Hariboschnecken im Reagenzglas

Chemiker dirigieren ein Siliziumoxid gezielt in eine hierarchische Struktur - ein Mechanismus, den bislang nur die Natur beherrschte

8. Mai 2006

Ob die Chemie stimmt, ist oft eine Sache des Zufalls. Chemiker vom Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr haben das in ihren Reaktionsgefäßen jetzt geändert. Sie haben Silica- oder Kieselsäure-Teilchen aus einer Lösung so gezielt auf einem Träger wachsen lassen, dass diese ein regelmäßiges Muster winziger Kegel bildeten. Die Wissenschaftler sind überzeugt, dass jeder Silica-Kegel aus übereinandergeschichteten Spiralen besteht - so als würde man Hariboschnecken stapeln. Jede Spirale besteht aus Röhren, in denen sich das Silica um lange organische Moleküle gruppiert. Solche hierarchischen Strukturen, die im kleinen wie im großen definiert sind, kannten Wissenschaftler bislang nur aus der Natur: von Knochen, Holz oder Muscheln. Dass sie sich jetzt im Reagenzglas herstellen lassen, könnte helfen, optische und elektronische Bauteile zu verkleinern. (Advanced Materials, 18.April 2006)

Knochen sind leicht und stabil, weil sie optimal gebaut sind - im kleinen wie im großen: Ihre kleinsten Elemente verbinden sich zu Fibrillen, die sich zu Lamellen falten. Diese wiederum ordnen sich zu Balken an, die schließlich ein Gerüst aufbauen, dessen Netz auch Statiker inspiriert. Materialwissenschaftler nennen solche Strukturen hierarchisch. Chemiker des Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr haben aus Silica-Teilchen jetzt erstmals eine bestimmte hierarchische Struktur geschaffen. Und das aus einer Reaktionslösung, in der Silica-Teilchen mit sehr unterschiedlichen Formen wachsen können. In ihrer Reaktionslösung vermischen sie die Siliziumverbindung und ein Amin, das einen langen Fettsäureschwanz hinter sich her zieht. Zunächst schließen sich die Moleküle des Amins zu Mizellen zusammen, die lange Fäden bilden. An diese lagert sich dann das Silica an. Tauchen die Wissenschaftler einen unbehandelte Träger, zum Beispiel eine leicht verunreinigte Glasplatte, in die Lösung, lagern sich die Teilchen nach dem Zufallsprinzip ab: mal als Kegel, mal als Doppelkegel, mal als verdrilltes Faserbündel.

Um das zu ändern, versehen die Mülheimer Wissenschaftler die Oberfläche mit Ködern für eine bestimmte Teilchenform: Mit einem winzigen Silikonstempel drucken sie Quadrate einer methylhaltigen und damit wasserabweisenden Substanz auf das Glas, das selber Wasser anzieht. Die Kanten der wasserabweisenden Quadrate messen drei Mikrometer, also drei Tausendstel Millimeter. Die wasserabweisenden Quadrate wirken wie Kristallisationskeime: Tunken die Chemiker die bedruckte Glasplatte in die Reaktionslösung, türmt sich nach knapp drei Tagen auf jedem Quadrat ein kleiner Kegel, der aus langen Fäden gewickelt ist. Warum sich die Silica-Teilchen bevorzugt auf den wasserabweisenden Quadrate sammeln, ist nocht nicht ganz klar."Möglicherweise sammeln sich dort erst die organischen Mizellen und dann lagert sich das Silica auf den Quadraten ab", sagt Frank Marlow, der die Forschung leitet.

Indem die Wissenschaftler die Silica-Partikeln auf die Oberfläche des bedruckten Glases locken, steuern sie, welche hierarchische Struktur diese letztendlich bilden: Den ersten Teilchen bleibt nicht viel anderes übrig, als sich in Form einer Hariboschnecke auf den Träger legen. Indem sich dann Spirale auf Spirale stapelt, wächst der Kegel. "In der Lösung können sich statt der Kegel auch Fasern oder andere, ganz wilde Teilchen bilden", sagt Marlow. Diese Teilchen sind ebenfalls in ganz ähnlicher Weise hierarchisch strukturiert.

Richtungsweisend für die wachsenden Kegel ist eine globale Singularität - der Mittelpunkt der Silica-Spiralen, um den sich die weiteren Silica-Teilchen gruppieren. "Oft spricht man davon, dass ein Defekt, etwa ein Loch in der Kristallstruktur, das Wachstum stört", sagt Marlow: "Ich bin überzeugt, dass das Loch in unserem Fall aber bestimmt, welche Struktur am Ende herauskommt. Daher habe ich den Begriff der globalen Singularität geprägt." Diese Selbstorganisation der Teilchen lenken die Wissenschaftler dann mit den gedruckten Quadraten zu der gewünschte Überstruktur.

"Auf diese Weise verbinden wir eine bottom-up- und eine top-down-Technik", sagt Marlow. Von einer bottom-up-Technik sprechen Materialwissenschaftler, wenn sich Teilchen selbst zu größeren Strukturen organisieren. "Diese Technik funktioniert im kleinen Maßstab sehr gut, sie wird aber ungenau, sobald die Strukturen eine bestimmte Größe erreichen", so Marlow. Beim top-down-Ansatz verteilen sich Stärken und Schwächen genau umgekehrt: Ihn wenden Chip-Hersteller an, wenn sie auf Silizium-Wafern mit Fotolack den Plan einer Struktur zeichnen, die sie anschließend aus dem Halbleiter ätzen. Weil die Auflösung dieser Methode begrenzt ist, lassen sich solche Strukturen nicht beliebig verkleinern. Indem die Wissenschaftler um Frank Marlow Punkte auf das Glas drucken, an denen sich die Silica-Teilchen selbst organisieren können, verknüpfen sie beide Techniken: Mit den gedruckten Quadraten im Mikrometer-Bereich steuern sie zum ersten Mal, was im Nanometer-Maßstab geschieht. So wird es möglich, auch sehr feine Strukturen zu schaffen. Die Forscher könnten also dazu beitragen, optische und elektronische Bauteile zu verkleinern.

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