Sisyphus-Arbeit für polare Moleküle

Eine neue Methode für die Kühlung von polaren Molekülen birgt das Potenzial, molekulare Gase in der Nähe des absoluten Temperaturnullpunkts zu untersuchen

26. November 2012

Was als Synonym für vergebliche Anstrengungen steht, verschafft Physikern nun einen bislang unerreichten Grad an Kontrolle in der Mikrowelt. Die optoelektrische „Sisyphus-Kühlung“, die ein Wissenschaftlerteam um Gerhard Rempe am Max-Planck-Institut für Quantenoptik entwickelt hat, birgt erstmals das Potenzial, mehr-atomige Moleküle bis auf wenige Milliardstel Grad über den absoluten Nullpunkt der Temperatur bei minus 273,16 Grad Celsius abzukühlen. Atome lassen sich bereits seit einiger Zeit auf solche tiefen Temperaturen abkühlen, für Moleküle erweist sich das aufgrund ihrer großen Komplexität als ungleich schwieriger. Dabei sind Untersuchungen extrem kalter Moleküle für zahlreiche Fragen der Grundlagenforschung interessant. Sie könnten Auskunft darüber geben, wie chemische Reaktionen im Weltall ablaufen. Ultrakalte molekulare Gase könnten zudem als Quantensimulatoren, einzelne kalte Moleküle als Quantenspeicher eingesetzt werden.

Licht ist das Mittel der Wahl, um Atome auf extrem tiefe Temperaturen zu bringen. Bei der Laserkühlung werden die Atome mit Laserlicht bestrahlt, dessen Energie ein klein wenig unterhalb der Energie für eine ausgewählte Anregung von Elektronen des Atoms liegt. Dieser Übergang befördert das Atom von einem elektronischen Zustand in einen anderen. Doch nur bei Atomen, die den Laserstrahlen direkt entgegenlaufen, reicht die Energie des Lichts aufgrund des Dopplereffekts, um die Atome anzuregen. Letztlich wird das Atom dadurch in Richtung des Lasers abgebremst. Dieses Verfahren ist die Voraussetzung für die Anwendung weiterer Kühltechniken, die schließlich den Nanokelvin-Bereich erschließen. (Ein Kelvin ist die Einheit der absoluten Temperatur, die am absoluten Nullpunkt beginnt. Der Temperaturschritt von einem Kelvin entspricht einem Grad Celsius; ein Nanokelvin ist einen Milliardstel Kelvin.) 

Das Prinzip der Laserkühlung kann bei mehr-atomigen Molekülen nicht mehr funktionieren, da diese zu viele Anregungsmöglichkeiten besitzen: Hier gibt es nicht nur die elektronischen Anregungszustände – hinzu kommen Vibrationsanregungen, bei denen die Atome gegeneinander schwingen, und Rotationsanregungen, die Drehungen des Moleküls um eine Achse entsprechen.

Das Dipolmoment polarer Moleküle ermöglicht deren Kühlung

Doch ein Großteil der Moleküle besitzt dafür eine andere Eigenschaft, die sich zum Kühlen nutzen lässt: aufgrund der unterschiedlichen Elektronenaffinitäten der Atome kommt es innerhalb des Moleküls zu Ladungsverschiebungen. So fühlen sich die Elektronen in Wassermolekülen stärker zu dem Sauerstoffatom als zu den Wasserstoffatomen hingezogen. Auf diese Weise bilden sich ein negativer und ein positiver Ladungsschwerpunkt aus. Auch wenn solche polaren Moleküle nach außen hin elektrisch neutral sind, besitzen sie somit ein ausgeprägtes Dipolmoment. Dies hat zur Folge, dass sich ihre Rotationsniveaus in einem statischen elektrischen Feld aufspalten. In den sogenannten Stark-Zuständen, die sich so ergeben, richten sich die Dipole unterschiedlich stark parallel beziehungsweise antiparallel zum elektrischen Feld aus. Dieser Stark-Effekt – benannt nach dem deutschen Physiker Johannes Stark – ist der Schlüssel zum optoelektrischen Sisyphus-Kühlen.

Das Team um Gerhard Rempe, Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching, hat die neue Kühltechnik nun auf ein Ensemble von etwa einer Million polaren Fluormethan-(CH3F)-Molekülen angewendet. Die bereits auf rund 400 Millikelvin vorgekühlten Teilchen sind zwischen den beiden Platten eines Kondensators gefangen, dessen Feld im Zentrum sehr gleichmäßig ist, aufgrund einer Mikrostrukturierung der Plattenoberfläche zum Rand hin jedoch stark ansteigt. Infolge der Wechselwirkung der molekularen Dipole mit dem elektrischen Feld zeigen ihre Energie-Niveaus die oben erwähnte Stark-Aufspaltung. Ein Kühlzyklus beginnt damit, Moleküle im Zentrum der Falle durch Infrarotstrahlung auf ein höher gelegenes Vibrationsniveau anzuregen. Von dort aus gehen sie wieder in den Grundzustand über und senden dabei spontan Photonen aus.

Am Gipfel des elektrischen Feldes dreht ein Radiopuls das Molekül

Bei der spontanen Emission kann sich allerdings der Stark-Zustand, das heißt die Ausrichtung ihres Dipolmoments relativ zum elektrischen Feld ändern. „Damit ein Molekül erfolgreich gekühlt werden kann, muss es in einem stärker antiparallel ausgerichteten Stark-Zustand landen“, erklärt Martin Zeppenfeld, der das Experiment im Rahmen seiner Doktorarbeit konzipiert und mit seinen Kollegen aufgebaut hat. „Anschließend muss es sich in die Randzone der Falle bewegen, in der das elektrische Feld stark ansteigt.“ Wenn das Molekül diesen ‚Berg‘ hoch läuft, wandelt sich ein großer Teil seiner Bewegungsenergie in potentielle Energie um. Nahe am höchsten Punkt des elektrischen Feldes wird das Dipolmoment des Moleküls mit geeigneten Radiofrequenzfeldern gezielt gedreht, sodass es zurück in einen weniger stark ausgerichteten Stark-Zustand gelangt.

Da die Wechselwirkung mit dem elektrischen Feld im schwächer ausgerichteten Stark-Zustand kleiner ist, gewinnt das Molekül beim ‚Zurückrollen‘ ins Fallenzentrum weniger Energie, als es beim ‚Hochlaufen‘ aufgewendet hat. „Hier liegt die Analogie zur mühevollen Arbeit des antiken Helden Sisyphus“, erläutert Zeppenfeld. Die Abkühlung erfolgt also durch die starke Wechselwirkung der Dipole mit den elektrischen Feldern in der Teilchenfalle. „Wir können aber nur dann effektiv kühlen, wenn wir verhindern, dass der Prozess auch in umgekehrter Richtung abläuft und die Moleküle über denselben Mechanismus geheizt werden“, erklärt Martin Zeppenfeld. Das erreichen die Forscher, indem sie die Moleküle wie oben beschrieben zur spontanen Emission anregen, die eine Einbahnstraße darstellt.

Die Kühlmethode könnte hilfreich sein, um Quanteninformation zu speichern

Bereits mit einigen Wiederholungen des Zyklus kühlten die Forscher das System relativ stark – von 390 Milli-Kelvin auf 29 Milli-Kelvin – ab. „Diese Technik lässt sich auf viele unterschiedliche Moleküle anwenden, solange diese nicht zu groß sind und ein ausgeprägtes Dipolmoment besitzen“, betont Barbara Englert, die an diesem Experiment als Doktorandin forscht. Potentielle Anwendungen sieht sie darin, Quanteninformation in den ultrakalten Molekülen zu speichern, insbesondere in Verbindung mit supraleitenden Schaltungen.

Rosa Glöckner, ebenfalls Doktorandin am Experiment, ist dagegen vor allem von den Möglichkeiten für die Vielteilchenphysik fasziniert. „Unsere Methode hat das Potenzial, molekulare Gase so stark abzukühlen, dass wir andere Kühltechniken wie das Verdampfungskühlen anschließen können. Damit könnten wir in den für die Bildung eines Bose-Einstein-Kondensats notwendigen Nanokelvin-Bereich vorstoßen.“ In einem Bose-Einstein-Kondensat verschmelzen die Teilchen eines Ensembles quasi zu einem einzigen Teilchen, weil sie sich quantenmechanisch als ein Teilchen beschreiben lassen. Von besonderem Interesse sei es dabei, das Verhalten polarer Moleküle in optischen Gittern zu untersuchen, da sich die Reichweite der Dipol-Wechselwirkung über mehrere Gitterplätze erstreckt. In einem solchen System könnten ultrakalte Moleküle dazu dienen, neuartige Quantenzustände der Materie zu untersuchen.

Bis solche Anwendungen möglich werden, ist noch ein weiter Weg zu bewältigen. „Wir haben aber noch eine Reihe von Möglichkeiten, das aktuelle Experiment zu optimieren, von Verbesserungen an der elektrischen Falle oder am Nachweisverfahren für die Moleküle bis hin zur Verwendung anderer Molekülspezies“, meint Martin Zeppenfeld. „Somit dürften wir schon relativ bald zu deutlich niedrigeren Temperaturen vorstoßen. Schon jetzt aber ermöglicht unsere Technik neuartige Untersuchungen an polaren Molekülen – von hochauflösender Spektroskopie bis hin zur Untersuchung von Stößen zwischen gefangenen Molekülen in durchstimmbaren homogenen elektrischen Feldern.“

OMS/PH

Zur Redakteursansicht