Evolutionärer Kompromiss für einen langen Zahnerhalt

Im Laufe des Lebens ändern sich die biomechanischen Anforderungen an die Zähne

23. Juli 2013

Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und am Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt am Main haben Belastungsanalysen an unterschiedlich verschlissenen Vorbackenzähnen von Gorillas durchgeführt. Dabei konnten sie zeigen, dass einzelne Bereiche der Kaufläche Zugspannungen entgegenwirken, die während des Kauvorgangs auftreten. Durch einen fortschreitenden Zahnverschleiß, der mit dem Verlust an Zahnmaterial und dem Abbau des Kauflächenreliefs einhergeht, werden Zugspannungen im Zahn reduziert. Der Preis ist aber, dass die Nahrung dann nicht mehr so effektiv zerkleinert wird. Verändert sich also im Laufe des Lebens durch Abnutzung die Beschaffenheit der Kaufläche, ändern sich damit auch die biomechanischen Anforderungen an das vorhandene Zahnmaterial – ein evolutionärer Kompromiss zugunsten eines möglichst langen Zahnerhalts.

Zunächst erstellten die Wissenschaftler digitale 3D-Modelle dreier Gorillabackenzähne mit unterschiedlichen Verschleißspuren und analysierten dann unter Anwendung einer am Senckenberg Forschungsinstitut entwickelten Software (Occlusal Fingerprint Analyser) die individuellen Zahn-zu-Zahn Kontakte. Anschließend untersuchten Stefano Benazzi  und Kollegen vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie mit Hilfe einer Methode aus den Ingenieurswissenschaften, der Finiten Elemente Analyse (FEA), welche Rolle die spezielle Beschaffenheit der Backenzähne von Homininen und Menschenaffen während des Kauvorgangs spielt.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Zugspannungen im Zahn bei kaum oder wenig verschlissenen Backenzähnen mit einem gut ausgeprägten Kaurelief (zur optimalen Zerkleinerung der Nahrung) in den Rillen der Kaufläche konzentrieren. Die verschiedenen Hügel eines Backenzahns stärken dann u.a. die Zahnkrone gegen die Einwirkung von Spannungen während des Kauprozesses. Durch den Verlust von Zahngewebe und eine Verringerung des Kauflächenreliefs im Laufe des Lebens können die Hügel diese Aufgaben nicht mehr so gut erfüllen. Dieses Defizit wird jedoch ausgeglichen: Bei stärker abgenutzten Zähnen vergrößert sich die Kontaktfläche beim Zahn-zu-Zahn-Kontakt, was letztlich zu einer Streuung der auf die Kaufläche einwirkenden Kräfte beiträgt.

Dies legt nahe, dass der Zahnverschleiß einen bedeutenden Einfluss auf die Evolution und strukturelle Anpassung der Backenzähne hatte, sodass diese die beim Zubeißen entstehenden Kräfte besser aushalten und so der Zahnverlust im Laufe des Lebens eines Individuums reduziert werden kann. „Es handelt sich hier möglicherweise um einen evolutionären Kompromiss für einen langen Zahnerhalt. Auch wenn Zähne mit abgekautem Relief nicht so effektiv sind, so erfüllen sie ihre Aufgaben immer noch besser, als wenn sie frühzeitig ausfallen würden“, sagt Stefano Benazzi vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Die Zahnevolution und –biomechanik können wir nur dann verstehen, wenn wir die Funktion des Zahns im Hinblick auf die dynamischen Veränderungen von Zahnstrukturen im Leben eines Individuums untersuchen.“

„Die Ergebnisse bringen uns bei der Erforschung der funktionalen Biomechanik dentaler Merkmale und der Entschlüsselung der evolutionären Entwicklung unseres Kauapparats einen großen Schritt voran. Darüber hinaus sind sie möglicherweise auch für die moderne Zahnheilkunde bei der weiteren Verbesserung von Zahnbehandlungen von Bedeutung“, sagt Jean-Jacques Hublin, Direktor der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

SJ/HR

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