Populationen überleben trotz nachteiliger Mutationen

Max-Planck-Forscher untersucht das Evolutionsmodell der Muller-Ratsche

10. August 2012

Die Evolution hat vom Einzeller bis zum Säugetier immer komplexere Strukturen und stetig verbesserte Anpassungen hervorgebracht. Das ist umso erstaunlicher, als die meisten Genveränderungen ihrem Träger schaden. Vor allem in kleinen Populationen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen und deren Gene daher nicht neu kombiniert werden, können sich unvorteilhafte Mutationen anhäufen. In der Evolutionsbiologie wird ein solcher Prozess als Muller-Ratsche oder Muller-Sperrklinke bezeichnet. Nach diesem Modell, das auf den amerikanischen Genetiker Hermann Joseph Muller zurückgeht, verschlechtert sich das Erbgut unumkehrbar, und die Populationen haben schlechte Überlebenschancen - also auch Individuen ohne die negativen Mutationen sterben aus. Richard Neher vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen hat zusammen mit US-amerikanischen Kollegen mathematisch dargestellt, wie eine Muller-Ratsche arbeitet und theoretisch erforscht, warum Populationen trotz kontinuierlicher negativer Genveränderungen nicht zwangsläufig aussterben.

Die allermeisten Mutationen oder Genveränderungen wirken sich nachteilig aus. "Über Selektionsprozesse pflanzen sich jedoch die Individuen mit den günstigeren Genen erfolgreicher fort, und negative Mutationen gehen wieder verloren", erklärt der Populationsgenetiker Richard Neher, der eine eigenständige Max-Planck-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen leitet. Anders sieht es aus, wenn zum Beispiel eine Virenpopulation, die sich ungeschlechtlich fortpflanzt, zunächst in kleiner Zahl einen Menschen infiziert. "Dann kann es allein durch Zufall, durch stochastische Prozesse, passieren, dass sich negative Mutationen bei den Viren anhäufen und auch die Gruppe der Individuen ohne solche Mutationen ausstirbt", sagt Richard Neher. Dann rastet die Muller-Ratsche ein, die Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar – zumindest in Mullers Modell.

Muller hat sein Modell von der evolutionsbiologischen Ratsche 1964 veröffentlicht. Bisher war unklar, über welche quantitativen Prozesse die Ratsche funktioniert. Dazu hat jetzt Richard Neher zusammen mit Boris Shraiman von der University of California in Santa Barbara eine neue theoretische Studie veröffentlicht. Sie arbeiteten mit einem vergleichsweise einfachen Modell, bei dem alle Mutationen negativ sind und Auswirkungen gleichen Ausmaßes zeitigen. Außerdem nahmen die Forscher an, dass die Selektion den Mutationen entgegenwirkt. Sie analysierten, wie zufällige Fluktuationen unter den fittesten Individuen sich auf die weniger fitten sowie die ganze Population auswirken. Dabei haben Richard Neher und Boris Shraiman festgestellt, dass der Schlüssel zur Funktion der Ratsche in einer langsamen Reaktion liegt: Verringert sich die Zahl der fittesten Individuen, verringert sich die durchschnittliche Fitness der Population erst mit Verzögerung. "Diese verzögerte Rückkoppelung beschleunigt die Muller-Ratsche", fasst Richard Neher die Ergebnisse zusammen. Sie rastet immer häufiger ein.

"Unsere Ergebnisse gelten für eine breite Palette an Voraussetzungen und Werten, für eine Virenpopulation genauso wie für eine Tigerpopulation." Er erwartet jedoch nicht, die Verhältnisse des Modells eins zu eins in der Natur wiederzufinden. "Modelle dienen dazu, die wesentlichen Aspekte zu verstehen, damit man weiß, welche Prozesse entscheidend sind", erklärt er.

In einer zweiten Studie hat Richard Neher zusammen mit Boris Shraiman und weiteren US-amerikanischen Forschern der University of California in Santa Barbara sowie der Harvard University in Cambridge untersucht, wie selbst eine kleine Population, die sich ungeschlechtlich fortpflanzt, der Muller-Ratsche entgehen könnte. "Eine solche Population kann längerfristig nur stabil bleiben, wenn positiv wirkende Mutationen die negativen kontinuierlich ausgleichen", sagt Richard Neher. Bei ihrem Modell sind die Forscher von einer gleich bleibenden Umwelt ausgegangen sowie von der Annahme, dass sich bei jeder Population ein Gleichgewicht zwischen Mutation und Selektion einstellen kann. Sie haben für verschiedene Populationsgrößen und Mutationsraten berechnet, wie groß der Anteil positiver Mutationen sein muss, um das Gleichgewicht aufrecht zu halten. Das überraschende Ergebnis: Selbst unter widrigen Bedingungen reicht schon ein sehr kleiner Anteil im Bereich weniger Prozente positiver Mutationen aus, um eine Population zu erhalten.

Über diese Ergebnisse ließe sich erklären, warum zum Beispiel die Mitochondrien, die sogenannten Kraftwerke der Zelle, die ein eigenes Erbgut besitzen und sich ungeschlechtlich teilen, über einen sehr langen Zeitraum in der Evolution erhalten geblieben sind. Insgesamt wird die Evolution zu einem erheblichen Teil über zufallsabhängige Entwicklungen gesteuert oder wie Richard Neher es ausdrückt: "Die evolutionäre Dynamik ist sehr stochastisch."

JE/HR

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