Magenbakterien "Out of Africa"

Max-Planck-Wissenschaftler entdecken, dass vorgeschichtliche Völkerwanderungen mit Hilfe des Magenbakteriums Helicobacter pylori rekonstruiert werden können

7. März 2003

Ein winziges Bakterium (Helicobacter pylori), dass in unserem Magen lebt, kann offenbaren, auf welchen Wegen unsere Vorfahren die Welt besiedelt haben. Forscher um Mark Achtman vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin und Sebastian Suerbaum vom Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg haben jetzt in 27 Menschengruppen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit und geografischer Herkunft den bakteriellen Krankheitserreger Helicobacter pylori untersucht und mit genetischen Methoden seine weltweite Populationsstruktur aufgeklärt. Sie berichten in der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift "Science" (Science, 7. März 2003), dass infolge der Jahrtausende langen geographischen Isolation der menschlichen "Wirtsorganismen" insgesamt sieben H. pylori-Populationen entstanden sind, die die Menschen seither bei ihren Wanderungen begleitet haben. Die Unterschiede zwischen den ursprünglichen, aus Afrika, dem Nahen Osten, Zentralasien und Ostasien kommenden, und den heute vorhandenen H. pylori-Populationen spiegeln die Ausbreitung der verschiedenen menschlichen Bevölkerungsgruppen auf der Erde wider.

Bei Säugetieren kann man die Evolution mit Hilfe von Fossilien-Funden rekonstruieren. Dies ist bei Bakterien nicht möglich, ihre Evolution muss durch genetische Analysen an heute existierenden Bakterien erforscht werden. Helicobacter pylori ist ein Bakterium, das die Magenschleimhaut bei mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung besiedelt. Die Kolonisation mit H. pylori kann oft über Jahrzehnte dauern und zu Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwüren führen, wenn keine Behandlung erfolgt. Durch die Infektion erhöht sich außerdem das Risiko, im Magen an bösartigen Tumoren wie dem Magenkarzinom oder -lymphom zu erkranken. H. pylori wird vorwiegend innerhalb von Familien übertragen und breitet sich nicht epidemisch aus. Es zeichnet sich außerdem durch eine sehr hohe genetische Diversität aus, die etwa fünfzig Mal höher ist als beim Menschen. Und die DNA-Sequenzen von H. pylori sind in Abhängigkeit von der geographischen Region, in der die Bakterien isoliert wurden, sehr unterschiedlich.

Die Berliner und Würzburger Infektionsforscher konnten jetzt - zusammen mit Kooperationspartnern von sechs weiteren Universitäten in den USA und in Frankreich - zeigen, dass H. pylori den Menschen bereits seit Urzeiten bei seinen Migrationen begleitet hat. Sie bestimmten die Nukleotid-Sequenz repräsentativer Gene für 370 H. pylori-Stämme aus 27 ethnischen Gruppen und geographischen Lokalisationen und erhielten auf diese Weise 370 H. pylori-Haplotypen mit 1.418 polymorphen Nukleotiden. Die populationsgenetische Analyse der Sequenzdiversität zeigte, dass sich die Bakterien sieben "modernen", also heute existierenden Populationen und Subpopulationen zuordnen lassen. Die Wissenschaftler entwickelten deshalb eine neue mathematische Methode, um aus den modernen Populationen deren frühere Vorfahren zu rekonstruieren. Die auf diese Weise gefundenen ursprünglichen H. pylori-Populationen hatten ihren Ursprung in Afrika, dem Nahen Osten, Zentralasien und Ostasien. Durch Vergleich zwischen diesen ursprünglichen und den heutigen Populationen kann man nun rekonstruieren, wie H. pylori sich über die Wanderungen von menschlichen Bevölkerungsgruppen auf der Erde verbreitet hat.

Treffen nun verschiedene H. pylori-Stämme im Magen eines Menschen aufeinander, können sie Erbinformationen untereinander austauschen, indem lebende Bakterien freie DNA von abgestorbenen Bakterien aufnehmen, was dann zur Entstehung von Mosaikgenomen mit importierten kleinen DNA-Bereichen führt. So sind die heute in Europa nachweisbaren H. pylori-Bakterien das Ergebnis einer genetischen Fusion, entstanden durch Rekombination von zwei alten H. pylori-Populationen, die unabhängig voneinander aus Zentralasien und aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert sind. Andere H. pylori-Populationen entwickelten sich während der mehrere Tausend Jahre langen Isolation der Polynesier im Pazifik, der Wanderung der sibirischen Vorfahren der Indianer über die Beringstraße nach Amerika oder der Expansion der Bantu in Afrika.

In vielen Gegenden der Erde herrscht heute durch die Vermischung der Bevölkerungsgruppen eine heftige Konkurrenz zwischen den ursprünglich ansässigen H. pylori-Bakterien und jüngeren "Einwanderern", die durch Migrationen in den letzten Jahrhunderten importiert wurden. Beispiele für solche Wanderbewegungen, deren Spuren sich in den heutigen H. pylori nachweisen lassen, sind die von Europa ausgegangenen Kolonialisierungen von Nord- und Südamerika, Afrika und Australien sowie der Sklavenhandel.

Diese neuen Forschungsergebnisse könnten wichtige Auswirkungen auf die Behandlung von H. pylori-Infektionen haben, da genetische Unterschiede zwischen verschiedenen bakteriellen Populationen auch eine unterschiedliche Virulenz der Bakterien zur Folge haben könnten. Diese Unterschiede können auch die Effizienz von Behandlungen mit Antibiotika beeinflussen und müssen bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen H. pylori in Betracht gezogen werden, wenn dieser Schutz gegen H. pylori-Stämme aus allen Regionen der Welt verleihen soll. Nicht zuletzt können umgekehrt die heute bekannten Daten über menschliche Völkerwanderungen dazu herangezogen werden, um die "molekulare Uhr" des Bakteriums H. pylori besser zu kalibrieren.

Der englische Mikrobiologe Brian G. Spratt fragt in einem Kommentar zu dieser Publikation in der selben Ausgabe von "Science", ob H. pylori geeignet wäre, Entscheidungshilfen bei der Interpretation kontroverser menschlicher Migrationen zu leisten. Er kommt zu dem Schluss, dass H. pylori-Daten für die Entwirrung der komplexen Völkerwanderungen in Europa oder Asien wahrscheinlich nicht ausreichen, dass aber die von den Forschern jetzt für Bakterien entwickelten Methoden prinzipiell auch für den Menschen anwendbar sein sollten. Da die Ausbreitung von H. pylori eine gewisse Intensität der menschlichen Beziehungen voraussetzt, können diese Analysen auch Rückschlüsse erlauben, wie eng die menschlichen Kontakte zu verschiedenen Zeiten waren und somit auch Einblicke in die noch wenig verstandene Epidemiologie dieser Infektionskrankheit ermöglichen.

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