Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht

Strafbare Mitwirkung von Führungspersonen in Straftätergruppen und Netzwerken: Eine rechtsvergleichende Analyse

Participation in crime: Criminal liability of leaders of criminal groups and networks – A comparative legal analysis

Autoren
Sieber, Ulrich; Koch, Hans-Georg; Simon, Jan-Michael
Abteilungen

Strafrecht (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber)
MPI für ausländ. und internat. Strafrecht, Freiburg

Zusammenfassung
Straftaten, die durch gut abgeschottete Hintermänner gesteuert und im Rahmen komplexer Organisationsstrukturen begangen werden, stellen Strafrechtswissenschaft und Strafverfolgungspraxis vor besondere Herausforderungen. Ein wichtiger Fall sind dabei Straftaten in Bürgerkriegssituationen. Die Verfolgung der Verbrechen auf dem Balkan durch das Jugoslawien-Tribunal gab den Anlass zu einer über vierzig Rechtsordnungen umfassenden rechtsvergleichenden Studie. Diese vereinigt in einem innovativen Forschungsansatz die Untersuchung theoretischer Grundlagen und hypothetischer Fallszenarien.
Summary
Crimes orchestrated by well-isolated “persons behind the scenes” and carried out within the framework of complex organizational structures pose special challenges to both the theory and the practice of criminal law. Important cases within this context are the crimes committed in civil wars. The prosecution of the crimes committed in the Balkans before the Yugoslavia Tribunal provided the incentive for a comprehensive comparative legal study of over forty criminal justice systems. The innovative approach taken by this research project combines the examination of theoretical underpinnings with an analysis of hypothetical case scenarios.

Forschungsgegenstand: Zurechnungs- und Beweisprobleme bei komplexen kriminellen Organisationsstrukturen

Wie viel „Dreck am Stecken“ kann man haben, ohne sich die Finger schmutzig zu machen? – So könnte man grob und ein wenig provokant die Sachfrage umschreiben, um die es in diesem Projekt geht: Möglichkeiten und Grenzen strafrechtlicher Reaktion auf organisierte Straftaten, die durch gut abgeschottete Hintermänner gesteuert werden. Problematisch ist hierbei, dass die arbeitsteilige Vorgehensweise in einer komplexen kriminellen Organisationsstruktur zu umfassenden Zurechnungs- und Beweisproblemen führen kann. Müssen Ermittler und Gerichte kapitulieren, weil den Hintermännern eine konkrete Anstiftungshandlung oder ein Vorsatz im Hinblick auf die begangenen Straftaten nicht nachzuweisen ist oder weil nicht festgestellt werden kann, wer von verschiedenen Mitgliedern einer Organisation für ein konkretes Tatgeschehen verantwortlich ist? Müssen Hintermänner milder bestraft werden, weil sie die Tat nicht eigenhändig durchführen? Solche Fragen stellen sich etwa auch im Bereich des Terrorismus, wo einzelnen Tätern zwar die Unterstützung einer Terrorgruppe bewiesen werden kann, nicht jedoch die Beteiligung an bestimmten schweren Straftaten. Ähnliche Probleme treten typischerweise aber auch im Bereich des Völkerstrafrechts auf, so derzeit in mehreren Verfahren vor dem Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY).

Anlass und Ziele des Forschungsprojekts

Anlass für das Projekt war ein Gutachtenauftrag der Anklagebehörde des Jugoslawien-Tribunals (Office of the Prosecutor, OTP). Die OTP beauftragte das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, eine Auswahl grundlegender, im Völkerstrafrecht nicht eindeutig geregelter Rechtsprobleme zur strafrechtlichen Einordnung der Mitwirkung an einer Tat in Rechtsordnungen aus den bedeutendsten Rechtskreisen der Welt und repräsentativ für alle fünf Kontinente zu untersuchen und deren Lösungen zu vergleichen. Gefragt wird danach, wie nationales Strafrecht die Beteiligung an einer Straftat regelt, wenn daran mehrere, gruppenweise organisierte Personen mitwirken. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei hochrangige Personen aus Militär, Polizei oder Verwaltung, die typischerweise im Hintergrund operieren und die an der Tatausführung nicht unmittelbar beteiligt sind.

Ein erstes Ziel des Projekts ist es, durch Landesberichte von Institutsmitarbeitern und auswärtigen Experten für weltweit mehr als vierzig Rechtsordnungen das Wissen über die Grundlagen der Beteiligungsregeln im Kontext komplexer, arbeitsteilig organisierter Kriminalität zu erarbeiten (Abb. 1). Die auf diese Weise zusammengetragenen Erkenntnisse dienen auf der Ebene des jeweiligen nationalen Rechts nicht nur der Lösung der Fragen des ICTY, sondern können auch für den Umgang mit Wirtschaftskriminalität, organisierter Kriminalität und Terrorismus Aufschluss geben. Nicht zuletzt lassen sie grundlegende Informationen über die Regeln der Beteiligung an einer Straftat im ausländischen Strafrecht erwarten. Im Völkerstrafrecht und für die entsprechende Praxis sind diese Ergebnisse Grundlage für die Entwicklung von „general principles of law“ (allgemeine Rechtsgrundsätze). Ein zweites Ziel des Projekts besteht darin, angesichts der Komplexität der Fragestellung Methodenfragen der Strafrechtsvergleichung – etwa im Hinblick auf die Ergänzung einer systematisch-funktionalen Strafrechtsvergleichung durch vergleichende Fallanalysen – zu untersuchen und fortzuentwickeln.

Methode und Forschungsplan

Für das vorliegende Projekt wurde zunächst die konkrete Gutachtenfrage der OTP in einen rechtsvergleichenden Forschungsplan übertragen. Dafür waren grundlagenwissenschaftliche Anliegen mit den Problemen der Praxis abzustimmen. Da die Rechtsprobleme komplex waren und die einzubeziehenden Rechtsordnungen sich deutlich unterschieden, mussten grundsätzliche Überlegungen zur Methodik der Strafrechtsvergleichung angestellt werden.

In einem ersten Bearbeitungsschritt wurde zu jedem Land durch Analyse von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur die jeweilige Konzeption der Beteiligungsregeln innerhalb des Gesamtsystems der nationalen Strafrechtsordnung ermittelt. Im Hinblick auf die spätere Aufgabe des Vergleichens hatte dies nach einheitlichen Vorgaben zu erfolgen. Diese Vorgaben betrafen Sachfragen, die sich in allen einbezogenen Rechtsordnungen stellen. Auf dieser Grundlage konnten dann im Wege eines systematisch-funktionalen Vergleichs die Übereinstimmungen von und Unterschiede zwischen den untersuchten Lösungen aus der jeweiligen Strafrechtsordnung herausgearbeitet, eingeordnet und begründet und so allgemeine, alle Rechtsordnungen übergreifende Strukturprinzipien abgeleitet werden.

Ergänzend zu dieser systematischen Methode wurde in einer zweiten Stufe die Gutachtenfrage in typisierte Fallgruppen umgesetzt. Mittels einer Analyse von speziell zu diesen Fallgruppen gebildeten Sachverhalten, die unterschiedliche Tatbeiträge und verschiedenartige Organisationsformen zum Gegenstand haben, wurde dann für jede der einbezogenen Rechtsordnungen ein differenzierteres Bild zu der Gutachtenfrage erstellt, als dies mit der ersten systematisch-funktionalen vergleichenden Analyse möglich war. Rechtsfragen konnten so auch unabhängig von einer bestimmten nationalen juristischen Terminologie und damit auf einer „neutraleren“ – das heißt vergleichbareren – Grundlage erfasst werden.

Erste Ergebnisse

Ein halbes Jahr nach Erhalt des Gutachtenauftrags wurde der OTP im Dezember 2005 ein Zwischenbericht mit sechsunddreißig Landesberichten und einer Auswertung des Fallteils vorgelegt. Danach ergibt sich das folgende erste und noch vorläufige Bild: Die systematisch-funktionale Analyse der einbezogenen Rechtsordnungen bestätigte die im Forschungsplan entwickelten Ansätze. Mit ihrer Hilfe konnte eine von den jeweiligen nationalen Regelungen unabhängige analytische Metaebene formuliert werden, auf der sich alle Rechtsordnungen abbilden lassen. Dadurch konnte die Stofffülle aus einer Vielzahl von Sachfragen zu unterschiedlichen Rechtsordnungen mit differenten Strafrechtssystemen überhaupt erst vergleichbar gemacht werden.

Als vorläufiges Ergebnis der systematischen Analyse der unterschiedlichen Beteiligungsregelungen lässt sich feststellen, dass etliche strukturell unterschiedliche, jedoch jeweils in sich schlüssige Konzepte der Beteiligungslehre funktional gleichwertige Ergebnisse liefern. Besonders stechen dabei Unterschiede zwischen den Beteiligungskonzepten hervor, die zwar auf der Tatbestandsebene verschiedene Lösungen entwickeln, dann jedoch bei der Strafzumessung häufig zu weitgehend gleichen Ergebnissen führen.

Diese Hypothese funktionaler Äquivalenz wird durch die vergleichende Untersuchung der Fallgruppen bestätigt. So ergibt die Fallanalyse beispielsweise, dass die Organisation einer kriminellen Bande, von der planmäßig eine Straftat begangen wird, als wesentlicher und außerordentlich gravierender Beitrag zu dieser Straftat bewertet und deshalb als besonders strafwürdig eingestuft wird. Dies gilt auch dann, wenn der Bandenchef sich selbst am eigentlichen Tatgeschehen nicht direkt beteiligt. Umgekehrt werden Mitwirkungshandlungen, die für das Tatgeschehen und den Taterfolg nur von untergeordneter Bedeutung sind, als vergleichsweise weniger strafwürdig eingestuft. Auch entspricht der Strafrahmen für das Anwerben einer weiteren, direkt am Tatgeschehen beteiligten Person, die nicht dem Kreis der Bandenmitglieder angehört (Anstiftung), in der überwiegenden Zahl der sechsunddreißig Rechtsordnungen dem Strafrahmen des Täters, der die Straftat alleine begehen würde. Schwierigkeiten bei der Beweisführung über die Identität des konkreten Täters einer von der Bande begangenen tatplangemäßen Straftat stehen der Verantwortung des Bandenchefs in den meisten Rechtsordnungen nicht entgegen.

Auch erweist sich die Eigenschaft eines Netzwerks, aus dem heraus Straftaten begangen werden (Militär, Polizei, zivile Einrichtung), als weitgehend unerheblich für die Unterscheidung und Einordnung von Beiträgen zu diesen Straftaten. Irrelevant für die Beurteilung der Tatbeiträge ist meist auch, ob die ein kriminelles Netzwerk bildenden Organisationseinheiten ausschließlich das Ziel haben, organisierte Straftaten zu begehen, oder ob sie auch, wenn nicht sogar vorrangig, gesetzeskonforme Aufgaben erfüllen. Ebenso steht der Einstufung des im Hintergrund steuernden Organisators als Täter einer Straftat des von ihm dirigierten Netzwerks praktisch durchgehend nicht entgegen, dass die Person, die direkt die Straftat ausführt, von der übergeordneten Zielsetzung und deswegen von dem spezifischen Charakter und Ausmaß der Straftat keine Kenntnis hat. Somit gilt unabhängig vom jeweiligen Regelungsmodell in Abwandlung des obigen Einleitungssatzes: Wer saubere Hände vorzeigen kann, hat deshalb noch lange keine weiße Weste.

Bedeutung

Ein bereits im Jahr 2004 vom Institut für das Jugoslawien-Tribunal erstelltes umfangreiches Gutachten zur Strafzumessung bei schweren Delikten hat inzwischen an zahlreichen Stellen Eingang in die Rechtsprechung des Gerichts gefunden. Es ist zu erwarten, dass auch die in dem vorliegenden Projekt gewonnenen Erkenntnisse nicht nur die vergleichende Strafrechtswissenschaft bereichern, sondern vor allem auch für die Praxis des Jugoslawien-Tribunals sowie des Völkerstrafrechts insgesamt erhebliche Bedeutung erlangen werden. Mit dem Projekt wurden auch neue Erkenntnisse über die Methodik der Strafrechtsvergleichung gewonnen, die operativen Fähigkeiten der Forschungsgruppe zur Bewältigung eines überaus komplexen Themas gesteigert, die Effektivität ihrer Landesreferate optimiert und das weltweite Netzwerk der Kooperationspartner des Instituts ausgebaut.

Originalveröffentlichungen

U. Sieber:
The Punishment of Serious Crimes. A Comparative Analysis of Sentencing Law and Practice. Volume 1: Expert Report; Volume 2: Country Reports.
Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg 2004.
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