Wenn jedes Lichtquant zählt

Ungewöhnliche Organisation der Zellkerne in der Retina lässt diese zu Licht leitenden Mikrolinsen werden, mit denen Nachttiere besser sehen

17. April 2009

Die Augen nachtaktiver Säugetiere verfügen über besonders viele hochempfindliche Stäbchen, jene Sehzelltypen, die für das Nachtsehen zuständig sind. Damit können sie noch Licht wahrnehmen, dessen Intensität millionenfach unter der des Tageslichts liegt. Forscher der LMU München konnten nun mit Unterstützung von Kollegen des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt sowie des Cavendish Laboratory in Cambridge zeigen, dass sich der nächtliche Lebensstil und die damit verbundenen Herausforderungen dauerhaft auf die Organisation der Zellkerne in den Stäbchen ausgewirkt haben: Dicht gepackte inaktive und weniger dicht gepackte aktive Bereiche der DNA sind anders verteilt als sonst in den Körperzellen fast aller Organismen, vom Einzeller bis zum Vielzeller einschließlich der Stäbchen tagaktiver Säuger. In dieser speziellen Anordnung fungieren die Zellkerne der nachtaktiven Säuger tatsächlich als Sammellinsen, die das eintreffende Licht bündeln. Computersimulationen zeigen, dass mehrere solche Zellkerne übereinander das Licht sehr effektiv zu den lichtsensitiven Außensegmenten der Stäbchen lenken. Die veränderte Organisation der Stäbchen-Zellkerne verbessert also das nächtliche Sehen der Tiere - und liefert neue Erkenntnisse zur Evolution der Retina bei Säugetieren sowie zum Verständnis der räumlichen Organisation des Zellkerns. (Cell, 17. April 2009)

Die DNA einer Säugerzelle ist - würde man sämtliche Basenpaare der Länge nach anordnen - zwei Meter lang. Damit das Erbmaterial in den nur wenige Mikrometer großen Zellkern passt, wird der DNA-Faden um Millionen Proteine, sogenannte Histone, gewickelt, und diese dann perlschnurartig aneinander gereiht. So wird die DNA 10.000-fach komprimiert. Dieser DNA-Protein-Komplex wird als Chromatin bezeichnet. Damit Enzyme die Erbgut-Informationen lesen und abschreiben können, muss die betreffende DNA-Region für sie jedoch zugänglich sein. Deshalb sind DNA-Abschnitte, deren genetische Information gerade benötigt wird, weniger eng gepackt und damit besser zugänglich. Dieses Euchromatin befindet sich typischerweise in inneren Bereichen des Zellkerns. Ein erheblicher Teil des Heterochromatins mit den "nicht benötigten" DNA-Abschnitten liegt dagegen an der Peripherie des Zellkerns. Diese Art der Organisation hat sich im Laufe der letzten 500 Millionen Jahre bei fast ausnahmslos allen höheren Organismen etabliert.

"Diese Anordnung ist so universell, dass man von der ‚konventionellen Architektur’ des Zellkerns sprechen kann", meint Boris Joffe vom Biozentrum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. "Umso überraschender ist die Erkenntnis, dass es doch prinzipielle Unterschiede bei der Anordnung gibt - und dass diese von der Lebensweise abhängen." Ein interdisziplinäres Team von Forschern der LMU, des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und des Cavendish Laboratory in Cambridge konnte nämlich zeigen, dass bei nachtaktiven Säugetieren die Anordnung des Chromatins in den Stäbchenkernen genau umgekehrt ist: Das dicht gepackte Heterochromatin befindet sich hier im Inneren des Zellkerns, während das weniger dicht gepackte Euchromatin mit den aktiven DNA-Bereichen an der Peripherie liegt.

Die Erklärung für die ungewöhnliche Organisation dieser Zellkerne liegt in der Biologie der Sinneswahrnehmung. Beim Menschen und bei allen anderen Wirbeltieren muss das Licht erst die Netzhaut, die Retina, durchdringen, um auf die lichtempfindlichen äußeren Teile der Fotorezeptoren zu stoßen. "Und damit stehen die nachtaktiven Tiere vor einem Dilemma: Sie brauchen besonders viele Stäbchen zur Detektion des schwachen Lichts - aber dadurch wird ihre Retina dicker und verliert mehr Licht durch Streuung, bevor dieses die Außensegmente der Fotorezeptoren erreicht", erklärt Leo Peichl vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung.

Zur Lösung dieses Problems machte sich die Evolution offenbar eine physikalische Besonderheit des dicht gepackten Heterochromatins zunutze: Wegen seiner höheren Packungsdichte wirkt Heterochromatin stärker lichtbrechend als Euchromatin. Dieser Effekt kommt nicht zum Tragen, wenn das Heterochromatin in der Peripherie des Zellkerns liegt. Wenn es sich dagegen im Inneren des Zellkerns zusammenballt, wirkt das Heterochromatin wie eine winzige Sammellinse. Weil die Stäbchenkerne in Säulen angeordnet sind, kommen mehrere dieser "Mikrolinsen" übereinander zu liegen. Computersimulationen der Kollegen vom Cavendish Laboratory zeigen, dass das an sich wenig intensive Licht so fast ohne Streuverluste gebündelt und durch die Retina geleitet wird. "Es trifft fokussierter auf die lichtempfindlichen Außensegmente der Fotorezeptoren", so Co-Autor Jochen Guck.

Die ungewöhnliche Architektur der Stäbchen-Zellkerne liefert zudem neue Erkenntnisse zur frühen Evolution der Säugetiere. Denn die besondere Anordnung des genetischen Materials muss schon vor mehr als hundert Millionen Jahren erstmals aufgetreten sein. Zu dieser Zeit hatten sich die Vorfahren der heutigen Säugetiere an ein nachtaktives Leben angepasst, um den damals dominanten fleischfressenden Reptilien zu entgehen. Während die nachtaktiven Nachfahren die invertierte Architektur der Stäbchenkerne beibehalten haben, kehrten später tagaktiv gewordene Nachfahren - auch wir Menschen - zur konventionellen Organisation zurück. "Das bestätigt die Überlegenheit der konventionellen Kernarchitektur", so Joffe. "Die von uns gefundene invertierte Zellkernorganisation bringt offensichtlich noch uns unbekannte Nachteile mit sich."

Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die konventionelle Architektur von Stäbchenzellkernen im Gegensatz zur invertierten Architektur die Wechselwirkung verschiedener Genorte miteinander sowie mit der Transkriptionsmaschinerie erleichtert. Bei den nachtaktiven Säugetieren scheint allerdings der Vorteil verbesserter Nachtsicht überwogen zu haben.

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