Der Hippocampus als Entscheidungsinstanz

NMDA-Rezeptoren im Hippocampus des Gehirns ermöglichen bei komplexen Orientierungsaufgaben, die richtige Entscheidung zu treffen

17. Juli 2012

Lernen verändert die Synapsen. Für das Erlernen räumlicher Zusammenhänge machten Wissenschaftler bislang eine spezielle Form synaptischer Plastizität im Hippocampus des Gehirns verantwortlich. Diese beruht auf einem Rezeptortyp für den Botenstoff Glutamat: dem NMDA-Rezeptor. Forscher des Max-Planck-Instituts für medizinische Forschung in Heidelberg und der Universität Oxford haben nun beobachtet, dass sich Mäuse sehr gut orientieren können, auch wenn in Teilen ihres Hippocampus die NMDA-Rezeptor-vermittelte Plastizität abgeschaltet war. Müssen diese Mäuse allerdings einen Konflikt während der Orientierung lösen, können sie die Aufgabe nicht erfolgreich bewältigen. Offenbar werden die hippocampalen NMDA-Rezeptoren zur Erkennung oder Lösung des Konflikts benötigt. Die beteiligten Forscher widerlegen somit ein Dogma der Neurowissenschaften zur Funktion hippocampaler NMDA-Rezeptor-vermittelten Plastizität beim räumlichen Lernen.

Der Hippocampus ist Teil des Vorderhirns und verarbeitet eine Vielzahl von Informationen aus verschiedensten Hirnregionen. Die eingehenden Signale werden von Körnerzellen im Gyrus dentatus zu Pyramidenzellen in der CA3-Region und von diesen zu Pyramidenzellen in der CA1-Rgion weitergeleitet. An den am Signalfluss beteiligten Synapsen können NMDA-Rezeptoren die Übertragungseffizienz des Glutamat Botenstoffs optimieren oder abschwächen. Lange Zeit wurde spekuliert, dass diese Form synaptischer Plastizität zum Erlernen räumlicher Strukturen erforderlich ist. Rolf Sprengel und Peter H. Seeburg vom Max-Planck-Institut für medizinische Forschung haben gemeinsam mit Kollegen aus Oxford und Oslo diese Theorie nun widerlegt.

Die Wissenschaftler haben genetisch veränderte Mäuse untersucht, die keine NMDA-Rezeptoren auf Körnerzellen des Gyrus dentatus und Pyramidenzellen der CA1-Region bilden. So konnten sie erstmals beobachten, was passiert, wenn NMDA-Rezeptor-abhängige Plastizität fast ausschließlich an diesen Synapsen im Hippocampus ausgeschaltet ist. Sie analysierten das Lernverhalten der Mäuse und bemerkten, dass die Lernleistung vom Versuchssaufbau abhing. In einem Standard-Schwimmtest war das räumliche Gedächtnis der genetisch veränderten Tiere genauso gut wie das normaler Kontrolltiere. Bei diesem Test müssen die Tiere in einem wassergefüllten Becken die Position einer knapp unter der Wasseroberfläche platzierten Rettungsinsel anhand externer Orientierungspunkte lernen und die verborgene Insel nach einigen Versuchen bewusst ansteuern.

In einem zweiten Orientierungstest, bei dem die Tiere in drei von sechs identischen Laufstegen eines „Trocken-Labyrinths“ Futter finden konnten, suchten Mäuse ohne NMDA-Rezeptoren im Gyrus dentatus und CA1 des Hippocampus immer wieder Laufstege ohne Futter auf, wohingegen Kontrolltiere – ähnlich wie beim Schwimmtest – Markierungen außerhalb des Labyrinths nutzen, um nach einigen Versuchen bevorzugt die drei mit Futter bestückten Laufstege zu finden.

Obwohl beide Tests räumliches Lernen abrufen, waren die genetisch veränderten Tiere somit nur im Laufsteg-Labyrinth schlechter als Kontrolltiere, anscheinend irritiert durch die Tatsache, dass Laufstege mit Futter belohnt oder nicht belohnt sind. David Bannermann aus Oxford konzipierte deshalb einen zweiten Schwimmtest. Die Position der verborgenen Insel war nun mit einem Ballon markiert. Zur Täuschung wurde ein zweiter identischer Ballon an einer anderen Stelle im Wasserbecken angebracht an der sich keine abgesenkte Insel befand. Die Tiere mussten lernen, dass nur die räumliche Orientierung und nicht die Position der Ballons - entsprechend der optisch identischen Laufstege im Labyrinth - entscheidend für das Auffinden der rettenden Insel ist. Da die Ballons von den Tieren bevorzugt zur Hippocampus-unabhängigen Orientierung genutzt werden, fiel es auch den Kontrolltieren schwer, die verborgene Insel nach zahlreichen Durchgängen zielsicher zu finden. Mäuse, bei denen NMDA-Rezeptoren im Gyrus dentatus und in der CA1-Region fehlten, konnten diese Aufgabe nicht lösen. Entfernt man beide Ballons, oder verändert die Form des Täuschungsballons, so steuerten alle Tiere sehr zügig die Position der unsichtbaren Insel an.

„Dies zeigt eindeutig, dass auch unsere genetisch veränderten Mäuse nach einigen Durchläufen die genaue Position der abgesenkten Rettungsinsel kennen oder sich im Schwimmbecken bei der Suche an unterschiedlichen Ballons zielbewusst orientieren können. Unsere Mäuse haben somit in beiden Aufgaben keine Lern- oder Gedächtnisprobleme. Sind jedoch die Aufgaben zeitlich überlagert und muss die Position identischer Ballons im Schwimmbecken als nicht eindeutige Information bewertet werden, so sind unsere Mäuse nicht fähig, die richtige Entscheidung zur Lösung der Aufgabe zu treffen“, sagt Rolf Sprengel.  Die NMDA-Rezeptoren in der CA1-Region des Hippocampus treten demzufolge als Entscheidungsinstanz bei Konfliktsituationen in Erscheinung.

Dies ist ein völlig überraschendes Ergebnis. Es ist konträr zu einem seit über 15 Jahren vorherrschenden Lehrbuch-Dogma, wonach NMDA-Rezeptoren in der CA1-Region des Hippocampus zum Aufbau eines räumlichen Gedächtnisses benötigt werden. „Dank der neuen komplexen genetischen Technik von Rolf Sprengel, die NMDA-Rezeptoren gezielt nur in Teilen des Hippocampus in erwachsenen Mäusen auszuschalten und dank intelligent verknüpfter Verhaltensversuche von David Bannerman wissen wir nun, dass wahrscheinlich NMDA-Rezeptoren in anderen Gehirnregionen für das Erlernen räumlicher Zusammenhänge zuständig sind“, erklärt Peter Seeburg. Die Forscher vermuten deshalb, dass hippocampale NMDA-Rezeptoren auch bei anderen nicht räumlichen Konfliktsituationen von Bedeutung sind.

HR

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