Grenzgänger zwischen Klinik und Labor

14. November 2012

Mit seinem Team hat Werner Seeger den Lungenhochdruck so therapierbar gemacht, dass viele der Patienten zumindest länger und besser leben. Aber damit will sich der Direktor am Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung in Bad Nauheim nicht zufrieden geben – der engagierte Arzt und Forscher will nichts weniger als diese Krankheit wirklich heilen.

Text: Klaus Wilhelm

Fast jeden Morgen gegen 7 Uhr radelt ein Mann acht Kilometer durch die hügeligen Felder des mittleren Hessen vom kleinen Biebertal ins etwas größere Gießen. Frühjahr wie Herbst, Sommer wie Winter. Selbst strenger Frost von minus 20 Grad kann ihn nicht bremsen, auch nicht Schnee auf Wegen und Straßen – schließlich gibt es Spikes für die Reifen. Sein Gefährt stellt er ab auf dem Parkplatz des Direktors der Klinik für Innere Medizin am Standort Gießen des Universitätsklinikums Gießen-Marburg. Der Mann ist der Direktor und einer der renommiertesten Lungenspezialisten überhaupt.

Das Wunder des freien Atmens

Werner Seeger, schlank und groß gewachsen, ist ein Mensch voller Tatendrang und erscheint etwas anders als viele seiner universitären Chefarztkollegen in dieser Republik – nicht nur, weil er, wann immer möglich, das Rad benutzt statt einer prestigeträchtigen Limousine. Obwohl allein das viel über ihn sagt. Er ist der einzige Chefarzt eines Universitätsklinikums, der gleichzeitig als Direktor an einem Max-Planck-Institut tätig ist – dem Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung in Bad Nauheim. Er geht, wenn es sein muss, in der Wissenschaft ungewöhnliche Wege. Maßgeblich hat er das jahrzehntelang vernachlässigte Thema Lungenkrankheiten in der Öffentlichkeit bekannt gemacht und auch in die Köpfe jener Verantwortlichen gebracht, die Forschungsgelder verteilen. Er redet öfter und gleichermaßen von Glück und Aufgabe, wenn er seine Karriere betrachtet. „Wir haben das medizinische Mandat, alles zu tun, um das Wunder des freien Atmens zu erhalten“, sagt er. Und noch immer, nach mehr als 30 Jahren Klinikalltag, erscheint es einem, als habe er trotz seiner großen Erfolge als Arzt und Forscher die Hinwendung zu den Patienten nicht verloren. Menschen oft jenseits hochakademischer Bildung, mit dramatischen gesundheitlichen Problemen, an der Schwelle zwischen Leben und Tod.

Auch an diesem Morgen um 8 Uhr bei der Visite auf der Normalstation ist das nicht anders. Da hat er schon eine halbe Stunde auf der Intensivstation hinter sich. Er erzählt von zwei jüngeren Patienten, die dort wegen einer Infektion mit dem Schweinegrippe-Virus H1N1 im künstlichen Koma liegen, deren Lungen wegen einer massiven akuten Entzündung extrem geschädigt sind und die deshalb an eine künstliche Lunge angeschlossen werden mussten. „Ihre Überlebenschancen stehen leider nicht gut“, sagt der 58-Jährige: „Das ist die Realität, in der ich lebe.“ Er sagt es so, als nehme er die Machtlosigkeit der modernen Medizin in solchen Momenten persönlich – und das Leid der Menschen als Ansporn, um die Not von Patienten mit schweren Lungenerkrankungen zu lindern. „Dazu Wesentliches beigetragen zu haben“, sagt er, „würde ich gerne nach meiner beruflichen Laufbahn über mich sagen können.“

Grenzbereiche sind selbst auf der Normalstation des Gießener Lungenzentrums gang und gäbe. Herr L. hat angekündigt, sich das Leben zu nehmen. Es ist ernst. Er leidet an einer dieser tödlichen Erkrankungen unseres Atemorgans, von der auch an Medizin interessierte Laien kaum etwas wissen: der Lungenfibrose. Seine einzige Chance war die Transplantation eines neuen Lungenflügels. Nach einem Jahr quälenden Wartens haben ihm die Ärzte vor einigen Monaten ein Spenderorgan verpflanzt, worauf zunächst eine gute Phase folgte. Dann ist er wieder eingebrochen. Ständige Infektionen plagen das neue Organ, das nicht stabil funktioniert. Jetzt scheinen sich die Bronchien zu verengen, er bekommt zunehmend Luftnot. Seine Frau hat ihn verlassen.

Seeger atmet tief durch. Der Fall berührt ihn. Dennoch analysiert er in Gegenwart der Stationsärzte und Medizinstudenten ruhig und sachlich die medizinischen Daten des Patienten „Der Patient denkt über einen Bilanz-
Suizid nach“, erklärt der Mediziner. Der Mann ist reflektiert, bei vollem Verstand und will keinen Psychiater. Zu einer psychiatrischen Behandlung können ihn die Ärzte nicht zwingen. „Er hat ja recht: Es geht ihm sehr schlecht“, sagt Seeger, der trotzdem noch Chancen sieht, das Spenderorgan mit einer veränderten antibiotischen Behandlung und einer endoskopischen Dehnung der verengten Bronchien zu stabilisieren: „So werde ich argumentieren.“ Am Samstag, nach einem Freitag in Paris, wo führende Experten den nächsten Weltkongress für Lungenhochdruck vorbereiten, will er in Ruhe mit Herrn L. sprechen.

Im Mittelpunkt steht der Mensch

Egal, wie schwierig es zuweilen sein mag: Das Gespräch mit den Patienten, sagt der Professor, liege ihm am Herzen. In der zweistündigen Visite trifft er stets den rechten Ton, scherzt, wann immer möglich, gibt klare Ansagen, wann immer nötig. Einem Patienten, der bereits zum 25. Mal in Gießen stationär behandelt wird, bietet er ein Ticket für die Einweihungsfeier des neuen Uniklinikums an. Eine andere Patientin steht jetzt auf der Warteliste für ein Spenderorgan – er spricht ihr Mut zu. Der Ordinarius redet klar und in einer Sprache, die die Menschen verstehen. „Jeder Patient muss sich als Individuum wahrgenommen, ernst genommen und aufgenommen fühlen“, beschreibt er seine Maxime als Therapeut, „das ist weniger eine Frage der Gesprächslänge als der Grundeinstellung. Wenn ich mit den Patienten rede, dann versuche ich mich voll und ganz auf sie zu konzentrieren.“ Seeger will auch Vorbild sein für die junge Ärzte-Generation. Extrem wichtig sei das, „so etwas kann man nicht in Vorlesungen lernen und schon gar nicht in Multiple-Choice-Tests.“ Er weiß: In der täglichen Routine einer Klinik ist das alles nicht einfach: sich dem Patienten zuzuwenden und sich gleichzeitig zu schützen vor dem täglichen Leid und der ständigen Präsenz des Todes. „Das muss man unbedingt ausbalancieren, um erfolgreich arbeiten zu können.“

Man könnte auf die Idee kommen, beim Umgang mit den Patienten spiele seine Herkunft eine Rolle. Seeger stammt „aus sehr einfachen Verhältnissen“, wie er es ausdrückt, geboren auf einem kleinen Bauernhof in Ost-Westfalen. Lehrer – allenfalls so weit reichte der Vorstellungshorizont seiner Eltern, als es um die Berufswahl des Sprösslings ging. Denn dann hätte der noch nebenbei den Hof mitbewirtschaften können. Daraus wurde nichts. „Ich wollte einen den Menschen zugewandten Beruf“, sagt er. So war das Studium der Theologie eine Überlegung für den gläubigen Protestanten. Und die Medizin die andere, letztlich überzeugendere Alternative, „weil ich da konkreter, praktischer etwas für die Menschen machen kann“. Dabei ergriff ihn auch die Begeisterung für die Forschung, die ihn bis heute nicht verlassen hat.

Zwischen Visite und Wissenschaft

10 Uhr vormittags: Der Professor wechselt in seine zweite Welt – die Wissenschaft. Verglichen mit der Visite ein krasser Umschwung in einen Kosmos hochakademischer Gedanken und Gespräche, in den Mikro- und Nanokosmos der Zellen und Moleküle und eine – natürlich englischsprachige – intensive Diskussion mit Doktoranden und jungen biomedizinischen Wissenschaftlern aus aller Herren Länder. „Mich in diesen beiden Welten zu bewegen und sie zusammenzubringen, empfinde ich als Glück“, sagt er. Maßgeblich Werner Seeger ist es zu verdanken, dass Gießen heute einen exzellenten Ruf in der Erforschung von Lungenerkrankungen genießt. Weltweit. Bis Mitte der 1980er-Jahre allerdings dümpelte die Lungenmedizin am Universitätsklinikum Gießen eher dahin. Dann kam der Durchbruch: mit einer Klinischen Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und einer Professur für „respiratorische Insuffizienz“. An ihrer Spitze: Werner Seeger, der Mitte der 1990er-Jahre schließlich den Lehrstuhl für Innere Medizin übernahm, mit dem neuen Schwerpunkt Lungenerkrankungen. Der Aufstieg der Gießener Lungenmedizin gipfelte 2006 vorläufig in der Gründung des Excellenzclusters „Kardiopulmonales System“ – gemeinsam mit der Herzmedizin der Universität
Frankfurt/Main und dem Max-Planck- Institut in Bad Nauheim.

Jetzt treffen sich die Forscher des Clusters zu einem Mini-Symposium, um wie immer ihre neuesten Ergebnisse zu diskutieren. Die Atmosphäre ist fokussiert und gleichermaßen locker. Es wird viel gelacht. Respekt haben alle vor ihrem Chef, aber keine Angst. Das Thema des hochspezialisierten Vortrags: der Integrin-Signalweg beim Lungenhochdruck. Der Sprecher des Excellenzclusters unterbricht immer wieder, fragt kritisch nach, beleuchtet die Daten von allen Seiten, gibt Anregungen. Die Köpfe rauchen. Sein Ton ist positiv und angemessen. Zwar mögen die ehrgeizigen jungen Wissenschaftler mit dem nötigen Detailwissen glänzen, aber erst Seeger mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung in vielen Gebieten kann die Ergebnisse oft so einordnen, dass das Team weiterkommt. „Das ergänzt sich alles wunderbar“, sagt er und räumt freimütig ein, ohne die Symposien den Anschluss zu verlieren, was neueste Techniken und Ergebnisse der Molekularbiologie betrifft: „Ich profitiere davon enorm.“ Letztlich geht es ihm darum zu verstehen, was auf molekularer Ebene bei der Entstehung von Lungenkrankheiten passiert und welche der beteiligten Signalwege mit Wirkstoffen angegangen werden können.

Noch bis vor einigen Jahren gab es beispielsweise außer der Transplantation eines Spenderorgans keine Therapie gegen den Lungenhochdruck. Global gerechnet leiden 100 Millionen Menschen an verschiedenen Formen der pulmonalen Hypertonie. Immer wieder sehen die Gießener Experten in ihrer Ambulanz für Lungenhochdruck – die größte ihrer Art weltweit – betroffene junge Frauen, oft nach Schwangerschaft, „von denen viele in meiner Verantwortung sterben mussten“, sagt Seeger. Das könne man nicht so einfach abschütteln. Nicht nur deshalb hat das Gießener Team schon seit den 1980er-Jahren jede Mengen Ressourcen in die Erforschung dieser Krankheit gesteckt.

Der Lungenhochdruck ist eine Erkrankung des Gefäßsystems der Lunge. In diesem sogenannten kleinen Kreislauf kommt das mit Kohlendioxid angereicherte sauerstoffarme Blut aus der rechten Herzkammer in die Lungenarterien. Sie verzweigen sich bis zu den Lungenbläschen (Alveolen), wo sich das Blut mit Sauerstoff anreichert und das im Körper erzeugte Kohlendioxid abgegeben wird. Das sauerstoffreiche Blut fließt zurück zur linken Herzkammer, von der es in den Körper gepumpt wird. Zuweilen ohne erkennbare Ursache, häufiger infolge anderer Krankheiten, steigt bei der pulmonalen Hypertonie der Blutdruck der Gefäße des Lungenkreislaufs an. Die Wände der Gefäße verdicken sich, sie „wuchern“ nach innen, das Lumen für den Blutfluss verkleinert sich. Die Folge: Die rechte Herzkammer muss immer kräftiger arbeiten, um das Blut durch die Lunge zu treiben, und dekompensiert zunehmend. So droht Herzversagen.

Unter der Ägide von Werner Seeger kam beim Lungenhochdruck die therapeutische Wende nach Jahrzehnten des Stillstands. „Mittlerweile haben wir am Lungenzentrum in Gießen drei Medikamente aus der Grundlagenforschung in die weltweite Zulassung gebracht“, sagt der Forscher und Arzt und ist stolz: „Das ist mehr Glück, als ein Wissenschaftler erwarten darf.“ Und der 58-Jährige ist Teamplayer durch und durch. Sofort verweist er darauf, dass es maßgeblich seine Kollegen Friedrich Grimminger und Ardeschir Ghofrani waren, die aus der Potenzpille Viagra eine Therapie für den Lungenhochdruck gemacht haben. Im Labor hatten die Forscher des Lungenzentrums in Zell- und Tierversuchen die Bedeutung des Moleküls Phosphodiesterase-5 für den Lungenhochdruck nachgewiesen. Zur gleichen Zeit brachte die Pharmaindustrie Viagra gegen Erektionsstörungen auf den Markt – mit einem Wirkstoff, der diese Phosphodiesterase-5 hemmt. „Es erschien uns logisch, dass Viagra auch die verengten Lungengefäße weit stellen müsste, was sich dann auch tierexperimentell nachweisen ließ.“

Neues Einsatzgebiet für Viagra

Um das am Menschen zu bestätigen, starteten die Gießener eine außergewöhnliche Studie. Ab etwa 5000 Meter Höhe bekommt jeder Mensch Lungenhochdruck, der sich, zurück im Flachland, wieder normalisiert. So verfrachteten die Mediziner eine Schar von Bergsteigern und ebenso umfangreiches medizinisches Messgerät ins Basis-Camp des Mount Everest. Mit Yaks! Nach ein paar Tagen ermittelten sie die erwartet hohen Lungendruckwerte der Probanden, die unter Belastung zudem weiter anstiegen, und bewiesen in dieser Studie die Wirksamkeit von Viagra zur Senkung des Lungenhochdrucks beim Menschen. 2006 wurde der Wirkstoff nach einer vom Gießener Lungenzentrum initiierten internationalen multizentrischen Studie an Patienten mit schwerem Lungenhochdruck offiziell und inzwischen weltweit zugelassen. Da hatten Seeger und seine Kollegen schon jahrelang todkranke Patienten „off-label“ – stets nach hartnäckigen Diskussionen mit den Krankenkassen – mit Viagra behandelt.

Jüngster Erfolg in dieser Reihe erfolgreicher Medikamenten-Entwicklung zur Behandlung des Lungenhochdrucks ist die Aerosolapplikation von Treprostinil. Auch für die in großen klinischen Studien getesteten
Wirkstoffe Riociguat und Imatinib lieferte das Lungenzentrum Gießen-Bad Nauheim die wissenschaftliche Grundlage. Riociguat stimuliert ein Enzym, die lösliche Guanylatcyclase, das an der Regulation der Lungengefäßspannung, aber auch an der Wachstumsregulation beteiligt ist. Imatinib wird bereits in der Krebstherapie eingesetzt und hemmt einen Wachstumsfaktor, kurz PDGF genannt. Er ist am bösartigen Tumorwachstum beteiligt, aber auch an der „pseudo-malignen Wucherung der Lungengefäße, die das Lumen verschließt“, wie Seeger sagt. Insgesamt stehen jetzt mehrere Wirkstoffe zur Verfügung. Mit weiteren ist bald zu rechnen – je mehr, desto besser. So leben manche Patienten inzwischen gut 20 Jahre mit ihrer Erkrankung.

Lungenhochdruck ist heilbar - nur, wie?

„Zweifellos eine Revolution“, sagt der Max-Planck-Forscher und wirkt dennoch nur partiell zufrieden. „Unser Ziel muss lauten, den Lungenhochdruck zu heilen, nichts weniger als das.“ Denn grundsätzlich, dafür gibt es jedenfalls einige Belege, muss das Phänomen der „pseudomalignen Wucherung“ der Lungengefäße umkehrbar sein. „Reverse remodelling“ heißt der Begriff, der die Gedankenwelt des Forschers befeuert – den krankhaften Prozess zurückzudrehen zu einer normalen Gefäßstruktur. „Experimentell sind wir da auf einem guten Weg“, erklärt Seeger. Soll heißen: Die Wissenschaftler arbeiten intensiv an den Signalwegen, die das Wachstum in den Gefäßwänden der Lunge steuern und sie verdicken, um dann nach Substanzen und anderen Möglichkeiten zu suchen, diese spezifisch zu beeinflussen.

Ähnlich hoch steckt Seeger die Ziele bei der Erforschung der Lungenfibrose, an der allein in den EU-Ländern 750.000 Menschen erkrankt sind – davon 400.000 an der meist aggressiv, schnell und tödlichen verlaufenden idiopathischen Form. Deren molekulare Grundlagen sind noch weit weniger bekannt als beim Lungenhochdruck. Bei der Lungenfibrose bildet sich überschießendes Binde- und schließlich Narbengewebe, das die Architektur der Alveolen zerstört. Die Lunge kann sich immer weniger dehnen, ihre Funktion lässt nach, sodass irgendwann der Gasaustausch nicht mehr funktioniert. Die Betroffenen leiden unter Atemnot, mit immer neuen Infekten und Erstickungsanfällen, im Endstadium so stark, dass selbst Sprechen kaum noch möglich ist.

Intensiv beleuchten die Forscher in Gießen und Bad Nauheim, was den krankhaften Prozess antreibt. Unter anderem kommt Wachstumsfaktoren wie TGF-Beta oder FGF-10 eine wesentliche Rolle zu. Von einem Durchbruch zur ersten ersehnten effizienten Therapie gegen die idiopathische Lungenfibrose will Werner Seeger aber noch nicht sprechen – genauso wenig beim ARDS, dem schweren beatmungspflichtigen Lungenversagen auf der Intensivstation.

Nicht minder herausfordernd ist die Erforschung der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung mit Emphysem, bei der die kleinen Lungenbläschen zunehmend abgebaut werden. Mit Hilfe von Stammzellen versuchen die Forscher, das verloren gegangene Gewebe zu regenerieren. Und in der Tat: Mäuse, denen man eine Lunge entnimmt, regenerieren ihre Lungenbläschen vollständig – so wie Lurche einen verloren gegangenen Schwanz. Auch junge Menschen erneuern ansatzweise ihre Alveolen, wobei jüngst entdeckte Stammzellen der Lunge wahrscheinlich den Prozess antreiben. „Im Labor haben wir bei Mäusen diese Regeneration von Lungengewebe erfolgreich ausgelöst, und es wäre ein Traum, das auf die Patienten zu übertragen“, sagt der Wissenschaftler, als er forschen Schritts nach der Besprechung im Excellenzcluster gegen Mittag zum nächsten Termin eilt. Zur Ruhe kommt er an seinen langen Arbeitstagen selten. Sein Tageswerk ist dicht getaktet, doch hektisch wirkt er nie. „Ich versuche gelassen zu bleiben“, sagt er, „klar fühle ich auch Stress, aber meist positiven Stress, weil mir meine Arbeit Spaß macht.“

Seine dritte Welt wartet, die des ärztlichen Geschäftsführers des Universitätsklinikums Gießen-Marburg. Er besichtigt den Neubau des Universitätsklinikums. „Das größte Gebäude, das in Gießen jemals gebaut wurde“, sagt Seeger, „wir bekommen ein komplett neues Klinikum mit 1200 Betten.“ In vier Wochen soll es eröffnet werden. Der Gedanke daran macht allerdings selbst einen ruhigen Charakter wie Seeger leicht nervös. Hunderte Patienten müssen binnen kurzer Zeit umziehen, auch die beatmeten Patienten der Intensivstationen samt ihrer an sie angeschlossenen Geräte. Zuletzt, vor zwei Wochen, hingen in der Patientenaufnahme des Neubaus noch Kabel von der Decke. Doch mittlerweile sieht der große Raum schon einladender aus. Seeger atmet auf und wirkt irgendwie beglückt, als er die modernen, hoch technisierten Räume der künftigen Intensivstationen unter die Lupe nimmt. Ein Traum für ihn, das merkt man. „Die Patientenführung ist komplett elektronisch“, schwärmt er und weist die Mitarbeiter an, jeden einzelnen Arbeitsplatz vor Inbetriebnahme einem intensiven Funktionstest zu unterziehen. „Es darf nichts schiefgehen, nichts“, murmelt er fast beschwörend in sich selbst hinein.

13 Uhr: In der Ambulanz der Lungenklinik warten Patienten. Jetzt ist wieder der Arzt Seeger gefragt. Um Souveränität auszustrahlen, braucht er nicht einmal den symbolhaften weißen Kittel. Stattdessen trägt er ein kurzärmeliges Hemd. Trotz Dreifachbelastung vergisst er das Essen nicht. Ein Salat – „gesunde Ernährung und Sport sind wichtig“, sagt er und erzählt, dass er sich zusammen mit seiner Frau lange Zeit im Kindergottesdienst seines Wohnortes engagiert hat und gelegentlich eine Predigt in der evangelischen Hochschulgemeinde übernimmt. Und dass seine Familie mit den drei Kindern und den vier Enkeln zentral ist für sein Leben: „Ohne sie könnte ich meinen Beruf nicht so ausüben, wie ich es tue.“

Aus der Klinik ins Forschungsinstitut

15 Uhr: Nach einem weiteren Termin in der Klinikumsverwaltung bricht Seeger in das nahe gelegene Bad Nauheim auf. Der zweite Forschungsblock des Tages steht an, im Max-Planck-Institut. Ein Mitarbeiter berichtet über seine Experimente zur Nutzung von menschlichen induzierbaren pluripotenten Stammzellen, sogenannten iPSZellen, für die Herstellung von Gefäßinnenhautzellen. Das Ziel: Irgendwann mit diesen Zellen bei Lungenhochdruck-Patienten die Produktion neuer „gesunder“ Lungengefäße anzuregen. Doch zunächst geht es um die Lösung tausend kleiner Probleme, die sich dem Fernziel in den Weg stellen. Danach Arbeitssitzung in kleiner Gruppe zur Strukturierung eines noch jungen Forschungsfeldes: der Untersuchung der molekularen Mechanismen, die die Entstehung eines Tumors im Umfeld chronisch entzündeten Lungengewebes begünstigen.

19 Uhr: Zurück ins Krankenhaus nach Gießen, diesmal an den Schreibtisch: E-Mails, Post, Liegengebliebenes, einige dringende Telefonate. Schließlich dorthin, wo der Arbeitstag angefangen hat, zu einem besonders kritischen Patienten auf der Intensivstation. Längst hüllt die Nacht diesen Märztag ein, als ein Mann wieder auf sein Rad steigt und durch die Felder Mittelhessens radelt. 14 Stunden als Arzt und Forscher gehen zu Ende. Bis morgen früh um 7.

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