Nachbarschaftshilfe für arbeitslose Nervenzellen

Auch im erwachsenen Gehirn kommt es zur massiven Neuverdrahtung von Nervenzellen, um einen Ausfall im Informationsfluss zu kompensieren

1. September 2008

Es ist ein Naturgesetz: Freie Flächen bleiben nicht lange frei. Sei es das Blumenbeet, das im Nu von Unkraut überwuchert ist, oder die freie Stelle im Terminkalender, die gerne von Kollegen mit einer Besprechung gefüllt wird. Was manchmal ärgerlich ist, gibt Neurobiologen nun Anlass zum Staunen. Denn auch im Gehirn werden Nervenzellen, die keine Informationen mehr von ihren ursprünglichen Partnerzellen bekommen, von benachbarten Zellen in Beschlag genommen. So werden Ausfälle zum Teil kompensiert. Wie gründlich dies selbst im erwachsenen Gehirn passiert, haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und der Ruhr Universität Bochum gezeigt. (Nature Neuroscience, 31. August 2008)

Das menschliche Gehirn besteht aus rund hundert Milliarden Nervenzellen. Doch das ist erst der Anfang: Jede dieser Zellen ist über 10.000 bis 20.000 Kontakte mit ihren Nachbarzellen verbunden. Erst dieses hochkomplexe Netzwerk ermöglicht es, Eindrücke und Empfindungen aufzunehmen und zu verarbeiten. Doch was passiert im Gehirn, wenn plötzlich Informationen aus einem Sinnesorgan fehlen? Das kann geschehen, wenn zum Beispiel ein Unfall Tastsinneszellen der Haut zerstört, wenn Haarzellen im Ohr ausfallen oder wenn die Netzhaut des Auges beschädigt wird. In all diesen Fällen erhalten die Nervenzellen im Gehirn, die für den beschädigten Bereich zuständig sind, keine Informationen mehr - sie sind arbeitslos. Verkümmern diese Zellen daher?

Keinesfalls, wie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und Ulf Eysel von der Ruhr Universität Bochum nun in der renommierten Fachzeitschrift Nature Neuroscience berichten. Denn auch im Gehirn gilt: Freie Kapazitäten werden nicht verschwendet. Wie gründlich die Nervenzellen dieses Prinzip jedoch beherzigen, erstaunt nun die Fachwelt. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass nach einer kleinen punktförmigen Netzhaut-Läsion eine komplette "Neuverdrahtung" der zuvor für diesen Bereich zuständigen Nervenzellen stattfindet. Bereits nach wenigen Tagen bildeten die Nervenzellen, die nun keine Informationen mehr von "ihren" Netzhautzellen bekamen, dreimal so viele Fortsätze aus wie nicht-betroffene Nachbarzellen. Durch solche Fortsätze finden und identifizieren Nervenzellen Nachbarzellen, die sich für eine Kontaktaufnahme zum Datenaustausch eignen.

Das Ergebnis dieser gesteigerten Aktivität konnten die Wissenschaftler nach knapp zwei Monaten bestaunen: Die Nervenzellen hatten ihre vorherigen Kontakte, die durch die Läsion nutzlos geworden waren, nahezu vollständig durch neue Kontakte ersetzt. "Dass junge Gehirne anpassungsfähig sind ist ja bekannt", sagt Tara Keck zu ihren Ergebnissen. "Doch dass eine Neuverdrahtung in diesem Ausmaß auch im erwachsenen Gehirn stattfindet, hat alle überrascht." Durch diese massive Umstrukturierung der Zellkontakte konnten die zwischenzeitlich arbeitslos gewordenen Nervenzellen nun eingehende Signale aus anderen Netzhautbereichen verarbeiten. Der Schaden kann so zum Teil kompensiert werden. Diese unerwartete Anpassungsfähigkeit des erwachsenen Gehirns gibt ganz neue Denkanstöße zur möglichen Regeneration bei Verletzungen der Sinnesorgane.

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