Alles im Blick: Sehen mit einer Gehirnhälfte

Wissenschaftler entdecken unvermutete Plastizität des werdenden Gehirns

21. Juli 2009

Das Gehirn kann das Fehlen einer ganzen Hirnhälfte teilweise ausgleichen. Diese erstaunliche Entdeckung gelang Max-Planck-Forschern bei der Untersuchung einer Patientin, bei der sich aufgrund einer Entwicklungsstörung im Mutterleib die rechte Großhirnhälfte nicht ausgebildet hat. Trotzdem besitzt die Patientin ein fast normales Sehvermögen. Offenbar hat die linke Hirnhälfte der Patientin die Aufgaben der rechten übernommen und verarbeitet die Signale aus dem Auge nun alleine. "Der Fall, dass beim Menschen eine Hirnhälfte das gesamte Gesichtsfeld repräsentiert, wurde bislang noch nie beschrieben", sagt Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. (PNAS, 21. Juli 2009)

Wie in einer Kamera erzeugt die Linse des Auges ein umgekehrtes Bild auf der Netzhaut: Die optischen Signale werden in der Netzhaut der Augen in elektrische Signale umgewandelt und über den Sehnerv bis in die Großhirnrinde geleitet. Normalerweise werden diese dann am Kreuzungspunkt der beiden Sehnerven auf die beiden Hälften der Großhirnrinde aufgeteilt. Dabei erhält die linke Hälfte ausschließlich Informationen aus dem rechten Gesichtsfeld - also rechts von der Nasenspitze -, die rechte Hirnhälfte nur Informationen aus dem linken Gesichtsfeld. Die Wissenschaftler haben herausgefunden, wie das Gehirn auf den Verlust einer der beiden Großhirnhälften reagiert. In diesem Fall empfängt die linke Hälfte Signale aus dem gesamten Blickfeld. Mithilfe der funktionellen Kernspintomografie konnten sie beobachten, dass ein Schachbrettmuster, das der Patientin gezeigt wurde, Nervenzellen der verbleibenden linken Großhirnrinde auch dann aktiv werden ließ, wenn es sich auf der linken Seite des Blickfeldes befand. Bei Menschen mit normaler Gehirnentwicklung reagierten die Zellen ausschließlich auf das Muster auf der rechten Seite.

Botenstoffe zur Orientierung

Die Entdeckung hilft den Forschern auch bei der Frage, wie sicher gestellt wird, dass die Sehreize in die richtige Großhirnhälfte gelangen. Denn dazu müssen die Fortsätze von Nervenzellen aus den Augen entlang festgelegter Bahnen wachsen, um Verbindungen zur linken oder rechten Großhirnrinde zu knüpfen. Die Fortsätze orientieren sich mithilfe von Botenstoffen, die sie an die Oberfläche von Neuronen "andocken" können. Ähnlich wie Vorfahrt- und Stoppschildern lenken sie die Fortsätze in die richtige Richtung. Manche Nervenzellen werden von den Botenstoffen in die linke, andere in die rechte Hälfte geleitet. Wenn eine der beiden Hälften nicht vorhanden ist, werden die Zellen nicht mehr dorthin "gelockt", sondern nehmen den anderen Weg. "Während der frühen Gehirnentwicklung im Embryo gibt es im Sehnerv offenbar keine Botenstoffe, die als Stoppschilder fungieren und die Nervenzellen daran hindern, in die Hirnhälfte auf der gleichen Seite einzuwachsen", erklärt Wolf Singer.

Wenn eine der beiden Großhirnhälften fehlt, gelangen also alle Signale aus den Augen in die verbleibende Hälfte. Die zusätzlichen Informationen bewirken dort einen umfangreichen Umbau der Hirnrinde, sodass die neuen Sinneseingänge "Platz finden" und verarbeitet werden können. Diese Umorganisation des Gehirns macht es möglich, dass die Patientin über das gesamte Gesichtsfeld hinweg gut sehen kann. Offenbar sind auch noch andere Gehirngebiete neu verdrahtet worden: "Eine Gehirnregion, die Bewegungen mit Sehinformationen koordiniert, ist bei ihr außerordentlich groß ausgebildet", sagt Singer.

Flexibles Gehirn

Die Neurobiologen vermuten, dass die Entwicklungsstörung etwa einen Monat nach der Befruchtung im Mutterleib auftrat. Aus bislang unbekannter Ursache hat sich die linke Hälfte der Großhirnrinde nicht entwickelt. "Zu so einem frühen Zeitpunkt während der Entwicklung kann sich das Gehirn neu organisieren und so selbst auf massive Störungen reagieren. Im Laufe des Lebens nimmt dies Fähigkeit zwar immer mehr ab, aber selbst im Erwachsenenalter kann es Schäden und Verletzungen oft zumindest abmildern, wie wir zum Beispiel von Schlaganfall-Patienten wissen", erklärt der Wissenschaftler.

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