Schneller Wandel im Kristall

Wie in einem Ultrahochgeschwindigkeitsfilm lässt sich ein Phasenübergang im Atomgitter verfolgen

7. März 2012

Wenn eine Fensterscheibe bei zunehmender Sonnenstrahlung einen Teil davon verstärkt reflektiert und damit das Aufheizen eines Zimmers verhindert, dann ist dafür eine Beschichtung verantwortlich. Diese kann aus Vanadiumdioxid (VO2) bestehen.  Das Material wechselt bei intensiver Lichteinstrahlung seine Kristallstruktur, wobei sich unter anderem seine Reflexionseigenschaften ändern. Eine Forschergruppe um Julia Stähler vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft hat zusammen mit Kollegen von der Vanderbilt-Universität in den USA diesen Phasenübergang mit höchster zeitlicher Auflösung untersucht. Die Erkenntnisse können für zukünftige Anwendungen von VO2 und  auch anderen Kristallen dieser Art bedeutend sein.

Vanadiumdioxid ist seit langem für seine interessanten Eigenschaften bekannt. Es ist ein Kristall, der bei Raumtemperatur durchsichtig und elektrisch isolierend ist. Erwärmt man ihn, so tritt bei 67 °C ein Phasenübergang ein: Der Kristall wird zu einem elektrischen Leiter und reflektiert Licht stärker. Schon länger bekannt ist, dass man diesen Phasenübergang auch mit intensivem Licht einleiten kann.

Diese Eigenschaften machen VO2 für praktische Anwendungen interessant. Als Beschichtung mit unterschiedlich starker Reflektivität wird es bereits genutzt. Denkbar wäre zudem ein Einsatz als Schalter in einer zukünftigen elektro-optischen Elektronik oder als Speichermedium, das sich sehr viel schneller beschreiben und lesen ließe als heutige Magnetspeicher.

„In unseren Experimenten wollen wir verstehen, wie dieser Phasenübergang abläuft“, erklärt Julia Stähler, die am Fritz-Haber-Institut in der Abteilung von Martin Wolf die Forschungsgruppe Elektronendynamik leitet. Die Kristallstruktur von VO2 wurde bereits ausgiebig mit unterschiedlichen Methoden untersucht. Mit Röntgen- und Elektronenbeugung hatte man herausgefunden, wie sich das Atomgitter beim Phasenübergang nach der Absorption von Licht verändert. Es wechselt von einer komplexen, monoklinen Struktur in eine einfachere tetragonale Struktur. Dieser Übergang in den metallischen Zustand vollzieht sich innerhalb von einigen hundert Femtosekunden (1 fs = 10-15 s) und ist erst in der Größenordnung von Nanosekunden abgeschlossen (1 ns = 10-9 s).

An einem solchen Stellungswechsel sind jedoch nicht nur die Atome auf ihren Gitterplätzen beteiligt. „Sie sind umgeben von Wolken aus Elektronen, die gewissermaßen den Klebstoff zwischen den Atomen bilden“, erklärt Julia Stähler. Der jeweilige Zustand dieser Elektronen bestimmt nicht nur mit, wie sich die Atome im Gitter anordnen, sondern hat auch großen Einfluss auf die optischen und elektrischen Eigenschaften des Materials. Im Fall des VO2 beeinflussen sich die Elektronen auch gegenseitig. Physiker sprechen von einer starken Korrelation der Elektronen.

Die internationale Forschergruppe fragte sich nun, welche der beiden Komponenten den Phasenübergang einleiten, die Atome oder die Elektronen. Die Herstellung der hierfür notwendigen, hochwertigen VO2-Schichten übernahmen Kollegen um Richard Haglund an der Vanderbilt University in Nashville, USA. Mit Hilfe von Pump-Probe-Experimenten am Fritz-Haber-Institut in Berlin wurde dann die Ursache für den Phasenübergang gesucht. Hierbei wird ein ultrakurzer Laserpuls in den Kristall hineingeschossen, der den Phasenübergang einleitet. Kurz danach folgt ein zweiter Puls, der die Reflektivität des Kristalls misst, die sich beim Phasenübergang ändert. Auf diese Weise lassen sich erheblich schnellere Änderungen im Kristall nachweisen als mit den Röntgenbeugungsexperimenten.

Stähler und Kollegen beobachteten in ihrem Experiment, dass der Phasenübergang in weniger als 80 Femtosekunden seinen Anfang nimmt. In diesem Zeitraum legt Licht nur eine Haaresbreite an Weg zurück. „Anstatt dabei die Positionen der Atome zu bestimmen, beobachten wir ihre Anordnung indirekt, indem wir mit dem zweiten Probepuls die kollektiven Schwingungen des Kristallgitters messen, die durch die erste Laseranregung ausgelöst wurden“, beschreibt Simon Wall, der Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ist und die Messungen maßgeblich durchführte. Die Forscher gewinnen damit Einblick in die originären Prozesse direkt nach der ultraschnellen Anregung, indem sie die Gitterschwingungen beobachten, nicht das Gitter selbst. „Dies ist ähnlich wie bei einem Rockkonzert, bei dem man durch Betrachten des tanzenden Publikums den Rhythmus der gespielten Musik erkennen kann, ohne sie zu hören“, vergleicht Stähler die Situation. Das Ergebnis war erstaunlich. 

Bislang gab es Hinweise darauf, dass erst die Bewegung der Atome den Phasenübergang von einer Kristallstruktur zur anderen auslöst. Die neuen Experimente belegen hingegen, dass der Laserpuls die Elektronenwolke so gravierend umverteilt, dass sich nicht nur die Atome auf die andere Kristallstruktur zubewegen. „Darüber hinaus verschwinden die charakteristischen Gitterschwingungen der Ursprungsstruktur bereits bevor sich die Atome nennenswert verschoben haben“, unterstreicht Wall. Das System der leichten Elektronen reagiert also unmittelbar, sprich im Bereich von Femtosekunden, auf den Laserpuls, während die erheblich schwereren Atome träge und zeitlich verzögert nachziehen. „Damit haben wir erstmals die Geburt dieses Phasenübergangs beobachtet“ erklärt Stähler.

Mit Experimenten dieser Art lassen sich wie in einem Ultrahochgeschwindigkeitsfilm neue Informationen gewinnen. „Unsere Forschung zielt auf ein grundlegendes Verständnis komplexer Phänomene in Festkörpern hin, um darauf aufbauend die Entwicklung von Materialien mit neuen und optimierten elektronischen Eigenschaften voranzutreiben“, erklärt Stähler.

 

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