Ein Forschungsinstitut im Wandel der Zeit

23. Mai 2013

Das Dortmunder Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, das am 24. Mai sein 100-jähriges Bestehen feiert, gehört heute zu den führenden Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der molekularen Biomedizin. Als der Vorläufer, das Institut für Arbeitsphysiologie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, vor 100 Jahren in Berlin seine Arbeit aufnahm, waren die Wissenschaftler dort von Zell- und Molekülforschung weit entfernt.

1929 zog das Institut für Arbeitsphysiologie von Berlin nach Dortmund, mitten in das Ruhrgebiet und damit in eines der wichtigsten Industriezentren Europas. Fragen nach der Auswirkung von Schichtdienst und schwerer körperlicher Arbeit unter Tage oder am Stahlofen auf die Gesundheit waren damals hochaktuell und nicht zuletzt auch von ökonomischer Bedeutung.

Ein zwiespältiges Kapitel

Der durch die Weltwirtschaftskrise bedingte Mangel an Nahrungsmitteln verschob ab 1933 den Schwerpunkt der Forschung auf die Ernährung. Die Publikation „Vorschlag zu einer Ernährungsstatistik auf der Grundlage des Nahrungsbedarfs der einzelnen Berufe“ im Jahre 1939 von Heinrich Kraut und anderen stellte die Verteilung von Nahrungsmitteln in einer Volkswirtschaft auf eine völlig neue Basis.

Die von Kraut und seinen Mitarbeitern entwickelten Berechnungsmethoden bildeten bis zum Ende der Lebensmittelrationierung im März 1950 die Ausgangsdaten für die Verteilung von Lebensmitteln an das Militär und an die Zivilbevölkerung durch die Zuteilung von Lebensmittelmarken.

Im Sommer 1943 wurde wegen der zunehmenden Bombardierung des Ruhrgebietes vom Reichsminister für Bewaffnung und Munition die Verlegung des Instituts angeordnet. Die Institutsleitung entschied sich für einen Umzug in das Haus „Vier Türme“ in Bad Ems und für die Anmietung von Privathäusern in Diez an der Lahn. Das Dortmunder Institutsgebäude wurde 1944 bei einem Bombenangriff auf die Stadt schwer beschädigt, blieb aber in den Grundfesten erhalten.

In Bad Ems wurde in den letzten Kriegsjahren die Arbeitsgruppe für Ernährungsstatistik in der Abteilung Kraut personell massiv verstärkt. Sie wertete insbesondere die Daten eines von Kraut initiierten und geplanten Großversuchs mit circa 7000 Zwangsarbeitern  in neun Stahl- und Bergwerken des Ruhrgebietes aus. Mit diesen, in der historischen Literatur als „Krautaktion“ bezeichneten, Untersuchungen konnte die enge Korrelation zwischen Ernährung und Arbeitsleistung quantitativ nachgewiesen werden. In der neuen Literatur werden die ethischen Aspekte der unter Zwang mit Menschen durchgeführten Versuche kritisch diskutiert, unter anderem auch im Lichte eines Gutachtens, das Kraut in den Nürnberger Prozessen über die Ernährungslage der Häftlinge in Auschwitz erstellte.

Arbeit, Ernährung und Leistung

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ordnete sich die Forschungslandschaft neu. 1948 ging die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) in die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) zur Förderung der Wissenschaften über. In diesem Zuge wurde aus der Dortmunder Einrichtung das Max-Planck-Institut (MPI) für Arbeitsphysiologie.

Fast 60 Jahre widmete sich das Institut den Themen Arbeit, Ernährung und Leistung. 1956 entstand ein eigenständiges Institut für Ernährungsphysiologie mit drei Abteilungen, für den 1959 ein Neubau eingeweiht wurde. Ab da war Dortmund Standort von zwei unabhängigen Max-Planck-Instituten. Mit der Berufung von Benno Hess zum Direktor wurde am MPI für Ernährungsphysiologie 1965 die Biochemie der Zelle zum neuen Forschungsschwerpunkt.

Auch am MPI für Arbeitsphysiologie brachen mit der Berufung des Physiologen Dietrich W. Lübbers zum Direktor 1968 neue Zeiten an. Die Wissenschaftler untersuchten nun die Sauerstoffversorgung der Organe. Dieser Neuausrichtung der Forschung folgte auch die Änderung des Namens  in MPI für Systemphysiologie. Die Forschungsarbeiten zur Arbeitsphysiologie wurden ab 1969 in einer neu gegründeten Einrichtung in Dortmund, dem heutigen Leibniz- Institut für Arbeitsforschung,  fortgeführt.

1983 wurde der Mediziner und Biochemiker Rolf Kinne als zweiter Direktor des MPI für Systemphysiologie berufen. Er beschäftigte sich mit den Transportvorgängen durch die Membranen der Zelle.

Neue Weichenstellung in Richtung molekularer Biowissenschaften

Die Berufung der renommierten Biochemiker Roger Goody und Alfred Wittinghofer als neue Direktoren führte 1993 zur Vereinigung der beiden Institute zum heutigen MPI für molekulare Physiologie. Damit erfolgte auch in wissenschaftlicher Hinsicht die entscheidende Weichenstellung für eine erfolgreiche Zukunft. Das Institut wandte sich nun vollends den molekularen Biowissenschaften zu. Immer weiter und mit modernster Forschungstechnik dringen die Wissenschaftler nun in die Welt der Zellen und Moleküle vor. Goody und Wittinghofer erzielten bahnbrechende Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Signalvermittlung in Zellen. Ihre Erkenntnisse sind bis heute von großer Bedeutung für die Erforschung von Krebs und viralen Infektionen.

1999 wurde das alte Institutsgebäude am Rheinlanddamm aufgegeben und  ein neues Institut am Campus der Universität Dortmund bezogen. Mit der ebenfalls 1999 erfolgten Doppelberufung des Chemikers Herbert Waldmann als Direktor am MPI und Lehrstuhlinhaber an der TU Dortmund wurde auch die Kooperation mit der Universität deutlich intensiviert. In den folgenden Jahren haben die Fakultät für Chemie und das MPI gemeinsam das Gebiet der Medizinalchemie und Wirkstoffforschung entwickelt und Dortmund darin zu einem der führenden Standorte in Europa gemacht.

Vom Molekül zum Menschen

Nach der Emeritierung von Rolf Kinne (2005) und Alfred Wittinghofer (2009) gelang es dem MPI und der MPG wiederum, zwei Forscher von Weltformat nach Dortmund zu holen. Der Niederländer Philippe Bastiaens  wurde 2006 zum Direktor ernannt, auch er hat gleichzeitig einen Lehrstuhl an der TU. 2011 folgte Andrea Musacchio aus Mailand dem Ruf nach Dortmund.    

In dieser Konstellation  gehört das Institut an der Otto-Hahn-Straße heute zu den international führenden Forschungseinrichtungen im Bereich der molekularen Biomedizin. Dem wissenschaftlichen Leitgedanken des Instituts “Vom Molekül zum Menschen“ folgend, stehen aktuell Untersuchungen zu den molekularen Prozessen des Zellwachstums, der Krebsentstehung, der Signalübertragung innerhalb und zwischen den Milliarden von Zellen des menschlichen Körpers im Mittelpunkt der Forschungsarbeiten. Zudem arbeiten die Wissenschaftler an der Entwicklung von Substanzen, die sich auch zur gezielten Modulation von krankheitsauslösenden Zellprozessen im Organismus einsetzen lassen.

PH

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