnittstudie widmet sich dem klassischen Grundschulalter, in dem sich die Lesefähigkeiten am stärksten entwickeln. Da das Auge als Organ für alle Menschen universell ist, liefert dabei auch der internationale Vergleich interessante Erkenntnisse. Wenn sich die Augen und ihre Feinsteuerung bei allen Kindern gleich schnell entwickeln, hilft eine sprach-vergleichende Studie, die Effekte der Augenentwicklungen und die sprachlichen Einflüsse voneinander zu trennen. So lesen auch englische und finnische Kinder die Übersetzungen der Texte, die Schroeders Team in Berlin erarbeitet hat. Wichtig ist dabei, dass der Schwierigkeitsgrad, also zum Beispiel das Verhältnis von bekannten und unbekannten, von langen und kurzen Wörtern, in allen drei Sprachen sehr ähnlich ist.

Transparenz heißt ein Stichwort beim internationalen Vergleich, also: Wie gradlinig überträgt eine Sprache die Laute in Buchstaben? Das Deutsche liegt dabei laut Schroeder in der Mitte. Englisch sei am kompliziertesten, Finnisch am leichtesten, weil dort so geschrieben werde, wie die Menschen sprächen. Vor diesem Hintergrund sei es sinnvoll, dass Kinder in England schon mit fünf eingeschult und auch vorher schon ans Lesen herangeführt würden. „Bei uns können Erstklässler oft schon nach einem halben Jahr oder spätestens am Ende des Schuljahres lesen, in England dauert das viel länger.“ Die unterschiedlichen Lerntempi und die Ursachen dafür seien aber noch nicht endgültig ergründet.

Unabhängig von der Sprache lesen Kinder Wörter leichter, die sie bereits kennen – das beobachten auch die Berliner Forscher in ihrer Studie der Augenbewegungen lesender Kinder. Um mehr darüber zu erfahren, wie unterschiedlich Kinder bekannte und unbekannte Wörter erfassen, mussten sich die Berliner Forscher erst einmal einen Überblick über den Wortschatz von Kindern verschaffen: Mit welchen Wörtern, Wortverbindungen und grammatischen Konstruktionen können deutsche Kinder überhaupt vertraut sein?

Deutsche Schulanfänger bringen im Schnitt einen Wortschatz von 5000 Wörtern mit. In der Minimalvariante, erklärt Schroeder, sollte der Wortschatz am Ende der Schulzeit bei 20 000 Wörtern liegen. „Also haben wir bis dahin 15 000 Wörter zu lernen. Das kann schon aus Zeitmangel beileibe nicht nur im Unterricht geschehen.“ Erwiesenermaßen erweitern Kinder ihren Wortschatz vor allem über Bücher, die sie außerhalb der Schule lesen. Oder auch nicht.

Die Sprache in Kinderbüchern zu analysieren, gibt also Aufschluss darüber, welche Wörter Kinder kennen können. Genau das hat das Berliner Team gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Potsdam getan. Nach einem Jahr legen die Partner nun erstmals entsprechende Daten für Deutschland vor. „childLEX“ heißt die Sammlung von Wörtern und sprachlichen Konstruktionen, denen Kinder in altersgerechten Büchern begegnen.

Mit childLEX dem Wortschatz auf der Spur

Eine Höllenarbeit steckt darin. Etwa zehn Millionen Wörter aus 500 Kinderbüchern analysierten die Forscher dafür. Jedem Wort wiesen sie eine syntaktische Kategorie zu, klassifizierten sie also etwa als Nomen, Verben oder Adjektive. Und sie haben zum Beispiel ausgezählt, wie häufig und welche Wörter in Büchern für verschiedene Altersgruppen verwendet werden. Dass „Pirat“, „Elfe“ oder „Drache“ selbstverständlich zum Vokabular für Kinder gehören, sei leicht einzusehen, sagt Schroeder. „Aber wie verhält es sich mit Konjunktionen wie ,daher’ oder ,sodass’, die Schlussfolgerungen einleiten? Und unterscheiden sich so genannte Mädchenbücher von denen für Jungen in ihrer sprachlichen Komplexität?“

Die Wortsammlung „childLEX“ – Linguisten sprechen von einem Korpus – unterscheidet zwischen drei Altersgruppen: sechs und sieben Jahre, acht und neun, zehn und elf. Wie sich die Nennung von Wörtern in Büchern für die einzelnen Gruppen verändert, auch darauf hatten die Analysten ein Augenmerk. Schroeder nennt Beispiele. „Alles Zeitliche fällt Kindern früh leicht, also etwa ,schnell’, ,danach’ und ,davor’, das funktioniert alles gut.“ Schwieriger sei es mit kausalen Beziehungen und Folgerungen für die Zukunft. „Anfänger verwechseln etwa gerne ,deshalb‘ mit ,weshalb’ und tun sich damit schwer.“

Mit „childLEX“ ließen sich diese Fragen nunmehr beantworten. Die Autoren der Bücher spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie wählen eine Sprache, von der sie meinen, sie entspräche dem Sprachverständnis ihrer jeweiligen Zielgruppe. Oder sie verwenden gezielt Konstruktionen wie etwa Schlussfolgerungen, damit Kinder sie kennenlernen. So bestimmen die Autoren wesentlich den Sprachschatz ihrer Leser.

Schroeder sieht den Korpus als den Input an, den Heranwachsende bekommen. Ähnliche Studien gebe es bereits fürs Spanische, Französische und Englische. Aber: „Das Deutsche hat dagegen mit Abstand die meisten Wortformen.“ Allein jedes Verb könne mindestens in 13 verschiedenen Varianten konjugiert werden. Und wenn es etwas Neues zu benennen gelte, setze das Deutsche so wie bei der „Krankenschwester“ neue Begriffe gerne aus bestehenden Wörtern zusammen. Her mit dem Kompositum.

Mit einer Online-Datenbank ist das „childLex“-Projekt nun abgeschlossen. Interessierte können die Webseite frei nutzen. Sie gibt auch Auskunft darüber, welche Wörter wie oft in Kinderbüchern vorkommen. Häufig sind in den Büchern nicht nur Funktionswörter wie „und“, sondern ebenso etwa „Mama“ und „Papa“.

Der Kinder-Korpus liefert auch wichtiges Material für eine weitere Studie. Für „DeveL“ (Development Lexicon Project) haben die Wissenschaftler 1200 Wörter mit unterschiedlichen linguistischen Eigenschaften wie etwa die Häufigkeit,
Wortlänge und Silbenzahl aus „childLex“ ausgewählt. Sie beobachten, wie lange Kinder in der zweiten, vierten und sechsten Klasse brauchen, um sie zu lesen. Wichtig auch: Welche Fehler machen sie dabei? So wollen die Forscher
ergründen, welche linguistischen Kriterien in welchem Alter für das Lesetempo entscheidend sind.

Parallel hat das Team junge und ältere Erwachsene die Wörter lesen lassen, um zu erkunden, wie sich das Lesen über die Lebensspanne verändert. „Es gibt natürlich bereits Modelle zur Worterkennung von Erwachsenen“, stellt Schroeder dar. „Aber bisher fehlte die Entwicklung dahin. Wir brauchen diese empirischen Daten, die auch den Weg zum Erwachsenenzustand bereits vom Kindesalter an abbilden.“

Je älter der Leser, desto größer werden die linguistischen Einheiten. Hangeln sich Leseanfänger noch von Buchstabe zu Buchstabe, verarbeiten Fortgeschrittene Wörter bereits in Silben oder noch größeren Einheiten. Einigen Theorien zufolge bestimmen daher Wortlängen zunächst noch sehr über die Lesegeschwindigkeit, was aber abnehme. Immer entscheidender für die Lesezeit wird dann die Nutzungshäufigkeit eines Wortes.

Gibt es die Zauberwörter „Gluß “ und „Brabel“ wirklich?

Ob das stimmt, soll „DeveL“ erkunden. In einem Teil von „DeveL“ sollen Kinder und Erwachsene Wörter möglichst zügig vorlesen. In einem zweiten Teil müssen die Testleser am Computer so schnell wie möglich entscheiden, ob ein Wort korrekt und wirklich existent ist oder ob es sich um ein Nichtwort handelt: Rechte Taste, richtiges Wort. Linke Taste, falsches Wort so wie „Gluß“ und „Brabel“.

Sitzen Kinder vorm Bildschirm heißen die Wortschöpfungen Zauberwörter. Denn es ist wichtig, dass die Untersuchungen den Kindern Spaß machen. Daher erklären ihnen die Forscher, dass beim Wortzauberer Baldrian ein Wortblitz
ins Schloss einschlagen hat. Alles ist durcheinander und die Kinder sollen ihm am Computer helfen, das Durcheinander zu ordnen. Die Reaktionszeiten bei der lexikalischen Entscheidungsaufgabe geben Aufschluss darüber, wie geläufig Wörter in welchem Alter sind.

Noch ist die Untersuchungsreihe nicht abgeschlossen, da wartet noch viel Arbeit auf das Team. Zoe hat ihren Test dagegen schon hinter sich. Mit ihrer Mutter verlässt sie zügig den Nebentrakt des Berliner Instituts. Sie lächelt. Könnte sein, dass sie zuhause noch ein gutes Buch erwartet.

Glossar

  • Sakkade: Sprung in der Augenbewegung;
  • Fixation: Haltepunkt in der Augenbewegung;
  • Semantisch: die Semantik, das heißt die Bedeutung von Buchstaben und Wörtern, betreffend;
  • Korpus: Sprachprobe wie etwa eine Sammlung von Wörtern; ein Korpus liefert die Grundlage für linguistische Analysen;
  • Syntaktisch: die Syntax, also die Struktur eines Satzes betreffend. Wörter lassen sich nach syntaktischen Kategorien, das heißt nach ihrer Funktion in einem Satz klassifizieren, also etwa als Nomen, Verb oder Adjektiv beziehungsweise als Subjekt, Prädikat oder Objekt.


Auf den Punkt gebracht

  • Schriftsprache erschließt sich anders als das gesprochene Wort nicht ohne Unterricht und Übung. Jeder fünfte Deutsche beherrscht sie nicht gut oder gar nicht.
  • Leseanfänger verarbeiten Texte einerseits Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort, dabei fixieren sie Wörter jedoch mehrfach, sodass ihre Augen im Text hin und her springen. Fortgeschrittene springen auch durch einen Text, überspringen aber dabei häufig Wörter.
  • Erkenntnisse, wie sich die Augen von Kindern beim Lesen bewegen, geben Anhaltspunkte, um Förderprogramme für Kinder mit Leseschwäche zu optimieren, weil sie im Detail enthüllen, wo die Schwierigkeiten der Kinder liegen.
  • Je größer die verbalen Fähigkeiten und Wortkenntnisse eines Kindes sind, desto leichter kann es beim Schriftspracherwerb die Laute in Buchstaben und Wörter übertragen und umgekehrt.



Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht