Muster der Zellbewegung

Eine Methode, Zellen in feinen, einfach zu erzeugenden Strukturen wachsen zu lassen, liefert neue Erkenntnisse zur Zellmigration

2. März 2012

Bei Kindertränen reicht oft ein aufgestoßenes Knie als Ursache, Erwachsene plagt eher die Sorge vor Krebs. In beiden Fällen, bei der Wundheilung wie beim Wachstum und der Ausbreitung von Tumoren, spielt eine Eigenschaft von Körperzellen eine entscheidende Rolle: ihre Fähigkeit, sich in ihrer Gewebeumgebung zu bewegen. Wissenschaftler vom Stuttgarter Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und von der Universität Heidelberg haben nun zusammen mit japanischen Kollegen eine vielversprechende Methode zur Untersuchung der Zellbewegung entwickelt. Damit können sie das kollektive Verhalten von kleinen Zellverbänden in einer Umgebung untersuchen, die dem lebenden Gewebe nahe kommt. Auf diese Weise hat die Stuttgarter Kooperation das kollektive Ausbreitungsverhalten sogenannter Epithelzellen am Beginn von Heilungsprozessen  studiert. Die dabei gewonnen Erkenntnisse bestätigen das Potenzial der neue Methode, neue Einsichten zu der schon seit Jahrzehnten erforschten Zellmigration zu liefern.

Zellen formen die Minerva

Epithelzellen, die zunächst auf einem Substrat in Form der Minerva gewachsen sind, breiten sich aus, nachdem das Substrat auch in den ausgesparten Bereichen freigelegt wurde. In der ersten Hälfte des Clips läuft der Film rückwärts, so dass der Eindruck entsteht, die Zellen würden sich zum Logo der Max-Planck-Gesellschaft organisieren. Den tatsächlichen Ablauf des Versuchs gibt die zweite Hälfte des Clips wieder. Das Experiment demonstriert, dass die Stuttgarter Forscher mit ihrer Maskentechnik auf einfache Weise auch komplizierte Mikrostrukturen erzeugen können. Der Durchmesser der Minerva beträgt knapp zwei Millimeter.

 

„Zellbewegung ist unter vielen Aspekten interessant“, sagt Ralf Kemkemer: „bei der Wundheilung natürlich, aber auch bei Tumorzellen oder Immunzellen, die oft weite Strecken bis in die Lymphknoten zurücklegen.“ Der Biophysiker ist leitender Wissenschaftler in der Abteilung von Joachim Spatz, Direktor am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. Dort, in Stuttgart, hat der Doktorand Claudio Rolli zusammen mit Kemkemer in einer internationalen Kooperation eine verblüffend einfache Methode ausgetüftelt, mit der die Forscher das kollektive Bewegungsverhalten von Zellverbänden viel genauer als bisher untersuchen können. Das ist ein Schlüssel, um diese heilenden wie krank machenden Lebensprozesse besser zu verstehen. Auch die medizinische Forschung wird davon profitieren.

Das erste Untersuchungsobjekt der Stuttgarter waren kleine Verbände von einigen Dutzend Epithelzellen. „Diese Zellen bilden die Grenzflächen in unserem Körper“, erklärt Kemkemer. Sie sitzen in den vielen „Häutchen“, zum Beispiel in unseren Schleimhäuten in dem reizempfindlichen Augenäußeren, zudem umschließen sie die Organe. Bei Verletzung übernehmen die Epithelzellen gemeinsam mit anderen Zellen den Job, Wundlöcher zu schließen. Dabei setzen sie sich zunächst im Kollektiv in Bewegung, dann vermehren sie sich durch Zellteilung.

Die Unterlage für das Zellwachstum lässt sich mit Licht strukturieren

Die Frage, wie diese Migration beim Wundverschluss genau abläuft, ist schon lange Gegenstand vieler Forschungsprojekte. Sie ist aber keineswegs völlig verstanden, und zwar vor allem deshalb, weil die bisherigen Methoden eher grob waren. Seit Jahrzehnten lassen Wissenschaftler Zellhaufen auf einem Substrat wachsen, das der natürlichen Umgebung nahe kommen soll. Zu Beginn des Experiments kratzen sie etwa mit einer scharfen Spitze ein Loch in den Zellverband und beobachten dann, wie dieser reagiert. Das kommt zwar einer echten Verletzung nahe. Doch diese Methode ist zu „grobmotorisch“, um gut reproduzierbare und kontrollierbare Versuchsbedingungen zu erreichen. Entsprechend ungenau sind die daraus gewonnenen Aussagen.

Die Stuttgarter haben nun eine Methode entwickelt, bei der die Zellen nur sanften Lichtpulsen statt einer scharfen Spitze ausgesetzt sind. Zudem erzeugen sie nicht relativ zufällig ausgekratzte Flecke, sondern können genau definierte Flächen und Formen reproduzierbar herstellen. So können sie präzise beobachten, wie sich die Zellen auf diesen Geometrien verhalten.

Der Schlüssel ist ein völlig neu entwickeltes Substrat, auf dem die Zellen wachsen. Die Eigenschaften dieses Materials lassen sich nämlich mit Licht umschalten. Körperzellen brauchen Kontakt untereinander und zum „faserigen“ Teil des Gewebes, der extrazellulären Matrix. Das Substrat imitiert wichtige Eigenschaften davon, sodass der Verband von Epithelzellen Halt finden kann und sich wohl fühlt. Das allerdings ist nichts Neues. Neu ist eine Schicht von Polyethylenglykol (PEG)-Molekülen, die das Substrat überzieht und den Kontakt zunächst verhindert. Diese Schicht lässt sich durch eine kurze Belichtung mit ultraviolettem (UV) Licht, die den lebenden Zellen nicht schadet, ablösen. Alles zusammen ist transparent und damit unter einem Lichtmikroskop durchleuchtbar.

In sehr kleinen Verbänden bewegen sich alle Zellen recht schnell

Im ersten Schritt beleuchten die Forscher nun das Präparat mit UV-Licht durch eine Maske. Damit erzeugen sie nach ihren Wünschen runde Flecke, Ringe oder beliebige geformte Stellen, auf denen die PEG-Moleküle das Substrat frei geben. Dort siedeln sich die Zellen an. Sogar ein lebendes Logo der Max-Planck-Gesellschaft haben sie so hergestellt, um das Potenzial ihrer Methode zu demonstrieren. Nun warten die Wissenschaftler einige Stunden. In dieser Inkubationszeit können sich die Zellverbände organisieren. Danach lösen die Forscher mit einem zweiten, breiten UV-Lichtkegel die restlichen abdeckenden PEG-Moleküle ab. Danach können die Zellen sich um ihren Fleck herum ausbreiten.

Dieses Verhalten haben die Stuttgarter anhand bestimmter Nieren-Epithelzellen untersucht, die seit Jahrzehnten die weiße Maus dieserart Forschung sind. Dabei konnten sie zum Beispiel erstmals beobachten, dass die Größe eines kreisrunden Flecks Einfluss auf das Migrationsverhalten der Zellen hat. Hat er einen Radius von bis zu 75 Mikrometern (Millionstel Meter), bewegen sich alle Zellen im Verband recht schnell. Ist er dagegen 104 Mikrometer groß oder noch größer, dann ruhen die inneren Zellen eher. „Auf der kleineren Insel scheinen alle Zellen die äußere Umgebung zu spüren“, schließt Kemkemer. Das erinnert an Menschenmengen: In einer kleineren Gruppe bekommen auch die Innenstehenden noch die Umgebung außerhalb der Gruppe mit und reagieren darauf, in einer größeren Menge nicht.

Auch die Inkubationszeit hat Einfluss. Nach nur neun Stunden Wartezeit zwischen beiden Lichtpulsen bewegen sich die Zellen schneller nach außen als nach etwa 25 Stunden. „Im ersteren Fall verhalten sie sich noch eher wie Einzelzellen“, erklärt der Biophysiker, „nach längerer Zeit haben sie ein Kollektiv gebildet.“ Interessant ist auch die Form der Geometrie. Bei ringförmigen Flecken zeigte sich, dass die Zellen am inneren Kreis relativ unbeweglich blieben, anders als am äußeren Kreis. Offensichtlich setzt die äußere, konkave Form die Zellen mehr unter mechanische Spannung. Sie regt damit die Zellen eher zum Wandern an als innen. Bei der Migration organisieren sich die Zellen zudem in Anführerzellen, die sich als Pioniere zuerst auf ihre Scheinfüßchen (Lamellipodien) machen, und einer nachfolgenden Herde von Anhängerzellen. Was diese Arbeitsteilung auslöst, ist noch unbekannt. Auch das wollen die Wissenschaftler nun mit der neuen Methode erforschen.

Ralf Kemkemer betont, dass diese Forschungsarbeit nur in internationaler Teamarbeit möglich war. Entscheidend war dabei, dass Claudio Rolli durch seinen mehrmonatigen Aufenthalt in Japan einen wertvollen Kontakt zu Jun Nakanishis Team mitbrachte: Die japanischen Chemiker brachen den Trick mit dem PEG-Molekül als wichtigen Beitrag ein.

RW/PH

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