Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Neue Erkenntnisse zum Werkzeuggebrauch wildlebender Schimpansen

New Insights into the Tool-Using Behavior of Wild Chimpanzees

Autoren
Sanz, Crickette
Abteilungen

Primatologie (Prof. Dr. Christophe Boesch)
MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig

Zusammenfassung
Von allen Lebewesen mit Ausnahme des Menschen setzen Schimpansen Werkzeuge am vielfältigsten und umfassendsten ein. Mit neuen Untersuchungsmethoden erforschen Primatologen am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie im Kongobecken den Werkzeuggebrauch von Schimpansen. Dabei entdecken sie bei diesen Menschenaffen komplexe technische Fertigkeiten, die bisherige Erkenntnisse zu den kognitiven Fähigkeiten und zur materiellen Kultur der Schimpansen übersteigen.
Summary
With the exception of humans, chimpanzees show the most diverse and complex tool using behaviors of all existant species. Primatologists at the Max Planck Institute of Evolutionary Anthropology are using new research methods to study chimpanzee tool use in the dense forests of the Congo Basin. They are discovering complex technological skills among these apes that expand current perceptions of chimpanzee cognition and material culture.

Obwohl der Werkzeuggebrauch bei vielen Arten nachweisbar ist, setzen nur große Menschenaffen Werkzeuge ein, um ein bestimmtes Handlungsziel zu erreichen oder um die Umwelt nach ihren Vorstellungen zu verändern. Insbesondere Schimpansen dienen der Forschung hier als Vorbild für die Technik früher Hominiden. Einige Schimpansenpopulationen nutzen Steinwerkzeuge, die tatsächlich die Geschichte ihrer materiellen Kultur belegen [1, 2]. Da aber die meisten Werkzeuge aus vergänglichen Materialien bestehen, sind sie nicht in archäologischen Funden enthalten. Am Verhalten dieser wild lebenden Schimpansen lassen sich Werkzeuge und Werkzeuggebrauch direkt erforschen und somit die Einschränkungen umgehen, die mit der geringen Haltbarkeit des Materials verbunden sind. Indem man die Affen beobachtet, lassen sich auch die dynamischen Interaktionen zwischen ökologischen und sozialen Faktoren untersuchen, die ihre materielle Kultur prägen.

Das „Goualougo Triangle Chimpanzee Project“ des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie

Langzeitforschungen und neue Feldstudien haben in den vergangenen vierzig Jahren das Wissen über die Vielseitigkeit des Werkzeuggebrauchs bei Schimpansen kontinuierlich erweitert. Obwohl die Affen in West- und Ostafrika ausreichend erforscht wurden, gibt es kaum Informationen über die Zentralafrikanischen Schimpansen, die im Kongobecken leben (Abb. 1). Diesen Informationsmangel möchten Wissenschaftler der Abteilung Primatologie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie beheben. Im Rahmen des „Goualougo Triangle Chimpanzee Projects“ beobachten sie mit den neuesten wissenschaftlichen Methoden erstmals die Zentralafrikanischen Schimpansen (Pan troglodytes troglodytes) im Norden der Republik Kongo. Nicht nur die rein technischen Fertigkeiten der Tiere stehen im Mittelpunkt der langfristigen Studien. Darüber hinaus möchte man auch die Zusammenhänge verstehen, die diese Traditionen des Werkzeuggebrauchs haben entstehen lassen und die zu ihrem Fortbestand beigetragen haben.

Der Beobachtungsraum umfasst eine Fläche von mehr als 300 km2 immergrünen und halb immergrünen Tieflandwaldes im Nouabalé-Ndoki-Nationalpark in der Republik Kongo. Ihre Abgeschiedenheit hat diese Wälder bislang auf natürliche Weise vor dem Eindringen der Menschen geschützt. Für die Wissenschaftler ist das ein Vorteil, denn dadurch war es viel schneller möglich, die Affen zu habituieren, als es sonst bei Forschungsstationen der Fall ist, die bereits negativen menschlichen Einflüssen, etwa durch Wilderei, ausgesetzt waren. Mehr als dreihundert Schimpansen wurden während der Studien identifiziert und erstmals konnte erfolgreich eine groß angelegte Fernvideoüberwachung der Schimpansen durchgeführt werden.

Nach einer kurzen Gewöhnung an die Kameras und die technischen Vorrichtungen konnten die Forscher das Verhalten dieser schwer zu beobachtenden Affen unbemerkt aufzeichnen (Abb. 2). Unabhängige Aufnahmeeinheiten, die jeweils aus Passiv-Infrarot-Sensoren und einer digitalen Videokamera bestehen, sind für die kontinuierliche Überwachung ausgewählter Werkzeugstätten der Schimpansen weitaus effektiver als menschliche Beobachter.

Formen des Werkzeuggebrauchs

Werkzeugfunde in der Nähe von Termitennestern deuten darauf hin, dass Schimpansen regelmäßig zwei Formen von Termitennestern aufsuchen und abhängig von der Neststruktur spezielle Werkzeuge benutzen, um an die Termiten zu gelangen [3]. Kameraaufnahmen bestätigten diese Hypothese. Wie in Abbildung 3 zu sehen ist, sticht ein Schimpanse (links) zunächst mit einem Stöckchen ein Ausgangsloch in die Oberfläche eines erhöhten Nestes. Anschließend „fischt“ ein anderer Affe mit einem dünnen Zweig die Termiten aus diesem Loch (rechts).

Mit einem anderen Werkzeugset gelangen die Affen an Termiten in unterirdischen Nestern (Abb. 4). Dazu stoßen sie zuerst mit einem Stock eine Öffnung in die Termitennestkammer. Danach holen sie die Beute mit einem dünnen Zweig heraus. Der Gebrauch mehrerer Werkzeuge zur Lösung nur einer bestimmten Aufgabe ist bei allen anderen Arten, mit Ausnahme des Menschen, relativ selten. Die Filmaufnahmen dokumentieren auch, dass Schimpansen die gleichen Werkzeugformen bei verschiedenen Nesttypen benutzen, die gleichen Materialien wählen und Nester wiederholt mit wiederverwendbaren hölzernen Werkzeugen aufsuchen. Außerdem gibt es Unterschiede in der materiellen Kultur zwischen benachbarten Gruppen. Mit mehr als 120 Stunden aufgezeichnetem Videomaterial zum Werkzeuggebrauch von insgesamt vier verschiedenen Schimpansengruppen hat die Abteilung Primatologie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie die weltweit umfassendste visuelle Datenbank zur materiellen Kultur der Schimpansen geschaffen.

Vergleiche von Aufzeichnungen belegen, dass sich das Repertoire der eingesetzten Werkzeuge zwischen den Populationen und sogar zwischen benachbarten Gruppen unterscheidet. Eine kürzlich veröffentlichte Studie [4] beweist, dass die Schimpansen im Goualougo-Dreieck über eines der größten und komplexesten Werkzeugrepertoires verfügen, das von wild lebenden Schimpansenpopulationen bekannt ist. Innerhalb dieser Population wurden Verhaltensweisen beobachtet, die bei Schimpansen als universell gelten, es wurden aber auch neue Formen des Werkzeuggebrauchs entdeckt. Andere dokumentierte Verhaltensweisen wiederum waren bisher nur durch indirekte Hinweise oder unvollständige Beobachtungen bekannt: etwa wie Schimpansen Termitennester öffnen und durchstechen und wie sie Zweige mit Blättern als Regenschutz benutzen. Dokumentiert ist auch ein drittes Werkzeugset, das die Affen zum Honigsammeln benutzen, wobei sie geschickt die Gefahren umgehen, die von den Bienen ausgehen (Abb. 5).

Werkzeuggebrauch als Ausdruck fortgeschrittener kognitiver Leistungen

Der Einsatz von Werkzeug, um Nüsse aufzubrechen oder um Termiten zu fischen, gilt als hoch entwickelt und „komplex“, allerdings wurde bislang noch nicht genau definiert, welche Merkmale diese fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten kennzeichnen. Um diese Fragen zu klären, wurde die jeweilige Zusammenstellung der Werkzeuge, ihre Struktur und die Abfolge ihrer Benutzung analysiert. Die Bandbreite der beobachteten Werkzeugeinsatzmöglichkeiten reichte von einfachen Aufgaben bis hin zu hierarchischen Abläufen, die oftmals die Herstellung neuer sowie Anpassungen bereits vorhandener Werkzeuge umfassten [5]. Der Werkzeuggebrauch dieser Schimpansenpopulation unterscheidet sich nicht nur in seiner Komplexität. Die Affen sind auch dazu fähig, flexibel unterschiedliche Strategien anzuwenden. Sie sind zudem in der Lage, die hierarchischen Abfolgen der Werkzeugnutzung auf verschiedene Situationen zu übertragen. Dieser flexible Werkzeuggebrauch in unterschiedlichen Kontexten beweist, dass Schimpansen die kausalen Zusammenhänge zwischen Objekten erfassen können. Nach Boesch und Boesch-Achermann [6] ist dies eine wesentliche Voraussetzung, um Werkzeuge zu erfinden und diese flexibel einzusetzen. Hier schließt sich die Frage an, welche spezifischen ökologischen und sozialen Faktoren die vielfältige und komplexe Werkzeugtechnik der Schimpansen im Goualougo-Dreieck geprägt haben und wie diese Traditionen fortbestehen konnten.

Werkzeuggebrauch und Ökologie

Der Werkzeugeinsatz von Schimpansen sowohl in savannenartigen als auch in bewaldeten Gebieten zeigt, dass es ökologisch bedingt zahlreiche Möglichkeiten gibt, Werkzeuge in einem breiten Spektrum von Lebensräumen einzusetzen. Schimpansen bevölkern zusammen mit den Westlichen Flachlandgorillas (Gorilla gorilla gorilla) ein großes Gebiet im westlichen Äquatorialafrika. Das Goualougo-Dreieck hat eine der höchsten Affendichten in der Region [7]. Hier überlappt sich das Nahrungsspektrum der Tiere weitgehend. Möglicherweise hat der Nahrungswettbewerb mit anderen Menschenaffen die Schimpansen dazu gezwungen, innovative Ernährungsstrategien zu entwickeln, um etwa an eingeschlossene Nahrung zu gelangen, die ihre Konkurrenten nicht effizient nutzen konnten. In dieser Perspektive erscheinen die komplexen Werkzeugstrategien als Lösung des zwischenartlichen Nahrungswettbewerbs.

Ökologische Gegebenheiten können somit zur Entstehung der Werkzeugnutzung beigetragen haben. Sie erklären jedoch nicht unmittelbar, wie diese komplexen Verhaltensweisen über einen langen Zeitraum und über eine große räumliche Distanz hinweg fortbestehen konnten. Erste Analysen der aufgezeichneten sozialen Interaktionen beim Werkzeuggebrauch zeigen, dass Werkzeuge mit steigender Komplexität einer Aufgabe verstärkt gemeinsam genutzt werden. Zurzeit wird die Werkzeugverwendung verschiedener benachbarter Gruppen verglichen, um zu klären, wie diese Informationen zwischen Individuen und Gruppen übermittelt werden. Eine Hypothese ist, dass natürliche soziale Netzwerke den Austausch von Informationen regeln.

Neben den Veränderungen der Affendichte und -verbreitung ist es wichtig zu bestimmen, ob menschliche Einflüsse die traditionellen Verhaltensweisen wild lebender Schimpansen beeinflussen. Die rasch voranschreitende Abholzung des Regenwaldes und der Siedlungsbau wirken sich massiv auf die Umwelt der Affen im Kongobecken aus. Ihre Traditionen des Werkzeuggebrauchs können womöglich die vielen negativen Einflüsse nicht überdauern, die mit dem Näherkommen ihrer menschlichen Verwandten einhergehen. Die Wissenschaft ist daher auch der Aufgabe verpflichtet, die Schimpansenkulturen, die große Verhaltensvielfalt und das soziale Erbe dieser wild lebenden Tiere zu schützen und zu erhalten.

Originalveröffentlichungen

J. Mercader, M. Panger, C. Boesch:
Excavation of a chimpanzee stone tool site in the African rainforest.
Science 296, 5572, 1452–1455 (2002).
J. Mercader, H. Barton, J. Gillespie, J. Harris, S. Kuhn, R. Tyler, C. Boesch:
4,300-year-old chimpanzee sites and the origins of percussive stone technology.
Proceedings of the National Academy of Sciences 104, 9, 3043–3048 (2007).
C. Sanz, D. Morgan, S. Gulick.:
New insights into chimpanzees, tools, and termites from the Congo basin.
American Naturalist 164, 567–581 (2004).
C. Sanz, D. Morgan:
Chimpanzee tool technology in the Goualougo Triangle, Republic of Congo.
Journal of Human Evolution 52, 4, 420–433 (2007).
C. Sanz, D. Morgan:
Complexity of Chimpanzee Tool Using Behaviors.
In: The Mind of the Chimpanzee. Ecological and Experimental Perspectives. (Hg.) E. V. Lonsdorf, S. R. Ross, and T. Matsuzawa, 2008.
C. Boesch, H. Boesch-Achermann:
The Chimpanzees of the Tai Forest: Behavioural Ecology and Evolution.
Oxford University Press, Oxford 2000.
D. Morgan, C. Sanz, J.R. Onononga, S. Strindberg:
Ape abundance and habitat use in the Goualougo Triangle, Republic of Congo.
International Journal of Primatology 27, 147–179 (2006).
D. Morgan, C. Sanz:
Chimpanzee Feeding Ecology and Comparisons with Sympatric Gorillas in the Goualougo Triangle, Republic of Congo.
In: Primate Feeding Ecology in Apes and Other Primates: Ecological, Physiological, and Behavioural Aspects. (Hg.) G. Hohmann, M. Robbins, C. Boesch. Cambridge University Press. Cambridge 2006, 97–122.
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