Das Gehirn mit allen Nervenzellen und Verbindungen

Wissenschaftlern gelingt die vollständige Rekonstruktion eines Stücks der Netzhaut

7. August 2013

Die Entschlüsselung des Seins – das Gehirn und all seine Verbindungen zu verstehen, das verbirgt sich hinter dem Begriff Connectomics. Nun ist Wissenschaftlern der Max-Planck-Institute für medizinische Forschung in Heidelberg und für Neurobiologie in Martinsried bei München und des Massachusetts Institute of Technology ein wichtiger Schritt in diese Richtung gelungen: Nach vier Jahren Datenanalyse und mithilfe von etwa 200 Studenten haben sie ein exaktes Diagramm erstellt, das alle Nervenzellen und ihre Verbindungen in einem Stück der Netzhaut einer Maus zeigt. Bereits dieser vergleichsweise kleine Einblick ins Gehirn brachte sowohl einen neuen Zelltyp ans Licht, als auch Verschaltungen, die bestimmte Reaktionen einzelner Netzhautzellen erklären könnten.

Das menschliche Gehirn besitzt zirka 100 Milliarden Nervenzellen, und jede ist über Tausende von Kontakten mit anderen Zellen verbunden. Schon lange vermuten Wissenschaftler, dass die Essenz unseres Seins – was wir fühlen, denken, woran wir uns erinnern – in diesen Kontakten gespeichert ist. Doch wie lässt sich das Geheimnis dieser Verbindungen entschlüsseln? "Schon der winzigste Würfel Gehirnmasse beinhaltet tausende Nervenzellen mit hunderttausenden Kontakten", sagt Moritz Helmstaedter, Erstautor der Studie und mittlerweile Leiter einer eigenen Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie.

Die Neurobiologen ließen sich von diesen Zahlen jedoch nicht abschrecken. Die Max-Planck-Forscher berichten nun von einem großen ersten Schritt, der ihnen zusammen mit ihren Kollegen aus den USA gelungen ist: Sie haben alle Nervenzellen und Verbindungen aus einem Stück Mäusenetzhaut kartiert.

Obwohl der Netzhautwürfel gerade einmal einen Zehntel Millimeter Kantenlänge hatte, kamen darin knapp 1000 Nervenzellen mit rund einer halben Million Verbindungen vor. "Wir brauchten ungefähr einen Monat um die Daten zu gewinnen und vier Jahre um sie zu analysieren" sagt Moritz Helmstaedter. Ein Grund dafür ist die extrem aufwändige Analyse der elektronenmikroskopischen Bilder des Hirngewebes: Die hauchdünnen Fortsätze der Nervenzellen müssen über lange Strecken verfolgt und Verbindungen zwischen ihnen erkannt werden. Heutige Computeralgorithmen sind für diese Aufgabe zwar sehr hilfreich, an vielen Stellen aber doch zu unzuverlässig. Daher müssen immer noch Menschen Entscheidungen über reale und falsche Abzweigungen in den neuronalen "Drähten" fällen. In der nun publizierten Arbeit verschlangen allein diese Entscheidungen rund 20.000 menschliche Arbeitsstunden. Um mit denselben Methoden die Verdrahtung eines ganzen Mäusegehirns zu entschlüsseln, wären mehrere Milliarden Arbeitsstunden nötig.

Die Netzhaut wandelt nicht einfach nur Bilder in elektrische Signale um, sondern trennt und filtert die Bildinformationen vor der Weitergabe an das Gehirn. Entsprechend komplex ist das Netzwerk der Nervenzellen in diesem kleinen Neurocomputer. Durch die Kartierung des Netzhautstücks stießen die Wissenschaftler nun auf einen bislang unbekannten Zelltyp, der zur Klasse der Bipolarzellen gehört, aber dessen Funktion zurzeit noch unklar ist. An anderer Stelle enthält das erstellte Verbindungsdiagramm Verschaltungsmuster, die erklären könnten, warum manche Zellen auf eine ganz bestimmte Art auf Reize reagieren. "Diese Ergebnisse zeigen uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind, obwohl wir mit dieser Arbeit gerade einmal 0,1 Prozent der Netzhaut einer Maus analysiert haben", so Helmstaedter. Wie viele andere Neurobiologen ist er davon überzeugt, dass die Entschlüsselung des Connectomes die Hirnforschung revolutionieren wird.

"Unser Ziel ist es, das ganze Konnektom eines Mäusegehirns zu analysieren und zu verstehen", sagt Winfried Denk, der gerade im Begriff ist, sein Labor vom Heidelberger Max-Planck-Institut ans Institut in Martinsried zu verlegen. Wie realistisch ist ein solch ehrgeiziges Ziel, wenn die Analyse des winzigen Netzhautstücks bereits vier Jahre gedauert hat? Ein ganzes Gehirn ist 200.000-mal größer. Denk ist zuversichtlich: "Ich bin davon überzeugt, dass wir den automatisierten Prozess, den wir auch für das Netzhautstück verwendet haben – das "serial block-face" Elektronenmikroskop – so skalieren können, dass man damit ein ganzes Mäusegehirn dreidimensional abbilden kann. Auch wenn wir dazu ein oder zwei Jahre durchgehend Daten aufnehmen müssen." Er merkt jedoch an, dass es im Moment noch keine realistische Analysemethode für die Daten gibt. "Außer, es gibt uns jemand die zig Millarden Euro um die menschlichen Arbeitsstunden zu bezahlen."

Helmstaedter hat für dieses Problem schon eine Idee – er setzt mit seiner Forschungsgruppe auf die Hilfe der Internetgemeinde: "Noch in diesem Jahr wollen wir mit dem Spiel Brainflight online gehen, in dem Internetnutzer auf der ganzen Welt Nervenbahnen nachfliegen und Punkte sammeln können. Gleichzeitig sagen uns ihre Entscheidungen etwas über die realen Verbindungen zwischen Nervenzellen." Heutige Algorithmen basieren oft auf maschinellem Lernen und werden daher immer besser, je mehr sie mit Trainingsdaten gefüttert werden. Die Daten der Internetspieler helfen somit auch bei der Entwicklung besserer Algorithmen für die computergestützte Datenanalyse.

 SM/HR

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