"Ich habe etwas von einem Langstreckenläufer"

24. Juli 2013

Ein Ort, an dem unangenehme Zeitgenossen wie Chlamydien, HI-Viren oder Tuberkulose-Bakterien im Zentrum stehen: das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. Vor 20 Jahren hat es Stefan H.E. Kaufmann als Gründungsdirektor mit aufgebaut. Seit drei Jahrzehnten erforscht der Wissenschaftler inzwischen Stärken und Schwächen des Tuberkelbazillus. Die moderne Tuberkuloseforschung ist ohne ihn nicht denkbar – und er nicht ohne sie.

Text: Catarina Pietschmann

Zwei Milliarden Infizierte weltweit, bei jedem Zehnten wird die Krankheit ausbrechen – ein altes Schreckgespenst ist wieder aufgetaucht: die Tuberkulose.

Aber wie kann das sein? Ist diese Lungenkrankheit nicht eine Geißel des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts? „Das stimmt, doch die Tuberkulose war nie wirklich weg, sondern nur von unserem Radar verschwunden“, sagt Stefan Kaufmann, Direktor der Abteilung Immunologie des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie in Berlin. Nun ist die Schwindsucht zurückgekehrt, der Thomas Mann in seinem „Zauberberg“ literarisch ein Denkmal setzte. Und mit ihr verblichene Bilder von ausgemergelten Menschen, die sich buchstäblich die Lunge aus dem Leib husten.

Und die hoch gepriesene moderne Medizin? Sie steht mit fast leeren Händen da. „Wir haben einen knapp 100 Jahre alten Impfstoff, der kaum schützt, und Antibiotika, die resistenten Bakterienstämmen zunehmend machtlos gegenüberstehen. Und es gibt keine Tests für die Unterscheidung von infizierten Menschen, die nicht erkranken werden, und solchen, bei denen die Krankheit ausbrechen wird.“

Kaufmann ist einer der weltweit führenden Infektionsbiologen. Kaum jemand kennt sich mit Tuberkulose so umfassend aus wie der 65-Jährige. Dass sein Büro auf dem Charité-Campus in Berlin liegt, nur wenige Schritte entfernt von der Luisenstraße, wo Robert Koch 1882 das Mycobacterium tuberculosis entdeckte, ist kein Zufall „Es ist einer der Vorteile, wenn man Gründungsdirektor ist“, sagt Kaufmann lächelnd. „Man hat einen gewissen Einfluss auf den Standort.“ Als die Wende kam, lagen die Pläne für ein infektionsbiologisches Max-Planck-Institut bereits fertig in der Schublade. Kaufmann plädierte für eine Großstadt – schon wegen der Nähe zu großen Kliniken. Warum also nicht gleich die Hochburg der frühen Infektionsforscher?

Geduldig hatte Robert Koch Ende des 19. Jahrhunderts Gewebe von infizierten Meerschweinchen immer wieder kultiviert. Erst nach zahlreichen Versuchen gelang es ihm, die stäbchenförmigen Tuberkulose-Bakterien durch schwache Färbung sichtbar zu machen. Zu dieser Zeit starb in Berlin, Paris und London jeder Dritte an der Schwindsucht. „Sie ist eine Armutskrankheit, die viel mit Sozialhygiene zu tun hat. Deshalb kam sie auch nach beiden Weltkriegen wieder hoch. Als sie bei uns verschwand, vergaßen wir leider, dass es nicht nur den europäischen Kontinent gibt“, sagt Kaufmann.

Viele Menschen auf engstem Raum plus katastrophale hygienische Verhältnisse – das ist Wohlfühl-Ambiente für Tuberkelbazillen. Mit Beginn der Urbanisierung in den Entwicklungsländern verbreitete sich der Erreger wie ein Buschfeuer in Slums und Townships, etwa im Süden Afrikas. Wie einst die Kohlegruben in Großbritannien und Deutschland, wurden dort Gold- und Edelsteinminen zu Hauptumschlagplätzen. „Aus der gesamten Subsahara kommen da Menschen zusammen, um zu arbeiten. Einsame Männer, die zu Prostituierten gehen und sich zusätzlich noch mit HIV infizieren“, sagt Kaufmann. HIV und Tuberkulose – ein Duo infernale. Denn erst, wenn das Immunsystem geschwächt ist, kann aus der latenten Infektion eine akute Krankheit entstehen.

Indien und China haben ebenfalls ein riesiges Tuberkulose-Problem, und in den 1990er-Jahren kam Osteuropa dazu. Mit der Sowjetunion zerbrach auch ihr bis dato recht gut funktionierendes Gesundheitssystem, und der Erreger konnte sich in ganz Osteuropa ausbreiten. Brutstätten sind unter anderem die überfüllten russischen Gefängnisse. Jeder zehnte Häftling leidet an einer hochansteckenden offenen Tuberkulose. In Deutschland gehen die Zahlen seit 1950 kontinuierlich zurück, doch auch hierzulande werden über 4.000 Fälle pro Jahr gemeldet.

Mycobacterium tuberculosis ist raffiniert. „Er ist zwar ein träger Bursche und teilt sich nur alle 16 Stunden, dafür hat er sich die effektivsten Übertragungswege ausgesucht: Tröpfchen- und Schmierinfektion.“ Einmal eingeatmet, gelangen die Erreger in die Lunge und werden dort vom Immunsystem gestellt. Fresszellen rücken an und umzingeln die Bazillen – töten sie aber nicht. Weitere Helferzellen bilden einen festen Wall und kapseln sie in sogenannten Granulomen ein.

Keine angenehme Situation für die Mikroben – aber sie machen das Beste daraus: Sie fahren ihren Stoffwechsel fast bis auf Null herunter und warten schlafend auf bessere Zeiten. Die Dormanz, eine Art Dornröschenschlaf, kann zehn oder mehr Jahre dauern, währenddessen der Infizierte nichts von den Eindringlingen ahnt. „Doch ab und zu wacht ein Erreger auf – wir nennen ihn Späher – und schaut nach wie die Lage ist.“

Steht die Immunabwehr noch Gewehr bei Fuß, stirbt er ab. Doch ist sie abgelenkt, weil sie gerade an anderen Fronten kämpfen muss – etwa gegen HIV oder einen anderen Infekt –, weckt der Späher seine Kumpane. Die Langschläfer sind hungrig. Also: erst einmal futtern, dann vermehren. „Das Granulom bietet ihnen alle Nährstoffe, die sie brauchen. Immer mehr Gewebe stirbt ab, bis sich das Granulom schließlich auflöst“, erzählt Kaufmann. Jeder Hustenanfall katapultiert nun die aktiven Erreger in die Umwelt, hin zu neuen Wirten – eine offene Tuberkulose ist entstanden.

Die Stoffwechselvorgänge von Schläfern und Spähern erforscht Kaufmanns Team, ihre Kommunikation sowie die Signale zwischen Späher und Wirt. Zur Mikrobe ist der gebürtige Ludwigshafener, Sohn eines Chemikers, beim Biologiestudium in Mainz gekommen. Die klassischen Biologiethemen interessierten ihn wenig, doch dann hörte er eine Vorlesung in medizinischer Mikrobiologie bei Paul Klein, einem renommierten Immunologen und Mikrobiologen. „Er war ein charismatischer, redegewandter Lehrer und Mentor. Er hat mich gelehrt, wie stark Wissenschaft begeistern kann.“

Kaufmann hatte sein Thema gefunden. 1977 promovierte er an der Uni Mainz, habilitierte vier Jahre später an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zur Charakterisierung von T-Zellen bei bakteriellen Infektionen und erhielt die Lehrbefugnis für Immunologie und Mikrobiologie.

Seine nächste Station war Freiburg, wo er sechs Jahre am Max-Planck-Institut für Immunbiologie forschte. 1987 folgte er dem Ruf an die Universität Ulm, wiederstand diversen Abwerbeversuchen und rückte 1991 auf eine C4-Professur auf. Er sei eher ein "self made man", sagt Kaufmann über sich. „Ich war nie bei einem großen Mentor in den USA – was ich im Nachhinein auch nicht bereue. Es hatte Vorteile: Ich musste früh lernen wie man organisiert.“ 1993 holte ihn die Max-Planck-Gesellschaft zurück und trug ihm die Gründung eines infektionsbiologischen Instituts an.

Kaufmanns Forscherkarriere begann mit Listerien, einem einfachen Modell-Erreger. Vieles verläuft ähnlich wie bei der Tuberkulose-Infektion, doch Listerien sind schneller. Damals galt das Dogma, dass bei bakteriellen Infektionen CD4-T-Zellen auf den Plan treten, bei viralen hingegen CD8. Kaufmann fand heraus, dass der Tuberkulose-Erreger zwar wesentlich von CD4-T-Zellen kontrolliert wird, aber auch CD8 werden aktiv. Es waren Vorarbeiten für die Arbeit an einem verbesserten Impfstoff, mit der Kaufmann dann in den 1990er-Jahren begann.

Bis 1970 wurde jeder Säugling in der Bundesrepublik gegen Tuberkulose geimpft, in der DDR noch bis zur Wende. Sind die Älteren denn nicht geschützt? Kaufmann schüttelt den Kopf. Jeder Leser dieses Artikels könnte infiziert sein, er selbst war es auch schon. „Damals wie heute ist der einzige existierende Impfstoff 'Bacillus Calmette Guérin' (BCG), ein abgeschwächter Erreger der Rinder-Tuberkulose. Wir wissen heute, dass er nur Kleinkinder schützt.“

Ein neuer Impfstoff steht deshalb weit oben auf der Wunschliste von Epidemiologen. Kaufmanns Hypothese: BCG stimuliert primär CD4-T-Zellen. Dies reicht aus, um die Bakterien einzudämmen. Dann aber ist ein breites Immunarsenal erforderlich, um den Erreger abzutöten. „Wir haben daraufhin ein Listerien-Gen in das Erbgut von BCG eingefügt“, erzählt Kaufman. „Und so wurde aus dem ehemals schwachen Impfstoff auch ein CD8-T-Zell-Stimulierer, der starken Schutz hervorruft.“

Derzeit befindet sich der Impfstoff-Kandidat in der klinischen Phase II und wird in Südafrika getestet. Sogar schon bei Kleinkindern, der späteren Zielpopulation. „Wir müssen solche Studien in Gebieten mit vielen Tuberkulose-Fällen durchführen, denn nur so erfahren wir, ob die Impfung wirklich vor der Krankheit schützt.“

Partner bei der Impfstudie ist die vom Bundesforschungsministerium initiierte Vakzine Project Management GmbH. Inzwischen ist auch einer der größten Impfstoffhersteller der Welt mit im Boot, das Serum Institute of India.

„Eines habe ich in den letzten Jahren gelernt: Das aufregende Neue, das wir über Infektionskrankheiten lernen, kommt nicht aus der Grundlagenforschung, sondern aus klinischen Studien. Sie zeigen uns, wonach wir im Labor suchen müssen.“

Aus ihren Untersuchungen an Patienten lernen die Wissenschaftler gerade, dass Tuberkulose nicht eine einzelne Krankheit ist. Stattdessen sind die vielen Granulome in der Lunge eigene Einheiten. Neben offenen existieren abgekapselte Herde, in denen die Keime noch im Ruhezustand liegen. Behandelt man jetzt, gehen die offenen Einheiten zurück, weil die wachen Erreger angreifbar sind. Eine offene Tuberkulose muss daher sechs Monate lang behandelt werden, um alle Erreger abzutöten.

Dazu wird ein Cocktail aus drei Antibiotika eingesetzt. Aber die Bazillen haben sich gewappnet. Gegen viele Antibiotika sind sie mittlerweile resistent geworden. Die Behandlung eines mit multiresistenten Keimen infizierten Patienten kostet schnell 50.000 Euro. Damit ist auch klar, dass ein solcher Patient nur in reichen Ländern überhaupt behandelt werden kann. Bereits 50 Millionen Menschen sind mit multiresistenten Stämmen infiziert. In 85 Staaten wurden bereits extensiv resistente Stämme entdeckt und in Indien, Italien, dem Iran und Südafrika sind sogar schon total resistente Erreger aufgetreten. Gegen diese Erreger wirkt kein einziges Antibiotikum mehr.

Mit Unterstützung der Bill und Melinda Gates Stiftung sucht Kaufmann darüber hinaus intensiv nach Biomarkern, an denen Mediziner ablesen können, wer überhaupt an Tuberkulose erkrankt. Denn die Infektion bricht ja nur bei jedem Zehnten aus. Mehrere tausend Probanden aus Familien mit Tuberkulose-Infizierten werden in sieben afrikanischen Studienzentren über zwei Jahre beobachtet und ihr Blut regelmäßig analysiert. Demnach unterscheiden sich latent Infizierte und Erkrankte in der Aktivität von fast 2.000 Genen.

Vier bis sechs solcher ungewöhnlich stark aktivierter oder gedrosselter Gene will Kaufmann auswählen. Eine eindeutige Signatur, die bereits wenige Monate nach der Infektion anzeigt, wer erkranken wird und deshalb prophylaktisch behandelt werden sollte.

2010 hätte Kaufmann Direktor des Robert-Koch-Instituts werden können – doch er lehnte ab. Nicht nur, weil er die unabhängige Forschung bei der Max-Planck-Gesellschaft hoch schätzt. Sondern auch, weil er glaubt, wissenschaftlich und gesellschaftlich durch sein Engagement bei internationalen Organisationen weit mehr erreichen zu können. Etwa bei GAVI, der Global Alliance for Vaccine Immunisation, die sich dafür einsetzt, dass vorhandene Impfstoffe auch armen Ländern zugute kommen. Oder als Mitglied eines Gutachtergremiums der Bill und Belinda Gates Stiftung, das die Ideen von Wissenschaftlern aus ärmeren Ländern auf ihre Umsetzbarkeit hin prüft.

Zudem setzt er auf die Zusammenarbeit mit Medizinern und Wissenschaftlern vor Ort. Dafür bedarf es guter Partner. „Deshalb bin ich auch stolz, dass auf meine Initiative zwei Max-Planck-Forschergruppen im südafrikanischen Durban eingerichtet wurden, die sich mit Tuberkulose und HIV beschäftigen.“ Darüber hinaus will er als Präsident der International Union of Immunological Societies Lücken schließen: Lücken in der Kommunikation zwischen jungen und erfahrenen Wissenschaftlern, zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung sowie zwischen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Kulturen.

Auf dem Besprechungstisch mahnen zwei kleine Buddha-Figuren, die Kaufmann aus China und Kambodscha mitbrachte, stumm zu Gelassenheit. Nein, besonders geduldig sei er nicht. Auch nicht mit sich selbst, gibt er zu. Fruchtlose Sitzungen sind ihm ein Gräuel. „So kurz wie möglich und so lang wie nötig“, ist seine Devise. Aber Ungeduld hat auch Vorteile. „Macht man mich zum Vorsitzenden eines Gremiums sind meist alle zufrieden. Weil sie nach ein, zwei Stunden mit einem Ergebnis wieder gehen können“, sagt er schmunzelnd. „Aber trotzdem habe ich etwas von einem Langstreckenläufer, sonst wäre Tuberkulose auch nicht das Richtige gewesen.“

Bei seinen Reisen, die ihn auf alle Kontinente, besonders häufig aber nach Afrika und Indien geführt haben, hat Kaufmann viel gesehen und erlebt. Das Ineinandergreifen von Armut und Krankheit und das Desinteresse der Pharmaindustrie an der Entwicklung von Medikamenten, „mit denen man nicht viel verdienen kann“, empören und spornen ihn an. Ans Aufhören denkt der Biologe, Vater von zwei erwachsenen Söhnen und seit kurzem Großvater, also noch lange nicht.

Auf dem Stuhl neben Kaufmann liegt ein prall gefüllter Rucksack. Er enthält einen dicken Ordner für die Arbeit zuhause, einen Labtop und Sportzeug für den Abend. Für den kurzen Weg zwischen Institut und Wohnung schwingt sich er sich wie immer aufs Rad. Auf ein eigenes Auto verzichtet Kaufmann seit einiger Zeit bewusst.

Seine Faszination für Mikroben ist auch privat zum Faible geworden. Kaufmann steht auf und öffnet den großen Bibliotheksschrank neben seinem unter akkuraten Papierstapeln fast verschwindenden Schreibtisch. Hinter getönten Scheiben und zwischen abgegriffenem Leder steht ein Schatz: gebundene Originalwerke berühmter Forscher. Darunter die komplette Berliner Medizinische Wochenschrift mit allen wichtigen Artikeln von Robert Koch oder das Werk von Girolamo Fracastoro aus dem 16. Jahrhundert, der erstmals die Ansteckung mit Syphilis und Tuberkulose beschrieb. Die Abbildungen sind teils nichts für schwache Nerven.

Eins seiner Lieblingsbücher stammt von Antoni van Leeuwenhoek und erschienen 1685. Der Tuchhändler hatte unter einem selbst gebauten Mikroskop als erster Mensch Bakterien erblickt. „Die hatte er von seinen Zähnen abgekratzt. Fortan soll er nur noch sehr heißen Tee getrunken haben“, sagt Kaufmann lachend, „weil er glaubte, die Keime damit abzutöten.“

Angesichts der Historie: Wie sieht die Zukunft der Infektionsbiologie aus? Seit 1980 wurden 30 potenziell gefährliche neue Erreger entdeckt. Dass weitere folgen werden, ist sicher. Durch die Globalisierung werden aus Infektionskrankheiten schnell Pandemien, die jeden Punkt der Erde erreichen können. „Impfungen sind der Schlüssel, denn Vorbeugen ist immer besser als Heilen. Dagegen sind die Erreger weitgehend machtlos, weil es am Anfang immer nur ganz wenige sind.“

In Büchern und Artikeln mahnt Kaufmann Gesellschaft, Politik und Industrie zum gemeinsamen Handeln. Vor allem gegen den Hauptrisikofaktor von Krankheit: Armut. Stefan Kaufmann zitiert dazu gern Voltaire. „Wir sind verantwortlich für das, was wir tun. Aber auch für das, was wir nicht tun.“

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