Man muss flexibel sein

Kanarengirlitze verlegen angesichts wachsender Grünpflanzen ihren Brutbeginn nach vorne

14. Dezember 2007

Viele Organismen messen Veränderungen in der Tageslänge, um sich frühzeitig an die bevorstehenden Jahreszeiten anpassen zu können. So wird insbesondere der Brutbeginn im Frühjahr sehr strikt durch die Photoperiode gesteuert. Freilandbeobachtungen haben jedoch Hinweise geliefert, dass auch saisonal brütende Vogelarten andere Umweltfaktoren miteinbeziehen und somit ihre Anpassungsfähigkeit steigern können. In einer über mehrere Jahre laufenden Langzeitstudie konnten Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen nun unter kontrollierten Bedingungen die Faktoren untersuchen, die dieses adaptive Verhalten ermöglichen (Journal of Biological Rhythms, December 2007).

Leben wird durch zeitliche Rhythmen bestimmt: Wir stehen morgens auf und gehen am Abend ins Bett. Das ist der Tag-Nacht-Zyklus. Im Sommer, wenn es länger hell ist, gehen wir etwas später, im Winter, wenn es schneller dunkel wird, eher früher Schlafen. Das sind Reaktionen auf die saisonale Änderung der Tageszeitenlänge - sofern wir diese in einer nahezu ständig künstlich beleuchteten Umwelt überhaupt noch wahrnehmen. Sie sind für uns auch nicht mehr so wichtig, ist es dem Menschen doch in vielen Fällen gelungen, sich von den Jahreszeiten unabhängig zu machen: Wir müssen keine Wintervorräte mehr anlegen - dafür gibt es eine Tiefkühltruhe, und zuhause haben wir dank Heizung immer eine Wohlfühltemperatur von 20 Grad.

Bei Tieren - zumindest der gemäßigten Zonen - steuert die saisonale Änderung der Tageszeitenlänge, auch Photoperiode genannt, die Jahresrhythmik und ermöglicht wichtige, ja überlebenswichtige Anpassungen an die Umwelt: So löst die zunehmende Tageslänge im Frühling bei Vögeln einen Anstieg der Konzentration der Geschlechtshormone aus und läutet damit den Brutbeginn ein. Nahrungsangebot, Niederschlagsmenge und soziale Interaktionen dienen saisonal brütenden Vogelarten dann zur Feinabstimmung der Brutaktivität. Sogenannte opportunistisch brütende Vogelarten (Arten mit sehr flexiblem Brutbeginn) orientieren sich dagegen hauptsächlich an nicht-photischen Faktoren. Beispielsweise verwendet der Fichtenkreuzschnabel fast ausschließlich das Vorkommen von Fichtensamen, um die Brutaktivität zu starten oder auszuweiten. Gelegentlich können auch saisonal brütende Vögel auf günstige Umweltbedingungen flexibel reagieren und den Zeitpunkt des Brutbeginns vorverlegen, selbst wenn aus photoperiodischer Sicht das optimale Zeitfenster zum Brüten noch nicht erreicht ist.

Die Fähigkeit, sich von der strengen Kontrolle durch die Tageszeitlänge zu lösen und andere Umweltfaktoren miteinzubeziehen, ist eine wichtige Anpassungsstrategie. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen haben diese Zusammenhänge unter kontrollierten Bedingungen in einer Langzeitstudie zwischen 2004 und 2007 anhand einer Volierenpopulation von Kanarengirlitzen (Serinus canaria) - der Wildform des domestizieren Kanarienvogels - untersucht, die auf Madeira, den Azoren und den Kanarischen Inseln heimisch sind. Ausgangspunkt für die experimentellen Studien waren Freilandbeobachtungen an einer Vogelpopulation des Madeira-Archipels. Normalerweise beginnen die Vögel dort erst im Februar zu brüten, "doch in manchen Jahren begannen die Vögel bereits Ende Dezember zu brüten, wenn nach besonders heftigen Regenfällen im Herbst das Nahrungangebot durch wachsende Futterpflanzen schon recht hoch war", erzählt Stefan Leitner. Doch was genau sind die auslösenden Faktoren für den vorgezogenen Brutbeginn?

Ohne experimentelle Manipulationen brütete auch die Volierenpopulation von März bis August, was typisch für die meisten Vogelarten der nördlichen gemäßigten Zone ist. Dann änderten die Max-Planck-Forscher die Umgebungsbedingungen, und zwar während die Tageslänge weiterhin abnahm - ein Signal dafür, dass der Winter einsetzte: In dem einen Jahr simulierten sie im November/Dezember Niederschlag. Im darauffolgenden Jahr statteten sie die Voliere zur selben Zeit mit Grünpflanzen aus der einheimischen Flora aus. Im dritten Jahr verzichteten sie auf jegliche Manipulation. Das Ergebnis: Der Niederschlag zeigte keinerlei Effekt, aber die grünen Pflanzen lösten bei den Kanarengirlitzen Nestbau und Eiablage bereits im Dezember aus, also zwei bis drei Monate vor dem sonst üblichen Beginn der Brutzeit. Ebenso stiegen die Testosteron-Konzentrationen der Männchen an. "Dieser Versuch zeigt zum ersten Mal, dass Grünpflanzen einen ausreichenden Reiz darstellen, um bei einer saisonal brütenden Art Brutaktivitäten hervorzurufen, obwohl die Tageslänge noch auf dem Minimum ist", erläutert Leitners Kollegin Cornelia Voigt. Und er belegt auch, dass Kanarengirlitze über eine erstaunliche Plastizität in Bezug auf sich ändernde Umweltfaktoren verfügen.

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