Rekord-Ionisation von Xenon

Ein Röntgenlaser entfernt aus Edelgasatomen mehr als zwei komplette Schalen der Elektronenhülle

14. November 2012

Atome sind inzwischen gründlich erforscht, aber immer wieder für Überraschungen gut. Forscher der Max Planck Advanced Study Group (ASG) am Hamburger Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) haben nun Atome des Edelgases Xenon mit einer außergewöhnlich hohen Ladung erzeugt. Mit einem einzigen Blitz des weltweit stärksten Röntgenlasers hat das internationale Team um Daniel Rolles 36 Elektronen aus einem Xenon-Atom herausgeschossen und dem Atom damit mehr als die beiden energetisch am höchsten liegenden Schalen der Elektronenhülle ausgezogen. Diese Rekordladung übertrifft deutlich die größtmögliche Ionisation, mit der die Physiker bei der Energie der verwendeten Röntgenstrahlung rechneten. Sie wird erst durch einen Resonanzeffekt möglich, den das Team entdeckte. Die Ergebnisse müssen Forscher künftig berücksichtigen, wenn sie etwa Proteine oder andere Biomoleküle, deren Strukturen sich nur mittels eines Röntgenlasers aufklären lassen, mit den extrem energiereichen Pulsen befeuern.

Wenn ein Apfelbaum einem Atom ähnelte, hätte es ein Obstbauer schwer. Dann müsste er beim Pflücken für jede Frucht mehr Kraft aufbringen und schon beim dritten Dutzend 100 Mal stärker an einem Apfel ziehen als am ersten. Dem Landwirt bleibt solch eine Anstrengung erspart, Atomphysikern nicht: Je mehr Elektronen sie bereits aus einem Atom gelöst haben, desto mehr Energie müssen sie aufwenden, um das nächste zu entfernen. Nun kommt Ihnen dabei jedoch ein bislang unbekannter Effekt zu Hilfe. Dieser erlaubte es einer Kollaboration um den Physiker Daniel Rolles von der Max Planck Advanced Study Group am CFEL, mit einem einzigen Puls eines Röntgenlasers 36fach geladenes Xenon zu erzeugen, obwohl sie bei der verwendeten Photonenenergie rechnerisch nur eine 26fache Ionisation für möglich hielten.

Die Forscher nutzten für ihre Experimente die Blitze des Röntgenlasers an der Linac Coherent Light Source (LCLS) des US-Forschungszentrums SLAC in Kalifornien. Die Lichtteilchen (Photonen) der verwendeten Röntgenstrahlung enthielten mit 1,5 Kilo-Elektronenvolt rund tausendmal mehr Energie als sichtbares Licht. Die Pulse des Lasers zeichneten sich aber noch durch andere extreme Eigenschaften aus: Jeder blitzt nur für 80 Femtosekunden auf, also nicht einmal für den Hunderttausendstel Bruchteil einer Milliardstel Sekunde, und transportiert etwa eine Billion Photonen. Zum Vergleich: dies entspricht in etwa der Intensität, die , wenn sich das gesamte auf die Erde treffende Sonnenlicht, auf die Fläche eines Daumennagels fokussieren ließe.

Mehrere Photonen schleudern Elektronen aus dem Atom

Wenn ein Photon eines solchen Röntgenblitzes auf ein Elektron im Xenonatom trifft, gibt es seine Energie an das Elektron ab. Dieser Stoß kann das Elektron aus der Atomhülle herausschubsen – je nachdem, wie fest es gebunden ist. Da die Lichtteilchen so extrem energiereich sind, kommen dafür per se einige Elektronen in Betracht. Zudem wirbeln die Energieschübe die gesamte Elektronenhülle des Atoms durcheinander, wobei weitere Elektronen quasi aus dem Atom geschüttelt werden können. Damit aber noch nicht genug: Wegen der extrem hohen Photonendichte der Pulse, werden viele Atome gleich von mehreren Photonen eines einzigen Röntgenblitzes genau so getroffen, dass Elektronen aus dessen Hülle geschleudert werden.

Unterm Strich sollten sich mit einer Photonenenergie von 1,5 Kilo-Elektronenvolt jedoch maximal 26 der 54 Elektronen des Edelgases entfernen lassen – das zumindest dachten Physiker bislang. Die übrigen 28 seien selbst für diese Photonenenergie zu stark gebunden, so die gängige Lehrmeinung. Tatsächlich beobachteten die Wissenschaftler um Daniel Rolles jedoch, dass bis zu 36 Elektronen aus den Atomen flogen. Somit hatte der Röntgenblitz die beiden äußeren der fünf Schalen komplett und sogar noch einen Teil der dritten Schale aus der Elektronenhülle des Edelgases entfernt. Diese äußeren Schalen umfassen die oberen Energieniveaus des Atoms. „Nach unserem Wissen ist das die höchste Ionisation, die jemals mit einem einzigen elektromagnetischen Impuls in einem Atom erreicht worden ist“, betont Rolles. „Unsere Beobachtung zeigt, dass die bestehenden theoretischen Ansätze modifiziert werden müssen.“

Ursache für die vermeintlich unmögliche Ionisation ist eine Resonanz: Im Energiebereich der Röntgenblitze können die Xenon-Elektronen sehr viel Strahlung aufnehmen. Manche werden dadurch direkt aus dem Atom hinausbefördert, andere gehen in einen angeregten, das heißt energiereicheren Zustand über, sind aber noch gebunden. Fällt eines der angeregten Elektronen jedoch in seinen Ausgangszustand zurück, wird wiederum Energie frei, die einem anderen angeregten Elektron den nötigen Extra-Schubs geben kann, um es ganz aus dem Atom zu befördern. In seltenen Fällen wird auch das bereits angeregte Elektron von einem zweiten Photon aus dem Röntgenblitz getroffen und so aus der Atomhülle geschossen.

Die Xenonatome nehmen doppelt so viel Energie auf wie erwartet

Dieser Resonanzeffekt ist für Xenon bei einer Photonenenergie von 1,5 Kiloelektronenvolt besonders groß. Das liegt letztlich daran, dass Elektronen in einem Atom nicht beliebige Energiesprünge machen, sondern nur bestimmte Quanten an Energie aufnehmen können. Lichtteilchen mit 1,5 Kilo-Elektronenvolt können Elektronen aus dem Inneren des Atoms gerade so stark anregen, dass ein weiterer Energieschub sie aus dem Atom befördert. Dementsprechend wurden die Xenonatome selbst bei einer höheren Energie von zwei Kilo-Elektronenvolt nicht so stark ionisiert wie mit den 1,5 Elektronenvolt-Pulsen.

„Das LCLS-Experiment hat einen unerwarteten und zuvor unerreichten Ladungszustand produziert, indem gleich Dutzende Elektronen aus einem Atom katapultiert wurden“, unterstreicht Ko-Autor Benedikt Rudek, Doktorand am CFEL, der die Daten analysiert hat. Ein Atom, das 36fach ionisiert wurde, absorbierte dabei 19 Photonen, mithin eine Energie von gut 28,5 Kilo-Elektronenvolt. „Das ist doppelt so viel, wie wir erwartet hatten“, sagt Benedikt Rudek.

Auf Grundlage der Messungen verfeinerten CFEL-Wissenschaftler ein mathematisches Modell, mit dem sich solche Resonanzen in schweren Atomen berechnen lassen. Die Beobachtungen bringen den Physikern nicht nur neue Erkenntnisse zur Wechselwirkung zwischen Atomen und Licht, sie haben auch praktische Bedeutung für die Forschung: „Unsere Ergebnisse liefern ein Rezept, um den Elektronenverlust in einer Probe zu maximieren“, erläutert Daniel Rolles. Das kann erwünscht oder unerwünscht sein. „Beispielsweise können Forscher unsere Ergebnisse nutzen, die ein Plasma mit sehr stark geladenen Ionen erzeugen wollen.“ Solche Plasmen könnten Wissenschaftlern etwa zu astrophysikalischen Experimenten dienen.

Biologischen Studien sollten den Resonanzbereich schwerer Atome meiden

Bei der Untersuchung biologischer Proben hingegen sollten Wissenschaftler die Resonanzbereiche schweren Atome vermeiden. „Die meisten biologischen Proben enthalten einige schwere Atome", sagt Rolles. Untersucht man die Proben wie etwa Proteine mit Röntgenblitzen im Resonanzbereich, werden die schweren Atome besonders stark ionisiert und die Moleküle brechen an diesen Stellen schnell auseinander. Diese Schäden können die Abbildungsqualität beeinträchtigen.

Für die Präzisionsmessungen an der LCLS diente eine von der ASG am CFEL entwickelte Experimentierkammer, die in insgesamt 40 Kisten komplett nach Kalifornien verschifft wurde. Diese CFEL-ASG Multi-Purpose Chamber (CAMP) war drei Jahre an der LCLS aufgebaut und kam bei mehr als 20 Experimenten zum Einsatz. Außer dem CFEL, das auf einer Kooperation der Max-Planck-Gesellschaft, des DESY und der Universität Hamburg beruht, und dem US-Forschungszentrum SLAC waren an der Untersuchung die ASG mit den Max-Planck-Instituten für Kernphysik, medizinische Forschung und Halbleiterlabor sowie rund ein Dutzend Institutionen aus Deutschland, Frankreich, Japan und den USA beteiligt.

BF/PH

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