Chemie im Wandel der Zeit

Vor 100 Jahren öffnete in Berlin-Dahlem das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie seine Pforten.

22. Oktober 2012

Schon drei Jahre später konnte es mit dem ersten Nobelpreisträger aufwarten: Richard Willstätter hatte die Struktur des Chlorophylls aufgeklärt. Weltberühmt wurde die Forschungsstätte, aus der das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz hervorging, durch die Entdeckung der Kernspaltung.

Auch Institutsdirektor Ernst Otto Beckmann hatte sich der nationalen Sache verschrieben. Ursprünglich beschäftigte sich der vielseitige Chemiker vor allem mit der präzisen Bestimmung von Molekularmassen, nun forschte er zu Fragen der Rohstoffversorgung. Für die Gewinnung proteinreicher Futtermittel war die Lupine ein vielversprechender Kandidat. Neben wertvollem Eiweiß enthält dieses Gewächs aus der Verwandtschaft der Erbse aber auch viele Bitterstoffe.

Um sie abzutrennen und die Pflanze genießbar zu machen, setzte der Forscher auf heißes Wasser und nahm zur Erfolgskontrolle regelmäßig Geschmacksproben. Ausschlaggebend war „das mehr oder weniger kratzende Gefühl, das sich beim Schlucken einer Probe des Auslaugewassers im hinteren Gaumen bemerkbar macht“. Die Selbstversuche sollten ihm zum Verhängnis werden: Im Jahr 1923 starb Beckmann – vermutlich an einer Vergiftungskrankheit, die aus der Veterinärmedizin als Lupinose bekannt ist.

Die Abteilung Hahn/Meitner wurde im Krieg zeitweise geschlossen. Otto Hahn diente in der Kampfgaseinheit, Lise Meitner war Röntgenassistentin in einem Lazarett. Doch schon bald danach ging es steil bergauf. In den 1920er-Jahren gehörte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie zu den wichtigsten Forschungsstätten auf dem Gebiet der Radioaktivität weltweit. 1938 schließlich wurde hier ein Prozess aufgeklärt, mit dem ein neues Zeitalter beginnen sollte: die Kernspaltung.

Wie so oft in der Wissenschaft war auch diese folgenschwere Entdeckung ein Zufallsprodukt, denn eigentlich waren Otto Hahn und Lise Meitner gemeinsam mit dem Chemiker Fritz Straßmann etwas völlig anderem auf der Spur. Ganz im Trend der damaligen Zeit wollten sie Transurane erzeugen – radioaktive Elemente, die noch schwerer sind als Uran und in der Natur nicht vorkommen. Auf der Jagd nach diesen Elementen beschossen Forscher fleißig Uranproben mit langsamen Neutronen. Die Teilchen, so nahm man an, würden im Urankern stecken bleiben und ihn so zu einem Transurankern anwachsen lassen.

Doch die Versuche, die im Dezember 1938 im Nordflügel des Dahlemer Chemie-Instituts stattfanden, verliefen anders als geplant. Kurz vor Weihnachten hatten Otto Hahn und Fritz Straßmann wiederholt Uranproben dem Neutronenbombardement ausgesetzt. Lise Meitner konnte an diesen Experimenten nicht mehr teilnehmen; wegen ihrer jüdischen Herkunft hatte sie wenige Monate zuvor vor den Nationalsozialisten fliehen müssen und war in Schweden untergekommen.

Kurz vor Weihnachten erreichte sie in Stockholm ein Brief ihres Freundes und Forscherkollegen Otto Hahn, in dem er um eine Ferndiagnose bat: „Es ist nämlich etwas bei den Radiumisotopen, was so merkwürdig ist, daß wir es vorerst nur Dir sagen. Es könnte noch ein höchst merkwürdiger Zufall vorliegen. Aber immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen Schluß: Unsere Ra[dium]- Isotope verhalten sich nicht wie Ra[dium], sondern wie Ba[rium] […] Vielleicht kannst Du irgend eine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, daß es eigentlich nicht in Ba[rium] zerplatzen kann.“

Der Befund war verwirrend. Denn wären die Versuche verlaufen wie geplant, so hätte als Nebenprodukt Radium nachweisbar sein müssen. Stattdessen war Barium entstanden, ein Element mit einer sehr viel geringeren Kernmasse als Uran. Zusammen mit ihrem Neffen, dem Physiker Otto Robert Frisch, suchte Lise Meitner nach einer Erklärung. Nach einem ausgedehnten Waldspaziergang stand für die beiden fest: Der Urankern war durch den Neutronenbeschuss keineswegs gewachsen. Im Gegenteil: Er war gesprengt worden.

Das Barium war also tatsächlich ein Spaltprodukt des Urans, entstanden unter Freisetzung einer enormen Energiemenge. Otto Hahn wurde für die Entdeckung der Kernspaltung 1944 der Nobelpreis für Chemie zuerkannt. Lise Meitner und Fritz Straßmann dagegen gingen leer aus – eine Entscheidung, die auch heute noch für Diskussionsstoff sorgt.

Nach dieser epochalen Entdeckung existierte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Dahlem nur noch wenige Jahre. Die Luftangriffe in der Nacht auf den 16. Februar 1944 verwüsteten große Teile des Gebäudes, darunter Otto Hahns Arbeitszimmer. Was übrig blieb, verlagerte man in stillgelegte Textilfabriken nach Tailfingen in Württemberg.

Im April 1945 wurde Otto Hahn dort von den Alliierten festgenommen und zusammen mit neun weiteren Wissenschaftlern in England interniert. Auch wenn Hahn später betonte, dass sein Institut lediglich Grundlagenforschung betrieb, so flossen die Ergebnisse zweifellos auch in geheime Projekte wie den „Uranverein“ ein, der zeitweise dem Heereswaffenamt unterstand und in dem die militärische Nutzung der Kernenergie erforscht wurde.

An seinen Ursprungsort kehrte das Institut nicht mehr zurück. Stattdessen wurde es nach dem Krieg als Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz wiedereröffnet. Wie Tailfingen lag auch Mainz in der französischen Besatzungszone; Frankreich wollte die Forschungsstätte in seinem Zuständigkeitsbereich behalten. Mit der Eröffnung eines Neubaus am 9. Juli 1956 erhielt sie den Zusatznamen „Otto-Hahn-Institut“.

Das alte Dahlemer Institutsgebäude an der Thielallee 63 beherbergt heute als „Hahn-Meitner-Bau“ das Biochemische Institut der Freien Universität Berlin. Drei Bronzetafeln erinnern dort an die Kernspaltung und ihre Entdecker: „Diese Tat hat der Erforschung der Materie und des Weltalls neue Wege eröffnet und die Verwendung der Energie der Atomkerne dem Menschen in die Hand gegeben.“

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